Gisela Stelly-Augstein: "Keitumer Gespräche"

Tragikomödie um einen "Vatermord"

Zwei Häuser in den Dünen auf der nordfriesischen Insel Sylt,
Malerisches Sylt: Schauplatz der "Keitumer Gespräche" © imago /Hohlfeld
Arno Orzessek im Gespräch mit Frank Meyer |
In ihrem neuen Buch vermisst Gisela Stelly Augstein ihre Familie neu. Denn, wie wir inzwischen schon länger wissen: Jakob Augstein war nicht der Sohn von Rudolf Augstein, sondern von Martin Walser. Gestern wurde das Buch in Berlin vorgestellt. Mit dabei: Bazon Brock. Und unser Kritiker Arno Orzessek.
Frank Meyer: Gestern Abend hat Gisela Stelly-Augstein in Berlin ihr Buch "Keitumer Gespräche" vorgestellt. Gisela Stelly-Augstein ist Journalistin, Drehbuchautorin, Regisseurin, Schriftstellerin. Sie war mit dem "Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein verheiratet. Und um die Familie Augstein soll es auch gehen in diesem Buch, und es geht um Martin Walsers Familie.
Im Jahr 2009 hat Rudolf Augsteins ältester Sohn Jakob bekannt gemacht, dass der Schriftsteller Martin Walser sein leiblicher Vater ist, und eben nicht Rudolf Augstein. Der illustre Kulturtheoretiker Bazon Brock hatte gestern zu dieser Buchvorstellung mit Gisela Stelly-Augstein eingeladen, und mein Kollege Arno Orzessek war dabei. Das Ganze fand statt in der Berliner "Denkerei" von Bazon Brock, und die Veranstaltungen dort sollen immer recht speziell sein. Wie war das gestern Abend?
Arno Orzessek: Die "Denkerei", das ist ja praktisch der private Thinktank von Bazon Brock. Er besorgt da immer die 12.000 Euro Monatsmiete, indem er Vorträge hält überall in Deutschland. Und das Spezielle in dieser "Denkerei" unterliegt allerdings einer gewissen Routine.

Diskursfontäne ohne förmliche Einleitung

Auch gestern erhob sich irgendwann einmal Bazon Brock und ließ ohne irgendeine förmliche Einleitung seine Diskursfontäne sprudeln. Für Hörer, die das nicht kennen, sei gesagt, Bazon Brock amalgamiert philosophisch-kritische, kulturkritische Reflexion mit einer Art von rhetorischer Performance-Kunst. Er ist der Hohepriester der gelehrten Abschweifung, der unerahnten Zusammenhänge, der riskantesten Assoziation.
Gestern redete er zunächst über den Limbus, also diese gute alte Vorhölle der katholischen Theologie, die Papst Benedikt XVI. alias Ratzinger ja vor zehn Jahren stark abgewertet hat. Und das macht insofern Sinn – nicht die Abwertung, sondern dass Bazon Brock das erwähnte –, als die "Keitumer Gespräche" von Gisela Stelly-Augstein tatsächlich zur Gattung der Totengespräche zu rechnen sind. Stilbildend wäre hier, und dieser große Name fiel dann auch, Dantes "Göttliche Komödie" zu erwähnen, in der der römische Dichter Vergil, ja Dante sozusagen, die Einzelheiten der Hölle vorstellt und zeigt.
Meyer: Tote also. Von den Personen, die ich vorhin erwähnt hatte, ist Rudolf Augstein tot. Er ist vielleicht dabei. Wer sind die anderen Toten, die da reden?
Der deutsche Publizist und Herausgeber des Hamburger Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", Rudolf Augstein, aufgenommen am 27. Januar 1994.
"Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein 1994© picture alliance / dpa / Werner Baum
Orzessek: Wir befinden uns zunächst auf der Insel Sylt, eben im Ortsteil Keitum, wo sich der noch lebende "Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein um eine schmucke Grabstelle bewirbt und nach seinem Tod 2002 auch erhält. Und 13 Jahre später kommt dann auch Augsteins Freund Fritz J. Raddatz, der bekannte Feuilletonist und Romancier dazu, nämlich als Toter.

