Warum in der Erinnerung alles viel magischer war
Mal wie ein Bilderbuch, mal wie ein Comic, prall farbig oder Schwarz-Weiß: In ihrem Buch "In meiner Erinnerung ist mehr Streichorchester" verarbeitet Julia Hoße persönlich Erlebnisse, Erfahrungen und Erzählungen und schlägt einen Bogen bis hin zur Raumzeittheorie.
Frank Meyer: In der Edition Büchergilde ist vor Kurzem ein ganz ungewöhnliches Buch erschienen, ein Buch mit Bildern und Texten, also verwandt mit Comics oder Graphic Novels. Aber die Kapitel des Buches, die sind so unterschiedlich und malerisch gestaltet, viele davon jedenfalls, dass der Comic-Vergleich dann doch wieder nicht so ganz richtig passt. "In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester" heißt das Buch, Julia Hoße hat es gemalt und gezeichnet und getextet, und sie ist jetzt hier bei uns im Studio. Seien Sie willkommen, Frau Hoße.
Julia Hoße: Guten Tag, hallo!
Meyer: Schauen wir mal ins erste Kapitel rein. Da geht es um einen Ausflug, zwei Kinder, zwei Schwestern fliegen aus in einen Dinosaurierpark. Es geht um die Erinnerung an diesen Ausflug und um ein Video, das davon offenbar gedreht wurde, so ein Familienvideo. Und offenbar gibt es da eine Differenz zwischen Erinnerung und Dokumentation im Familienvideo, vielleicht so was wie ein Anlass zum Erzählen für dieses Kapitel. Was ist da für ein Unterschied, was wollten Sie da zeigen?
Hoße: Entscheidend ist es da, dass ich aus Familienanlässen ein Terabyte Familienvideos durchgeschaut habe. Mein Vater hat immer gefilmt. Und das war ganz merkwürdig für mich, und das Dinosauriervideo ist da quasi nur ein Beispiel für, dass ich mich an bestimmte Sachen erinnere, aber halt alles viel größer war, viel farbiger, also magischer irgendwie, was in dem Video überhaupt nicht aufzuzeichnen ist, weil Video natürlich keine Emotionalität aufzeichnet.
Das Video war halt so komplett dröge, und eigentlich dieser tragische Dinosaurierpark, wo niemand war, und wo es so trocken und verdorrt war und die Dinger total ausgeblichen. Aber in meiner Erinnerung war das – ha ha, mehr Streichorchester – eine der fantastischsten Erinnerungen, die ich habe. Das hat schon so eine merkwürdige Spannung erzeugt.
Zwischen Erinnerung und die Dokumentation
Meyer: Genau, und da sind wir auch gleich beim Titel, wie Sie sagen: In meiner Erinnerung war eben mehr Streichorchester. Sie führen das auch noch weiter aus in dem Kapitel … war mehr Magie, mehr Geheimnis, mehr Pathos, mehr Sättigung, das sind alles die Begriffe, die Sie da verwenden. Also es geht auch um den Verlust dieser Dinge, die man in der Kindheit noch spürt und die später verloren gehen?
Hoße: Die Frage ist, ähnlich wie bei einem Déjà-vu oder bei so anderen Erinnerungsphänomenen, ob das wirklich so viel magischer war oder ob es einfach durch Abspeicherungsprozesse, die im Gehirn stattfinden, und die Jahre, die vergehen, dass sich das einfach verändert hat im Kopf.
Meyer: Jetzt nehmen Sie diese eigene Erinnerung und die Dokumentation davon, und in Ihrem Buch kombinieren Sie das mit anderen Erinnerungen Ihrer Mutter und Ihrer Großmutter, also über drei Frauengenerationen hinweg in Ihrer Familie. Was hat Sie dazu bewegt, diese Erinnerungen dreier Generationen da zusammenzuziehen in Ihrem Buch?
Hoße: Das Projekt ist eigentlich aus einem Kurs entstanden, und das Thema war, es sollte ein Essay sein. Also die essayistische Herangehensweise ist, man macht einen Spaziergang, oder man fängt halt irgendwo an, in meinem Fall bei diesen Videos, und dann lässt man quasi freien Lauf, und einfach ein Gedanke führt zum nächsten.
Ich habe dann irgendwie verschiedenste Geschichten angefangen. Das erste Kapitel ist halt dieses Kapitel mit diesem Dinosaurierpark, von meinen eigenen Erinnerungen, und dann habe ich halt diese Geschichte gezeichnet, wo meine Mutter irgendwelche Frösche begraben hat als Kind. Und dann wollte ich etwas über diesen Wald machen, wo wir als Kinder gespielt haben, wo meine Mutter schon gespielt hat und meine Großmutter, nicht als Kind gespielt – also wo wir alle eine Verbindung zu haben.
Und irgendwie habe ich so verschiedene Sachen angefangen, und nach und nach habe ich dann die Verbindungen erst verstanden. Am Anfang waren es wirklich ganz viele unterschiedliche Projekte, und dann ist das so später zusammengekommen. Das Projekt ist ja auch über drei Jahre entstanden. Nach anderthalb Jahren wusste ich erst, was ich mache, eigentlich.
Unterschiedliche Geschichten - unterschiedliche Techniken
Meyer: Wenn Sie sagen, Sie haben die Verbindung dann erst verstanden – was haben Sie da verstanden an Verbindung?
Hoße: Dass es mir gar nicht um die einzelnen Geschichten geht. So wahnsinnig interessant ist das ja eigentlich nicht. Ich persönlich habe ja keine schlimmen Traumata erlebt, von denen ich erzählen könnte. Das verbindende Element ist halt die Erinnerung selbst und wie die sich verändert, wie sie über Erzählung weitergegeben werden, manchmal über Generationen hinweg. Um es ganz groß zu sagen, dass ja auch Geschichte, die geschrieben wird, die man dann im Schulbuch lernt, ja auch eine Auswahl ist von Erinnerungen, wo die Gesellschaft beschließt, das ist erinnerungswert und sollte an die nächste Generation weitergegeben werden. Es war irgendwie eine Verallgemeinerung, die für mich stattgefunden hat, wo ich dachte, es ist doch erzählenswert.
Meyer: Und vor allem ist es für Sie ja darstellenswert. Sie zeichnen das, Sie malen das in jedem der sechs Kapitel auf ganz verschiedene Weise. Vielleicht können Sie uns erst mal sagen, was das alles für Techniken sind, die Sie da angewendet haben für verschiedene Techniken in diesem Buch?
Hoße: Die Technik muss dem Inhalt entsprechen. Technik ist ja auch eigentlich nur eine Erweiterung, um einen Gedanken darzustellen, eine Darstellungsform, wie es im Film ja auch verschiedene Formen gibt.
Im ersten Kapitel habe ich für diese Aufzeichnung von dem Video, die ich versuche wiederzugeben, ganz klare Bleistiftzeichnungen mit zarter Kolorierung, Buntstift benutzt, weil für mich der Stift, den man vorn in den Fingern hält und wo die Hand aufliegt, das ist sehr verkopft eigentlich und sehr präzise und sehr genau. Und dann wiederum die Erinnerungsteile aus einer Zeit, wo ich acht Jahre alt war, die ja nicht konkret sind, wo es eher um ein Gefühl geht, da konnte ich ja nicht die gleiche Technik benutzen. Also habe ich dann das grundiert mit Farbe und dann mit Buntstiften drübergezeichnet und mit Tusche reingezeichnet, sodass es halt was Freies bekommt und die Horizonte sich auflösen und die Größenverhältnisse nicht stimmen. Und das die Räumlichkeit so verschwindet.
Wo es um die Erinnerungen meiner Mutter geht, an die ich mich falsch erinnere, die wiederum sind Tuschezeichnungen, die aber sehr fleckig sind und auch sehr schnell entstanden sind, wo auch die Räume nicht genau existent sind – weil, ich weiß es ja nicht. Deswegen muss ich die Unwissenheit ja auch irgendwie aufs Blatt bringen.
Wenn aus Erinnerungen Legenden werden
Meyer: Das finde ich interessant, dass Sie sagen, dass Sie Ihr eigenes Verhältnis zu dem Stoff, von dem Sie jeweils erzählen, oder die Nähe oder Distanz sich jeweils in der Technik selbst ausdrückt, nicht nur in dem, wie man es halt hinschreibt oder aufzeichnet, sondern tatsächlich im Material selbst.
Hoße: Ja, für mich ist es so eine Ehrlichkeit der Erzählung. Mein Standpunkt muss klar sein. Alles andere ist in gewisser Weise eine Lüge. Es muss sozusagen klar sein, was ich mir ausdenke und was ich weiß, und das muss auch in der Technik irgendwie sichtbar sein.
Bei dem vierten Kapitel, wo es um die Erinnerung meiner Großmutter an ihre Kriegszeit und die Nachkriegszeit geht und die Flucht aus Königsberg – sie war damals acht Jahre alt, und diese Geschichten hat sie immer und immer wieder erzählt und erzählt sie auch immer noch, also die ist noch sehr lebendig. Durch diese immer gleichen Worte, die sie benutzt, und die immer gleichen Szenen, die sie so erzählt, und die immer gleichen Verhältnisse, die sie beschreibt, hatte das für mich dann irgendwie so was Legendenartiges wie von einem – da kann man auch von Barbarossa erzählen oder von – ich weiß auch nicht, von Robin Hood.
Meyer: Es ist weit weg für Sie …
Hoße: Es ist sehr weit weg. Die Figuren sind dann auch wie Stereotypen in dem Sinne. Also die Frau, die flieht, und dann nachher im Wiederaufbau arbeitet, das ist ja die Geschichte von der Frau sozusagen, der deutschen Frau in der Kriegszeit. Und dann wollte ich halt – die Darstellung ist dann eine malerische. Da habe ich auch grundiert, und dann wollte ich ein bisschen was Ikonenhaftes haben – also natürlich kein Goldhintergrund oder so, aber etwas Steifes haben die Figuren, wie so Statuen, und so ein bisschen orientiert auch an der Kunst der 20er-Jahre. Es musste dann ganz stilisiert sein, weil für mich ist die Geschichte ja irgendwie stilisiert.
Nichts geht verloren
Meyer: Und Sie verfolgen eben diese verschiedenen autobiografischen oder biografischen Kapitel, und dann, zack, auf einmal ist man bei Einstein. Albert Einstein und seine Raumzeittheorie, die sprengt da rein in Ihrem Buch. Was hat denn jetzt all das mit Einsteins Raumzeittheorie zu tun? Vielleicht die einfache Erklärung.
Hoße: Laut der Raumzeittheorie, also ganz simpel ausgedrückt – und ich bin ja auch kein Physiker, ist für Physiker die Gegenwart nicht relevant. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestehen gleichwertig nebeneinander. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind quasi auch nur Teil des Raums, halt die vierte Dimension, und damit ist alles, was passiert ist, sozusagen fest in der Raumzeit verortet, an dem Ort – Längengrad, Breitengrade und halt auch Zeitgrade – ist das passiert, und was in der Zukunft sein wird, steht quasi auch schon fest – in gewisser Weise, man weiß es halt nur nicht.
Und damit ist halt alles, was angeblich verloren gegangen ist, eigentlich nicht verloren gegangen. In der Raumzeit hat das seinen festen Ort, seinen festen Raum und wird immer an diesem Zeitpunkt existiert haben. Und das ist für mich so eine Art Trost, oder nicht Trost – oder ja, schon.
Meyer: Ihr Buch läuft dann auf einen Satz zu – also wenn am Anfang der Satz schon im Titel steht "Früher war mehr Streichorchester", ist der Satz, der am Ende steht "Nichts geht verloren". Das hat ja auch zu tun mit dieser Idee der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dass alles gleichzeitig da ist. Nichts geht verloren, darauf läuft das Buch dann hinaus. Wie erleben Sie das denn, das nichts verloren geht?
Hoße: Die Physiker würden wiederum sagen, wir haben da einen Wahrnehmungsfehler mit unserer Zeitwahrnehmung. Also ich hatte zum Beispiel eine Besessenheit mit alten Filmen eine Zeit lang, mit Hollywood-Filmen der 30er-Jahre. Und das war für mich so nahe, diese ganzen Menschen und wie das passiert ist, und die waren ja damals so jung, und ich konnte die quasi in den Filmen, die ich dann geguckt habe, auch altern sehen. Also die waren ja trotzdem auf dem Film drauf, und irgendwie war für mich dann dieser 30er-Jahre-Film total nahe, obwohl das ewig lang her ist. Das ist für mich so ein Gedankensprung, der für mich dann von diesem Film auf mein echtes Leben stattfindet. Ich kann natürlich nicht in die 30er-Jahre zurückreisen, aber es ist irgendwie da.
Meyer: Wie die Vergangenheit für uns da ist und wie sie sich verändert in unserem Rückblick, darum geht es in dem Buch "In meiner Erinnerung war mehr Streichorchester" von Julia Hoße. In der Edition Büchergilde ist das Buch erschienen, mit 176 Seiten, 26 Euro ist der Preis für dieses sehr, sehr schöne Buch, um das noch mal zu sagen. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Hoße!
Hoße: Danke Ihnen!
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