Grausame Lebenserinnerungen
Es war lange ein Tabuthema, dem sich jetzt Literatur und Film widmen: die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch Soldaten der Roten Armee. Ingeborg Jacobs schildert in ihrem Buch "Freiwild" in nach Kriegsschauplätzen gegliederten Kapiteln alternierend die Schicksale überlebender Frauen und verknüpft ihre Aussagen mit dem Zeitgeschehen.
Anfang 1947 beteiligte sich die Untertertianerin Ruth Irmgard Perplies an dem Aufsatzwettbewerb einer Illustrierten zum Thema "Mein schlimmstes Kriegserlebnis". Das Flüchtlingskind aus Ostpreußen konnte dabei aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen. Sie hatte in Krieg und Nachkrieg Kälte, Hunger und den Tod von drei Geschwistern erlebt, hatte ihr Überleben einem toten Hund zu verdanken, aus dem ihre Mutter eine Suppe gekocht hatte, war Zeugin der mehrfachen Vergewaltigung ihrer Mutter und anderer Frauen aus der Nachbarschaft geworden.
Sie entschloss sich, über die eigene Vergewaltigung durch zwei russische Soldaten und die Rettung durch einen deutsch sprechenden Offizier zu schreiben. Damals war sie zwölf Jahre alt gewesen.
"Es dauerte nicht lange, da wurde Ruth Irmgard zum Direktor gerufen. Sie hatte den Wettbewerb gewonnen und erhielt aus seiner Hand den ersten Preis, einen Füllfederhalter. Dann sagte er ihr, dass die Zeichenlehrerin sie auf dem Heimweg begleiten werde. Sie fragte das Mädchen aus, Ruth Irmgard berichtete. Sie beendete unser Gespräch mit dem Satz: 'Du darfst zu niemanden darüber sprechen!'"
Auch in ihrer Familie wurde nicht darüber gesprochen. Nur einmal, als es aus Ruth herausbrach, ihre Mutter habe gelächelt, als sie mit dem russischen Kommandanten aus der Scheune kam, hörte sie deren Erklärung, sie habe es für sie getan, weil der Offizier eigentlich die Tochter gewollt hatte.
Es wurde nicht im Osten Deutschlands und nicht im Westen darüber gesprochen. Im Osten nicht, weil aus den "russischen Barbaren" das sozialistische Brudervolk wurde, im Westen, der die Vergewaltigungen nicht am Leib der eigenen Frauen erfahren hatte, waren andere Geschichten gefragt als die vom Elend der Flüchtlinge.
"Die Geschichte ist sehr lästig", konstatiert Marta Hill in ihrem Tagebuch aus dem Berliner Frühling 1945. Nachdem sie es 1954 als "Anonyma" in einem amerikanischen Verlag herausgebracht hat, erscheinen Übersetzungen in den wichtigsten europäischen Sprachen und 1959 schließlich die deutsche Originalausgabe. Sie geht unter. Erst vier Jahrzehnte später war die Zeit reif, das Werk als das herausragende historische und literarische Dokument wahrzunehmen, das es ist, und eine publikumsfreundliche Verfilmung folgen zu lassen.
Ingeborg Jacobs nun hat ein Buch veröffentlicht, das die Gunst der Stunde nutzt, um unseren Blick auf ein tabuisiertes Thema zu lenken, das nach vorsichtigen Schätzungen mehr als zwei Millionen Frauen betraf. Wer allerdings, angeregt durch den Untertitel "Das Schicksal deutscher Frauen 1945", die Hoffnung hegt, eine zusammenfassende Monografie zu dieser Problematik vorliegen zu haben, muss sich weiter gedulden.
Die Autorin wählt ein Verfahren, das sie als Mitarbeiterin an Guido Knopps ZDF-Dokumentationen erfolgreich erprobt hat. In nach den Kriegsschauplätzen gegliederten Kapiteln schildert sie alternierend die Schicksale überlebender Frauen und verknüpft ihre Aussagen mit dem Zeitgeschehen. Das gibt dem Buch den Charakter einer flüssigen, mit dem historischen Verlauf fortschreitenden Erzählung.
Der Nachteil dieses auf persönliche Betroffenheit und allgemeine Aufklärung zielenden Verfahrens ist, dass es für den Leser leicht zu einer Vermischung der Biografien kommt, die es verdient hätten, geschlossen dargelegt zu werden, zumal sie in nicht wenigen Fällen auf schriftlichen Lebenserinnerungen fußen. Der historische Aspekt wiederum droht in einem erzählerischen Ungefähr unterzugehen, das für Quellenangaben und ausführliche Dokumentation keinen Platz lässt.
Am eindruckvollsten wird das Buch dort, wo es tief in ein Geschehen führt, über das wir uns empören, wenn es sich in Bosnien oder im Kongo wiederholt, und uns nun erinnern müssen, dass einmal die eigenen Mütter und Großmütter davon betroffen waren. Königsberg im Winter 1945:
"Eine Woche, nachdem ihre Mutter entführt worden war, hörte Gisela, dass sie ganz in der Nähe, in einem kleinen Auffanglanger in der ehemaligen Fleischerei Norkeweit sei. Als die Zehnjährige nach ihr suchte, ging sie an ihr vorüber. Gisela erkannte ihre Mutter nicht mehr, sie war eine gebrochene Frau, ganz weiß geworden, nach der Angst um ihre Kinder und den vielen Vergewaltigungen. Das Mädchen beschaffte sich einen kleinen Leiterwagen, legte die Mutter darauf und brachte sie in die Wohnung. Beinahe jede Nacht kamen russische Soldaten und holten sich Frauen aus dem Haus, Gisela und Irmgard hörten ihre Schreie."
In Ostpreußen, dem äußersten Vorposten des Reiches, stoßen sowjetische Truppen erstmals auf deutsches Gebiet vor. Nach vier Jahren Krieg, in dem Deutsche im Namen der Ordnung ihren Vernichtungsfeldzug gegen das asiatische Chaos führten, nimmt dieses Chaos jetzt Rache. So wie die deutsche Propaganda die Russen zu Barbaren erklärt hat, sind für die Rotarmisten die Deutschen faschistische Bestien, die mit "heiligem Hass" zu vernichten oder zu demütigen sind.
Und was für eine größere Demütigung gibt es für einen Feind, als wenn er seine Frauen nicht mehr vor Vergewaltigung zu schützen vermag? Die Führung der Roten Armee legte ihren Truppen, die weder Urlaub noch Frontbordells kannten, keine Zügel an, im Gegenteil. Vergewaltigung war auch Bestandteil des sowjetischen Feldzuges, so lange, bis nach den Vereinbarungen von Jalta feststand, dass man mit den Besiegten später in einer Sowjetzone zusammenleben würde.
Ingeborg Jacobs lässt auch einige der beteiligten Sowjetsoldaten zu Wort kommen. Neben den bekannten Äußerungen, die deutschen Frauen hätten selbst ihre Röcke gehoben, stehen die Bewältigungsversuche von Männern wie Solschenizyn und Kopelew, die, ähnlich wie verwandte deutsche Seelen, sich nicht von dem Trauma einer kollektiven Schuld freimachen konnten. Lew Kopelew:
"Wir gehören alle zusammen: der General, der auf dem Bahnhof das Einheimsen deutscher Koffer befehligte, der Pionieroberleutnant, der an den Internationalismus glaubte, die Panzergrenadiere, die hinter der Polin her rannten..., alle, die Königsberg erobern werden, die sterben und verbluten, und alle, die in den Etappen saufen und Frauen quälen. Wir alle gehören zusammen, die Anständigen und die Schufte, die Tapferen und die Feiglinge, die Gutherzigen und die Grausamen."
Nicht wenige der vergewaltigten Frauen gehörten zu der rund halben Million Deutschen, die aus den Ostgebieten in sowjetische Lager verschleppt wurden, dort umkamen oder erst lange nach Kriegsende zurückkehrten. Die Angst vor einem ähnlichen Schicksal trieb insbesondere in Mecklenburg viele Frauen mit ihren Kindern in Massenselbstmorde, allein in Neustrelitz waren es 737.
Und auch unter den über 100.000 Berlinerinnen, die den Vergewaltigungen zum Opfer fielen, hatten nur die wenigsten die innere Stärke und Fähigkeit zur intellektuellen Distanz wie Marta Hiller in ihrem Tagebuch:
"Es klingt wie das Letzte und Äußerste, ist es aber nicht. Ich habe gedacht: 'Diese blöden Männer, die haben diesen Krieg angezettelt. Dann waren sie nicht in der Lage, uns zu verteidigen. Ich denke gar nicht daran, mich umzubringen. Ich will jetzt leben! Ich fühle mich nicht entehrt, und ich werde mir nicht das Leben nehmen!'"
Anonyma spricht die Hoffnung aus, dass die kollektive Form der Vergewaltigung auch kollektiv überwunden werden wird, indem eine Frau der anderen Gelegenheit gibt, darüber zu sprechen und damit "das Erlittene auszuspeien". Wo dies nicht geschehen ist, wird es nicht mehr nachzuholen sein. Aber zumindest die Erinnerung daran aufzubewahren, ist ein Verdienst dieses Buches.
Ingeborg Jacobs: Freiwild. Das Schicksal deutscher Frauen 1945
Propyläen Verlag, Berlin 2008
Sie entschloss sich, über die eigene Vergewaltigung durch zwei russische Soldaten und die Rettung durch einen deutsch sprechenden Offizier zu schreiben. Damals war sie zwölf Jahre alt gewesen.
"Es dauerte nicht lange, da wurde Ruth Irmgard zum Direktor gerufen. Sie hatte den Wettbewerb gewonnen und erhielt aus seiner Hand den ersten Preis, einen Füllfederhalter. Dann sagte er ihr, dass die Zeichenlehrerin sie auf dem Heimweg begleiten werde. Sie fragte das Mädchen aus, Ruth Irmgard berichtete. Sie beendete unser Gespräch mit dem Satz: 'Du darfst zu niemanden darüber sprechen!'"
Auch in ihrer Familie wurde nicht darüber gesprochen. Nur einmal, als es aus Ruth herausbrach, ihre Mutter habe gelächelt, als sie mit dem russischen Kommandanten aus der Scheune kam, hörte sie deren Erklärung, sie habe es für sie getan, weil der Offizier eigentlich die Tochter gewollt hatte.
Es wurde nicht im Osten Deutschlands und nicht im Westen darüber gesprochen. Im Osten nicht, weil aus den "russischen Barbaren" das sozialistische Brudervolk wurde, im Westen, der die Vergewaltigungen nicht am Leib der eigenen Frauen erfahren hatte, waren andere Geschichten gefragt als die vom Elend der Flüchtlinge.
"Die Geschichte ist sehr lästig", konstatiert Marta Hill in ihrem Tagebuch aus dem Berliner Frühling 1945. Nachdem sie es 1954 als "Anonyma" in einem amerikanischen Verlag herausgebracht hat, erscheinen Übersetzungen in den wichtigsten europäischen Sprachen und 1959 schließlich die deutsche Originalausgabe. Sie geht unter. Erst vier Jahrzehnte später war die Zeit reif, das Werk als das herausragende historische und literarische Dokument wahrzunehmen, das es ist, und eine publikumsfreundliche Verfilmung folgen zu lassen.
Ingeborg Jacobs nun hat ein Buch veröffentlicht, das die Gunst der Stunde nutzt, um unseren Blick auf ein tabuisiertes Thema zu lenken, das nach vorsichtigen Schätzungen mehr als zwei Millionen Frauen betraf. Wer allerdings, angeregt durch den Untertitel "Das Schicksal deutscher Frauen 1945", die Hoffnung hegt, eine zusammenfassende Monografie zu dieser Problematik vorliegen zu haben, muss sich weiter gedulden.
Die Autorin wählt ein Verfahren, das sie als Mitarbeiterin an Guido Knopps ZDF-Dokumentationen erfolgreich erprobt hat. In nach den Kriegsschauplätzen gegliederten Kapiteln schildert sie alternierend die Schicksale überlebender Frauen und verknüpft ihre Aussagen mit dem Zeitgeschehen. Das gibt dem Buch den Charakter einer flüssigen, mit dem historischen Verlauf fortschreitenden Erzählung.
Der Nachteil dieses auf persönliche Betroffenheit und allgemeine Aufklärung zielenden Verfahrens ist, dass es für den Leser leicht zu einer Vermischung der Biografien kommt, die es verdient hätten, geschlossen dargelegt zu werden, zumal sie in nicht wenigen Fällen auf schriftlichen Lebenserinnerungen fußen. Der historische Aspekt wiederum droht in einem erzählerischen Ungefähr unterzugehen, das für Quellenangaben und ausführliche Dokumentation keinen Platz lässt.