Gespräch zwischen den lebendigen Seelen der beiden Toten

Stelly-Augstein bringt nun das Gespräch zwischen den lebendigen Seelen der beiden Toten in Gang, ein Gespräch, das dann bald zu seinem Kernthema findet, dass nämlich der leibliche Vater von Rudolf Augsteins Sohn kein anderer als Martin Walser ist. Aber hören wir Stelly Augstein selbst, und zwar in minderer Qualität, wie ich vorausschicke, denn in der "Denkerei" gibt es immer noch keine professionelle Einrichtung zum Mitschneiden.
O-Ton Gisela Stelly-Augstein: Es war eine Art Mord, Vatermord. Sein leiblicher Vater ist Martin Walser, sein gesetzlicher Vater ist Rudolf Augstein, erklärte sein Ältester.
Der Schriftsteller Martin Walser
Der Schriftsteller Martin Walser - und der biologische Vater von Jakob Augstein© dpa picture alliance/ Felix Kästle
Orzessek: Das ist die Stelle, in der also klar wird, worum es jetzt hier geht. Rudolf Augstein selbst hat das ja möglicherweise nicht mehr erfahren. Also tatsächlich lässt Stelly-Augstein den toten Augstein dann in diesem Buch im Weiteren eine Tragikomödie, wie man vielleicht sagen könnte, schreiben, in der Rudolf Augsteins Geist in Gestalt eines Anwalts – ausdrücklich eine Anspielung auf Bancos Geist in "Macbeth" – und als moralische Instanz mit Martin Walser ins Rechten kommt. Und es gibt auch eine groteske Feier zum imaginären 90. Geburtstag von Rudolf Augstein, wo er selbst auftaucht. Und schließlich erfährt er dann auch, dass der Jakob seine Anteile am "Spiegel" verkauft hat, also die vererbten Anteile am "Spiegel".
Jakob Augstein, Verleger und Chefredakteur
Um ihn geht es: Jakob Augstein© imago stock&people
Meyer: Sie haben gerade gesagt, Rudolf Augstein hat womöglich nicht erfahren, dass Jakob Augstein nicht sein leiblicher Sohn ist. Das wird in dem Buch jetzt, wo es ja um diese Fragen offenbar zentral gehen soll, auch offen gelassen?
Orzessek: So ein fiktives Totengespräch und das besagte Drama, das sich dann daran anschließt, das ist sicherlich nicht das richtige Genre, von dem man jetzt Klartext und Fakten, Fakten, Fakten erwarten kann. Stelly-Augstein belässt die Antwort in der Schwebe.
Es heißt an einer Stelle "Unkenrufe, alles Unkenrufe". Laut Maria Carlsson, das ist die Mutter von Jakob Augstein – Rudolf Augstein hatte, glaube ich, fünf Ehen –, kannten alle Beteiligten die wahren Familienverhältnisse, aber meines Wissens will Jakob wiederum erst nach dem Tod von Rudolf Augstein erfahren haben, dass Martin Walser sein leiblicher Vater ist.

Ungewissheiten sind literarisch viel erquicklicher

Ich selbst kenne die dynastischen Nuancen nicht gut genug, um das hier zu beurteilen. Das Buch "Keitumer Gespräche" jedenfalls täuscht keine privilegierten Kenntnisse in dieser Sache vor. Es operiert mit den Ungewissheiten, und das ist literarisch natürlich auch viel erquicklicher.
Meyer: Jetzt haben Sie ja schon sehr schön kommentiert, wie Bazon Brock auftritt bei diesen Gelegenheiten. Gestern Abend, wie hat er denn sich dort zu dem Buch und zu der Lesung verhalten?
Orzessek: Er hat das Buch dann nach der Lesung oder zumindest gewisse Passagen dieses Buches in die höchsten Himmel der Weltliteratur hineingelobt, und zwar derart eisern enthusiastisch, dass ich irgendwann mal dachte, jetzt schreibt sich hier eine unfreiwillige Realsatire.
Brock liest Augsteins Buch gewissermaßen als Offenbarung über die teuflische Destruktionskraft und die Korrumpierung unserer Gesellschaft durch das geltende Erbrecht. Denn Jakob hat ja von Rudolf Augstein zunächst neben den Anteilen an dem "Spiegel" auch einiges mehr geerbt. Und dass er das überhaupt angenommen hat, dafür wurde er von Brock krass zusammengefaltet.

Harsche Abrechnung mit Jakob Augstein

O-Ton Bazon Brock: Dass ein intellektuell nicht gerade unterbelichteter Mensch sich nicht schämt, ein Erbe anzutreten, dem allein er seine Position zu verdanken hat, ist doch eine Kapitulation vor jeder Art von Moral, ist eine Missachtung, Selbstmissachtung. Die Tendenz der Selbstzerstörung – ich, wenn ich Erbe bin, sofort zu erklären, ich bin nichts, mein Erblasser ist alles, meine Familie ist alles.
Orzessek: So weit das Augstein-Bashing von Bazon Brock. Das hat er verbunden mit einem Plädoyer übrigens, im Erbrecht umzustellen und auf Können und Leistung und Verdienst abzuzielen, und nicht darauf, dass die Söhne irgendwelcher Väter zu einem solchen Reichtum und Einfluss kommen.
Meyer: Zu solchen Einlassungen kann also dieses Buch führen von Gisela Stelly-Augstein. "Keitumer Gespräche" heißt es, im Westend-Verlag erschienen mit knapp 100 Seiten. 16 Euro ist der Preis. Vielen Dank an Arno Orzessek.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema