Gabriele Baring: "Die Deutschen und ihre verletzte Identität"
Europa Verlag, 2017
19,90 Euro, 312 Seiten
Deutschland, das verstörte Land
Die Familientherapeutin Gabriele Baring formuliert in ihrem Buch "Die Deutschen und ihre verletzte Identität" gewagte Thesen über die Angst. So stünden die Deutschen unter einem "gelenkten Trauerdiktat". Auch die Flüchtlingskrise macht sie zum Thema.
Gabriele Baring untersucht in ihrem Buch "Die Deutschen und ihre verletzte Identität" das Phänomen der "German Angst", das den Deutschen im Ausland immer wieder attestiert wird. Baring, die als Familienaufstellerin in Berlin tätig ist, erlebt in ihrer Praxis, dass viele Störungen jene von "Nachkriegskindern" oder "Kriegsenkel" sind. Sie glaubt, dass diese Störungen aus der Familiengeschichte resultieren. So berichtet sie von Menschen, deren jahrelange Verstopfungsprobleme gelöst werden konnten durch das Erkennen innerfamiliärer Verstrickungen. Selbst Getötete oder abgetriebene Kinder, von denen ihre Klienten nicht einmal wussten, dass es sie in ihrem Umfeld gab, beeinflussen, so Baring, die Menschen und hemmen sie.
Die individuellen Verstörungen aber wirkten zudem auf die gesamte deutsche Gesellschaft ein, ihretwegen sei die Familie ein Auslaufmodell, ihretwegen herrsche Kinderfeindlichkeit, ihretwegen lehne man die Thesen von Thilo Sarazin ab. Ja, die Deutschen stünden sogar unter einem "gelenkten Trauerdiktat", das etwa das Psychoanalytikerpaar Margarete und Alexander Mitscherlich der Nation auferlegt habe. Auch die Rede von einer Kollektivschuld an den Verbrechen der Nazis habe die Identität der Deutschen so sehr angegriffen, dass es nun letztendlich zu jener Angst komme, die einzig durch eine Versöhnung mit der Vergangenheit aufzuheben wäre. Man müsse das deutsche Leid im Zweiten Weltkrieg und das individuelle Leid innerhalb der Familie anerkennen, auch jenes, das Mörder erfahren haben.
AfD spielt keine Rolle
Baring folgt damit ganz den Lehren ihres Vorbildes, des Familienaufstellers Bert Hellinger, der in einem seiner Werke sogar davon sprach, dass man sich vielleicht nur dann selbst lieben könne, wenn man Hitler lieben könne. Der Sozialwissenschaftler Klaus Weber nannte diese Methode einmal "Verhöhnung der Opfer durch Versöhnung mit den Tätern".
Nun sollte man Gabriele Baring keinesfalls eine Nähe zum Nationalsozialisimus unterstellen, denn immer wieder verurteilt sie die Taten des NS-Regimes und bezieht sehr wohl die Opfer des Holocausts in ihre Argumentation mit ein. Dennoch ist es merkwürdig, dass sie sich in ihrem Buch, das eine Aktualisierung ihres vor sechs Jahren erschienenen Buches "Die geheimen Ängste der Deutschen" ist, zwar einerseits mit der Flüchtlingskrise beschäftigt, deren Entstehen sie allein Angela Merkel ankreiden will, oder mit dem Verfall der Sitten im politischen Streit, andererseits jedoch die AfD nirgends behandelt. Geht es um die Abtreibung, sieht sie, die uns die Nazis nahebringen und entdämonisieren will, damit wir unser Erbe annehmen, plötzlich aufseiten der Frauen, die Abtreibungen akzeptabel finden, "mörderische Energie oder, drastischer formuliert: Hitlers Erbe" am Werk.
Sie wirft sich für die Nation in die Bresche
Und ist es wirklich so, dass die Zunahme von Burn-Out-Erkrankungen in Deutschland durch das Hadern mit der kriegsbedingten Familiengeschichte erklärbar ist? Wie interpretiert sie dann vergleichbare Zahlen in Großbritiannien, das doch weitgehend mit sich im Reinen ist?
Um es kurz zu sagen: die esoterische Therapeutin scheut die Widersprüche nicht und wirft sich für die Nation in die Bresche, die sie ebenso wie die biologisch basierte Familie für etwas Gegebenes hält, das alle annehmen müssen. Dass sie folglich sehr oft genauso spricht wie jene Blut-und-Boden-Schreier, die sie ansonsten verurteilt, ficht sie dabei offenkundig nicht an.