Am eindruckvollsten wird das Buch dort, wo es tief in ein Geschehen führt, über das wir uns empören, wenn es sich in Bosnien oder im Kongo wiederholt, und uns nun erinnern müssen, dass einmal die eigenen Mütter und Großmütter davon betroffen waren. Königsberg im Winter 1945:
"Eine Woche, nachdem ihre Mutter entführt worden war, hörte Gisela, dass sie ganz in der Nähe, in einem kleinen Auffanglanger in der ehemaligen Fleischerei Norkeweit sei. Als die Zehnjährige nach ihr suchte, ging sie an ihr vorüber. Gisela erkannte ihre Mutter nicht mehr, sie war eine gebrochene Frau, ganz weiß geworden, nach der Angst um ihre Kinder und den vielen Vergewaltigungen. Das Mädchen beschaffte sich einen kleinen Leiterwagen, legte die Mutter darauf und brachte sie in die Wohnung. Beinahe jede Nacht kamen russische Soldaten und holten sich Frauen aus dem Haus, Gisela und Irmgard hörten ihre Schreie."
In Ostpreußen, dem äußersten Vorposten des Reiches, stoßen sowjetische Truppen erstmals auf deutsches Gebiet vor. Nach vier Jahren Krieg, in dem Deutsche im Namen der Ordnung ihren Vernichtungsfeldzug gegen das asiatische Chaos führten, nimmt dieses Chaos jetzt Rache. So wie die deutsche Propaganda die Russen zu Barbaren erklärt hat, sind für die Rotarmisten die Deutschen faschistische Bestien, die mit "heiligem Hass" zu vernichten oder zu demütigen sind.
Und was für eine größere Demütigung gibt es für einen Feind, als wenn er seine Frauen nicht mehr vor Vergewaltigung zu schützen vermag? Die Führung der Roten Armee legte ihren Truppen, die weder Urlaub noch Frontbordells kannten, keine Zügel an, im Gegenteil. Vergewaltigung war auch Bestandteil des sowjetischen Feldzuges, so lange, bis nach den Vereinbarungen von Jalta feststand, dass man mit den Besiegten später in einer Sowjetzone zusammenleben würde.
Ingeborg Jacobs lässt auch einige der beteiligten Sowjetsoldaten zu Wort kommen. Neben den bekannten Äußerungen, die deutschen Frauen hätten selbst ihre Röcke gehoben, stehen die Bewältigungsversuche von Männern wie Solschenizyn und Kopelew, die, ähnlich wie verwandte deutsche Seelen, sich nicht von dem Trauma einer kollektiven Schuld freimachen konnten. Lew Kopelew:
"Wir gehören alle zusammen: der General, der auf dem Bahnhof das Einheimsen deutscher Koffer befehligte, der Pionieroberleutnant, der an den Internationalismus glaubte, die Panzergrenadiere, die hinter der Polin her rannten..., alle, die Königsberg erobern werden, die sterben und verbluten, und alle, die in den Etappen saufen und Frauen quälen. Wir alle gehören zusammen, die Anständigen und die Schufte, die Tapferen und die Feiglinge, die Gutherzigen und die Grausamen."
Nicht wenige der vergewaltigten Frauen gehörten zu der rund halben Million Deutschen, die aus den Ostgebieten in sowjetische Lager verschleppt wurden, dort umkamen oder erst lange nach Kriegsende zurückkehrten. Die Angst vor einem ähnlichen Schicksal trieb insbesondere in Mecklenburg viele Frauen mit ihren Kindern in Massenselbstmorde, allein in Neustrelitz waren es 737.
Und auch unter den über 100.000 Berlinerinnen, die den Vergewaltigungen zum Opfer fielen, hatten nur die wenigsten die innere Stärke und Fähigkeit zur intellektuellen Distanz wie Marta Hiller in ihrem Tagebuch:
"Es klingt wie das Letzte und Äußerste, ist es aber nicht. Ich habe gedacht: 'Diese blöden Männer, die haben diesen Krieg angezettelt. Dann waren sie nicht in der Lage, uns zu verteidigen. Ich denke gar nicht daran, mich umzubringen. Ich will jetzt leben! Ich fühle mich nicht entehrt, und ich werde mir nicht das Leben nehmen!'"
Anonyma spricht die Hoffnung aus, dass die kollektive Form der Vergewaltigung auch kollektiv überwunden werden wird, indem eine Frau der anderen Gelegenheit gibt, darüber zu sprechen und damit "das Erlittene auszuspeien". Wo dies nicht geschehen ist, wird es nicht mehr nachzuholen sein. Aber zumindest die Erinnerung daran aufzubewahren, ist ein Verdienst dieses Buches.
Ingeborg Jacobs: Freiwild. Das Schicksal deutscher Frauen 1945
Propyläen Verlag, Berlin 2008