Daniel Hornuff vertritt an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe eine Professur für Kunstwissenschaft und Medientheorie.
Was Streitschriften sind und was nicht
Es scheint ein modernes Untertitelphänomen zu sein: die "Streitschrift" gegen dieses und jenes. Doch worüber soll man noch streiten, wenn es zu allen Themen Streitschriften gibt, fragt sich Daniel Hornuff. Und was genau ist eine Streitschrift?
Was wurde nicht alles zur Streitschrift erklärt: Das "Lob der Disziplin", verfasst vom Pädagogen und ehemaligen Leiter eines bekannten Elite-Internats, Bernhard Bueb – eine Streitschrift. Ebenfalls als eine Streitschrift sieht der Philosoph und Autor Michael Schmidt-Salomon sein Appellbuch "Keine Macht den Doofen!" Es verwundert also nicht, warum auch ein Werk wie "Die Generation Man-müsste-mal" unumwunden als "Streitschrift" beworben wird.
Irritationen stellen sich aber spätestens dann ein, wenn selbst ein Buch über das energiesparende Dämmen von Hauswänden als Beitrag zur größeren Kontroverse erklärt wird: "Entdämmt Euch! Eine Streitschrift" von Klaus Jürgen Bauer.
Die Streitschrift ist ein modernes Untertitelphänomen. Als Titelzusatz wirkt sie attraktiv, weil sie ein Buch in Aussicht stellt, das kein Blatt vor den Mund nimmt. Im Gegenteil: Wer sein Buch als Streitschrift etikettiert, möchte ein Flair von Provokation und Debatteneifer verbreiten: Man empfiehlt sich als besonders wagemutiger Geist, der die Dinge beim Namen nennt und eine wie auch immer geartete Gegenposition vertritt.
Grassierende Streitschriften-Innovation
Die Aussicht auf Existenziell-Notwendiges ist das implizite Versprechen einer Streitschrift – und verführt deren Autorinnen und Autoren dazu, einen einseitigen Stil ebenso zu pflegen wie vor Übertreibungen nicht zurückzuschrecken.
Doch die grassierende Streitschriften-Inflation erzeugt einen performativen Selbstwiderspruch. Kaum noch führt eine Streitschrift tatsächlich zum Streit. Im Gegenteil: Die Fülle der Streitschriften führt dazu, dass kein Mensch mehr weiß, worüber und mit wem er sich jetzt noch streiten soll.
Die Streitschrift gerinnt zum Erwarteten und Gewöhnlichen. Sie verspielt damit genau das, was mit ihr intendiert ist: Das Moment der Überraschung, der unerwarteten, weil bislang unbedachten Sichtweise, kurzum, sie verliert den Stachel der Provokation.
Die notorische Wirkungsarmut der Streitschriften hängt aber noch mit einem anderen Missverständnis zusammen. Es ist nämlich ein Irrglaube, zu meinen, man könne in allgemeiner Weise einen Streit provozieren. Eine Provokation verpufft, wenn es niemanden gibt, gegen den die Provokation gerichtet ist. Provozieren lässt sich nicht etwas, sondern allenfalls jemand.
Eine effektive Streitschrift ist folglich immer eine Schrift, die ein dialogisches Moment beinhaltet, folglich also auf eine Person – oder Personengruppe – und deren thematische Position gerichtet ist.
Teil der philosophischen Debattenkultur
Genau dies ist auch der Grund, warum die Streitschrift zum Kernelement der philosophischen und wissenschaftlichen Kultur gehört. Die Geschichte der Wissenschaften ist ohne die Praxis der Streitschriften nicht zu denken – wobei Streitschrift hierbei als pointierte Auseinandersetzung mit konkreten Positionen und damit eben auch Personen verstanden wird. Die wissenschaftliche Streitschrift ist somit eng verbunden mit der polemischen Gelegenheitsschrift – einer Textform, die anlassbezogen veröffentlicht wird, um einer frisch artikulierten These oder Theorie entgegenzutreten.
In Form des Pamphlets und der Schmähschrift gewann die Streitschrift ihre zugleich schärfste wie umstrittenste Kontur: Bewusst unsachlich, tendenziell abwertend bis zur persönlichen Verletzung, durchgängig appellativ. Nicht selten überschlug sich die Streitschrift zur tobenden Kampfschrift. In ihr wurde das Ansinnen einer Auseinandersetzung vom Wunsch, sich mal so richtig Luft zu machen, überwogen.
Löst man die Streitschrift vom bloßen Marketing-Label ab, kommt eine äußerst anspruchsvolle Textgattung zum Vorschein. Eine wirkungsvolle Streitschrift ist ein intellektueller Balanceakt. Sie muss klar auf jemanden und dessen Position gemünzt sein – und gerade damit ein Signal des intellektuellen Respekts senden.
Scharf im Ton, präzise im Einwand
Sie muss scharf im Ton und präzise im Einwand sein – und gerade damit zur Pluralisierung der Positionen beitragen. Sie muss aus einem persönlichen Interesse am konstruktiven Streit erwachsen – und gerade damit als Garant einer entwickelten Streitkultur in Erscheinung treten. Sie muss also das Wagnis der Vereinseitigung und Verknappung eingehen – und gerade damit der Neigung zur Selbstüberhöhung widerstehen.
Eine Streitschrift kann Motor einer Debatte sein, sofern sie aus einem intellektuellen Verantwortungsgefühl resultiert. Denn die gute Streitschrift weiß um ihre eigene Bedingtheit – und darum, dass nicht sie selbst der Streit, sondern nur eines seiner Mittel ist.