Foucault lesen mit Joseph Vogl

"Die Begierde als revoltierendes Element"

52:54 Minuten
Der französische Philosoph Michel Foucault, aufgenommen 1980, im Bildvordergrund ist eine Frau zu sehen
Der französische Philosoph Michel Foucault, aufgenommen 1980 © imago/Leemage
Joseph Vogl im Gespräch mit René Aguigah |
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Ein zweiter Blick auf den neuen Foucault: Der Berliner Kulturwissenschaftler Joseph Vogl lässt sich schon lange von den Arbeiten des französischen Philosophen anregen. Nun liest er Michel Foucaults aus dem Nachlass erschienenes Buch "Die Geständnisse des Fleisches". Ein Gespräch über Sexualität im frühen Christentum, über sexuelle Identität heute und die Frage nach dem gegenwärtig drängendsten politischen Handlungsbedarf.
Soeben ist das letzte Buch des französischen Philosophen Michel Foucault erschienen – 34 Jahre nach seinem Tod 1984, aus dem Nachlass, der vierte Band seiner "Geschichte der Sexualität" mit dem Titel "Die Geständnisse des Fleisches". Einer der prominentesten Kulturwissenschaftler, der sich bis heute von Foucault inspirieren lässt, ist der Berliner Literaturwissenschaftler Joseph Vogl. Wie schaut er auf diesen neuen, letzten Foucault?

Nüchternheit im Ton

Vogl bemerkt die Nüchternheit im Ton dieses Bandes. Ohne Umschweife liest Foucault Texte der Kirchenväter, Predigten und Abhandlungen von Clemens von Alexandria bis Augustinus von Hippo, die in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung das Geschlechtsleben der frühen Christen regelten. Zugleich unterstreicht Vogl die intellektuelle Aufregung. Sexualität geht uns heute an, wird hier aber auch in die historische Ferne gerückt, in eine "Fernnähe", sodass sie uns wie eine "Grimasse" erscheint.
Der Philosoph Joseph Vogl im Deutschlandfunk Kultur
Der Philosoph Joseph Vogl im Deutschlandfunk Kultur© Deutschlandradio / Torben Waleczek
Die frühen Christen schauen kaum strenger auf Sexualität als die heidnische Antike zuvor. Schon etwa für die Stoiker ist Mäßigung auch in der sexuellen Lebensführung erstrebenswert. Neu an den Texten der Kirchenväter ist etwas anderes: Sie rücken das Geschlechtsleben der Menschen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und dies dreifach.
Erstens führen die frühen Christen die Praxis der Buße ein: eine Art des Verhältnisses zu sich selbst, das seine extreme Ausprägung im klösterlichen Leben hatte; eine Befragung seiner selbst, die sich der Anleitung eines Seelenführers hingibt. Selbstaufgabe ist hier die Voraussetzung, um sein Selbst in der frommen Lebensführung zu steigern.

Die Kirchenväter erfanden das "sündige Fleisch"

Zweitens erfinden die Kirchenväter das Konzept des sündigen Fleisches. Das Ich wohnt in seinem Körper, der abgetrennt wird von sündigen Phantasien. Keuschheit ist das klösterliche Ideal – wobei keusch nicht so sehr das schiere "Unterlassen von Handlungen" ist, eher eine "Dauerverführung", der es beständig zu widerstehen gilt.
Drittens wertet das Christentum den sexuellen Akt auf, indem es die Libido, die Begierde, in ihm entdeckt – und ihn nicht etwa auf den Zweck der Fortpflanzung reduziert. Für Augustinus wird die Begierde zum Zentrum der Ehe, in all ihrer Unwillkürlichkeit, die sich dem bewussten Subjekt entzieht, schon im Paradies vor dem Sündenfall. Nach der Lektüre von Foucaults Augustinus-Lektüre formuliert Joseph Vogl es so: "Die Revolte des Menschen gegen Gott im Sündenfall ist analog zur Revolte der Libido gegen die Seele im einzelnen Menschen." Die Begierde taucht bei den frühen Christen als "revoltierendes Element" auf, welches das Subjekt in eine "Dauerkrise" stürzt.
Der französische Philosoph und Schriftsteller Michel Foucault
Der französische Philosoph und Schriftsteller Michel Foucault© dpa / picture alliance

Verhältnis zwischen Individualität und Sexualität

Ob es Verbindungen zwischen den spätantiken Gedankenwelten und der Gegenwart gibt – zwischen Foucaults Untersuchungen und aktuellen Debatten etwa um sexuelle Identitäten? Foucault habe das Verhältnis zwischen Individualität und Sexualität eher unterbrechen wollen, so Vogl. Und das Pochen auf sexuellen Identitäten heute sei nicht selbstverständlich befreiend.
"Auf der einen Seite besteht kein Zweifel daran, dass das Kämpfen für Frauenrechte, das Kämpfen für die Rechte von Homosexuellen, das Aufheben von bestimmten Diskriminierungen, die manifest sind, die rechtlichen Charakter hatten, die mit Pathologisierungen verbunden waren, dass all das eine emanzipatorische Dynamik entwickelt hat", so Vogl. "Auf der anderen Seite, glaube ich, kann man bestimmte Bewegungen erkennen, insbesondere in behüteten Gesellschaften wie etwa an den Universitäten, wo eine hohe Aufmerksamkeit auf Verhaltensweisen gelegt wird, in denen sich die Wiederholung eines polizeilichen Blicks manifestiert. Das heißt: Wer sagt was zu wem in welcher Sekunde mit welchem Ton? Und welche Anklagen können bei dieser oder jener Geste geführt werden?"

Fragen nach gegenwärtigen Formen der Macht

Eine bleibende Verbindung zwischen Foucaults Anregungen und seiner eigener Arbeit sieht Joseph Vogl in Fragen nach gegenwärtigen Formen der Macht. Beispielhaft nennt er die Frage nach der Herausbildung von "Präventionsgesellschaften": Gesellschaften, die sich auf die Erkennung und Abwehr "interner Gefährdungen" ausrichten, im Zustand der "Daueralarmierung".
Auf die Frage, wo er heute drängendste politische Probleme sieht, nennt Vogl die Flüchtlingspolitik. "Hier haben wir es mit den gegenwärtigen 'infamen Menschen' zu tun, die keine Rechte haben oder deren Rechte weiter beschnitten werden, deren Lebensqualität weiter verschlechtert werden soll, indem alle Formen der Abschreckungspolitik aufgefahren werden. Ich glaube, an dieser Stelle gibt es ganz unmittelbar politischen Handlungsbedarf, und ich würde sagen, gerade an diesen Gruppen, Asylbewerbern, Flüchtlingen, Kriegsflüchtlingen, zeigt sich im Augenblick die bösartigste Seite der Macht, die in unseren Gesellschaften ausgeübt wird."

Literaturtipps
Michel Foucault: Histoire de la sexualité 4. Les aveux de la chair, Gallimard, Paris 2018
Joseph Vogl: Der Souveränitätseffekt, Diaphanes, Berlin/Zürich 2015
Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals, Diaphanes, Berlin/Zürich 2010

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