Fotografien abgerissener DDR-Grenzorte

    "Die Menschen mussten unter Tränen da raus"

    Die Fotografin Anne Heinlein bei ihrer Arbeit in Lenschow.
    Die Fotografin Anne Heinlein bei ihrer Arbeit in Lenschow. © Göran Gnaudschun
    Fotografin Anne Heinlein im Gespräch mit Maurice Wojach |
    Anne Heinlein fotografiert verschwundene Orte an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Rund 10.000 Menschen wurden dort zu DDR-Zeiten zwangsumgesiedelt, alte Dörfer abgerissen. "Die Regierung wollte ein freies Schussfeld haben", sagt die Künstlerin.
    Ist der Tag der Deutschen Einheit ein Tag zum Feiern? Die Potsdamer Fotografin Anne Heinlein ist hin- und hergerissen. Sie hat in den vergangenen Jahren für ihr Projekt "Wüstungen" ehemalige Ortschaften an der deutsch-deutschen Grenze besucht. Zeitzeugen haben ihr erzählt, wie es war, die Heimat zu verlieren und vom DDR-Regime aus dem eigenen Haus vertrieben zu werden. Anne Heinlein ist froh, dass diese Form der Unterdrückung Geschichte ist. Andererseits nennt sie auch Gründe, 26 Jahre nach der Wiedervereinigung den Verlust der Heimat zu bedauern. Wir haben mit der Künstlerin gesprochen.
    Deutschlandradio Kultur: Ihr Projekt heißt "Wüstungen". Was ist eine Wüstung?
    Anne Heinlein: So nennt man eine komplette Abtragung einer Siedlungsfläche. Wüstungen gab es schon im alten Rom. Mir geht es um neuzeitliche Wüstungen. Die gibt es zum Beispiel noch in der Lausitz, dort werden für den Abbau der Braunkohle ganze Ortschaften abgerissen. Ich beschäftige mich in dem Projekt mit den Wüstungen an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze.
    Deutschlandradio Kultur: Was ist dort geschehen?
    Anne Heinlein: Ortschaften, die bis zu 1000 Jahre alt waren, wurden abgerissen. Sie lagen in unmittelbarer Nähe zur Grenze. Die DDR-Regierung wollte ein freies Schussfeld haben und verhindern, dass Menschen in den Westen flüchteten.
    Deutschlandradio Kultur: Wie sind Sie auf das Thema gestoßen?
    Anne Heinlein: Mein Mann, der Fotograf Göran Gnaudschun, hatte ein Stipendium im Drei-Länder-Eck zwischen Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern. Wir spazierten entlang der ehemaligen Grenze und standen plötzlich vor einer Wüstung. Wir erkannten Hofeinfahrten und alte Obstwiesen. Man spürte - hier ist was, hier war was, aber man steht im Nichts. Die Natur hat sich alles zurückgeholt.
    Deutschlandradio Kultur: Seitdem fotografieren Sie solche Orte und ihr Mann schreibt Texte darüber.
    Anne Heinlein: Richtig, und gemeinsam haben wir recherchiert, zum Beispiel in der Stasi-Unterlagenbehörde.

    "Das lief manchmal innerhalb von 24 Stunden"

    Deutschlandradio Kultur: Mit welchem Ergebnis?
    Anne Heinlein: Die Menschen wurden seit den 1950er-Jahren zwangsumgesiedelt. Das lief manchmal innerhalb von 24 Stunden. Die konnten nur noch ihr Hab und Gut zusammenpacken, Lastwagen brachten sie ins Landesinnere. Kinder wurden manchmal erst Tage später nachgeholt. Das sind dramatische Geschichten.
    Deutschlandradio Kultur: Welche Geschichte hat Sie besonders berührt?
    Anne Heinlein: Ich erinnere mich an einen Mann, der geflüchtet ist. Er ist in ein Minenfeld gerannt. Die Explosion zerriss beide Beine. Weil der Minenplan in der Bezirksstadt Magdeburg lag, konnten die Grenzsoldaten ihm nicht helfen. Sie mussten zusehen, wie er verblutet und verreckt. Das Leben an der Grenze war schwierig, die Bewohner standen unter Generalverdacht.
    Deutschlandradio Kultur: Warum?
    Anne Heinlein: Es gab zum Beispiel einige Bauern, die sich weigerten, in eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft einzutreten. Die standen genauso unter Verdacht wie die Bewohner, die häufig mit dem Feldstecher in den Westen schauten. Die Stasi hatte auch Angst davor, dass die Dorfbewohner zu Schleppern werden könnten. Schließlich kannten die Bewohner die Region und die Wege über die Grenze meist besser als die Grenzsoldaten.
    Deutschlandradio Kultur: Sie haben mit vielen Zeitzeugen gesprochen. Auf den Fotografien tauchen trotzdem keine Menschen auf.
    Anne Heinlein: Aber man kann sie sich vorstellen. In der Ausstellung, die wir planen, werden auch Fotos von Menschen zu sehen sein und Familienbilder von früher. Zehntausend Menschen mussten ihre Heimat verlassen, sie wurden entwurzelt. Ihnen wurden Häuser und Höfe entrissen, die sie zum Teil von Generation zu Generation übernommen hatten. Und trotzdem bleibt etwas zurück. Das sollen auch die Bilder der von der Natur überwucherten Orte transportieren. Ich möchte, dass der Betrachter meine Fotos mit den Geschichten der Menschen und seiner eigenen Fantasie füllen kann.

    Geschichten ohne glückliches Ende

    Deutschlandradio Kultur: Das klingt positiv. Die Familiengeschichten endeten aber häufig tragisch, oder?
    Anne Heinlein: Leider ja. Ich habe von einem Zeitzeugen die Geschichte seiner Familie in Thüringen gehört, die zwangsumgesiedelt wurde. Die Stasi hatte sie dazu gezwungen, den Hof billig zu verkaufen - sonst wäre sie zwangsenteignet worden. Die Menschen mussten unter Tränen da raus. Auch heute fällt es ihnen nicht leicht, darüber zu sprechen, ohne zu weinen.
    Deutschlandradio Kultur: Was ist aus der Familie geworden?
    Anne Heinlein: Die Familie hat nach der Wende versucht, den Hof auf dem sie lebten, zurückzubekommen. Die Bundesrepublik sagte, dass das Grundstück nun Staatseigentum sei, weil die Familie es ja an die DDR verkauft habe. Aber sie dürften es zurückkaufen. Also kauften sie es zurück und kämpfen bis heute dafür, auf die noch stehenden Grundmauern ihren alten Hof wieder aufzubauen zu dürfen.
    Deutschlandradio Kultur: Und das geht nicht?
    Eine der älteren Arbeiten von Anne Heinlein - das Porträt einer der Benediktinerinnen aus der Abtei St. Gertrud in Alexanderdorf.
    Eine ältere Arbeit: das Porträt einer  Benediktinerin.© Anne Heinlein
    Anne Heinlein: Das Grundstück liegt heute im Naturschutzgebiet, man spricht dort vom "Grünen Band". Die Familie fühlt sich zweimal betrogen, einmal von der DDR-Regierung und dann noch mal von der Bundesregierung. Einer von ihnen, der auch auf dem Hof gelebt hat, kam mit der Ungerechtigkeit nicht mehr klar und erhängte sich am Baum des ehemaligen Hofes vor ein paar Jahren.
    Deutschlandradio Kultur: Die Wiedervereinigung hat das Leben der umgesiedelten Bewohner offenbar nicht verbessert?
    Anne Heinlein: Nein, in den meisten Fällen nicht. Viele Betroffene finden zwar ihren Frieden durch Gedenksteine an den Orten, aber letztlich wurden sie von der DDR-Regierung zwangsumgesiedelt und verloren nicht nur ihre Heimat, sondern auch Haus, Hof, Familie und Freundschaften. Es betraf über 10.000 Menschen, die von der Bundesregierung bis heute nicht entschädigt wurden.
    Deutschlandradio Kultur: Wie geht es Ihnen selbst, wenn Sie die Wüstungen besuchen?
    Anne Heinlein: Die Orte machen was mit mir. Sie geben mir Rätsel auf, ich kann mir dort das Leben von einst vorstellen und mir Geschichten rein imaginieren.

    "Für meine Familie war der Mauerfall eine Erlösung"

    Deutschlandradio Kultur: Sie sind selbst in der DDR aufgewachsen. Ist Ihnen am Tag der Deutschen Einheit zum Feiern zumute?
    Anne Heinlein: Ja und nein. Für meine Familie war der Mauerfall eine Erlösung. Meine Eltern waren in der Kirche aktiv und sie waren nicht regimetreu. Ich war erst zwölf, empfand es aber als große Erlösung. Ich habe mich durch unser Projekt gerade wieder viel mit der Staatssicherheit befasst und mit der riesigen Ungerechtigkeit, die sie über die Menschen gebracht hat.
    Deutschlandradio Kultur: Aber?
    Anne Heinlein: Die Wiedervereinigung als große Chance auf einen Neuanfang wurde vertan. Ein Staat hat den anderen geschluckt.
    Die Fotografin Anne Heinlein ist 1977 geboren. Sie ist mit ihren Porträtserien von Frauen in Uniform bekannt geworden - etwa von Polizistinnen und Soldatinnen, aber auch von Nonnen. Eindrücke Ihrer Arbeit gibt es auf Ihrer Webseite. Sie wurde in diesem Jahr mit dem brandenburgischen Kunstpreis ausgezeichnet. Anne Heinlein ist verheiratet mit dem Fotografen Göran Gnaudschun, mit dem sie zusammen auch an dem Projekt "Wüstungen" arbeitet. Sie fotografiert mit einer Plattenkamera in scharz-weiß, er schreibt Texte über die Orte. Gemeinsam recherchieren sie die Geschichten der zwangsumgesiedelten Familien. Eine Ausstellung dazu soll 2017 im Haus am Kleistpark in Berlin zu sehen sein.
    Die Fotografin Anne Heinlein aus Potsdam
    © Göran Gnaudschun
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