Aufbruch ins gelobte Land
Auf der Flucht vor Diskriminierung, Ausbeutung und Gewalt zogen zwischen 1914 und 1970 Millionen Afro-Amerikaner aus dem ländlichen Süden in die Ballungszentren des Nordens. Städte wie Chicago und Detroit veränderten sich radikal.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verließen sechs Millionen Amerikaner ihr Zuhause im ländlichen Süden. Man nennt es "the Great Migration", die große Wanderung. Sie suchten ein besseres Leben, ein Leben ohne Armut und ohne Diskriminierung.
Das neue Museum für afro-amerikanische Geschichte und Kultur in Washington widmet der "Great Migration" eine Abteilung. Die große Wanderung fand in zwei Schüben statt, etwa zwischen 1915 und 1940 der erste, zwischen 1944 und 1970 der zweite.
Offiziell fanden die Afro-Amerikaner, die seit dem 17. Jahrhundert als Sklaven in der Landwirtschaft arbeiteten und als Eigentum ihrer weißen Besitzer keinerlei Rechte hatten, 1865 mit dem Ende des Bürgerkrieges ihre Freiheit. Die Realität sah anders aus. Man erfand sogenannte "Jim Crow Laws", Gesetze, die die Trennung der Rassen festschrieben. Sie stellten sicher, dass sich an der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung in den Südstaaten nichts änderte.
Zwar waren die Afro-Amerikaner nicht mehr "Eigentum" der Plantagenbesitzer. Als Pächter, die den Ertrag ihrer kleinen Parzellen für absurd geringe Summen abgeben mussten, gab es für die Schwarzen indes wirtschaftlich kaum Hoffnung. Ein Ausweg blieb – in den meisten Fällen ein Weg ohne Rückkehr.
Das neue Museum für afro-amerikanische Geschichte und Kultur in Washington widmet der "Great Migration" eine Abteilung. Die große Wanderung fand in zwei Schüben statt, etwa zwischen 1915 und 1940 der erste, zwischen 1944 und 1970 der zweite.
Offiziell fanden die Afro-Amerikaner, die seit dem 17. Jahrhundert als Sklaven in der Landwirtschaft arbeiteten und als Eigentum ihrer weißen Besitzer keinerlei Rechte hatten, 1865 mit dem Ende des Bürgerkrieges ihre Freiheit. Die Realität sah anders aus. Man erfand sogenannte "Jim Crow Laws", Gesetze, die die Trennung der Rassen festschrieben. Sie stellten sicher, dass sich an der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung in den Südstaaten nichts änderte.
Zwar waren die Afro-Amerikaner nicht mehr "Eigentum" der Plantagenbesitzer. Als Pächter, die den Ertrag ihrer kleinen Parzellen für absurd geringe Summen abgeben mussten, gab es für die Schwarzen indes wirtschaftlich kaum Hoffnung. Ein Ausweg blieb – in den meisten Fällen ein Weg ohne Rückkehr.
Von Alabama nach Chicago
Timuel Black, geboren 1918, war kaum ein Jahr alt, als seine Eltern aus Alabama nach Chicago zogen.
"Beide Wellen der Great Migration waren Teil eines sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Systems, das Menschen trennte. Das ist nicht fair, niemandem gegenüber."
Zwischen 1910 und 1920 stieg die Zahl der Afro-Amerikaner in Chicago von 44.000 auf rund 125.000. Andere Städte im Norden der USA verzeichneten ähnlichen Zuwachs. Detroit zum Beispiel.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges öffneten sich Arbeitsplätze, die den Schwarzen bis dahin vorenthalten waren. Die Nachfrage nach industriell gefertigten Produkten und nach Lebensmitteln stieg. Auf der anderen Seite hatte sich die Zahl der Einwanderer aus Europa – traditioneller Quell von Arbeitskraft - dramatisch verringert.
Die Unternehmen in Chicago brauchten Arbeiter –fanden sie aber nur unter den Afro-Amerikanern im Süden. Vor dem Ersten Weltkrieg stellten die fleischverarbeitenden Betriebe – der damals größte Wirtschaftszweig in Chicago – Afro-Amerikaner nicht ein. Das hatte weniger mit den Arbeitgebern zu tun als mit den Gewerkschaften, die afro-amerikanische Mitglieder ablehnten. Nun aber gab es Chancen. Der Protest der Gewerkschaften wurde überhört. Die Zuwanderer fanden Jobs, die Männer in den Schlachthöfen, den Stahlwerken und im Baugewerbe, die Frauen in Fabriken, sowie in unterschiedlichsten Dienstleistungen.
"Beide Wellen der Great Migration waren Teil eines sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Systems, das Menschen trennte. Das ist nicht fair, niemandem gegenüber."
Zwischen 1910 und 1920 stieg die Zahl der Afro-Amerikaner in Chicago von 44.000 auf rund 125.000. Andere Städte im Norden der USA verzeichneten ähnlichen Zuwachs. Detroit zum Beispiel.
Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges öffneten sich Arbeitsplätze, die den Schwarzen bis dahin vorenthalten waren. Die Nachfrage nach industriell gefertigten Produkten und nach Lebensmitteln stieg. Auf der anderen Seite hatte sich die Zahl der Einwanderer aus Europa – traditioneller Quell von Arbeitskraft - dramatisch verringert.
Die Unternehmen in Chicago brauchten Arbeiter –fanden sie aber nur unter den Afro-Amerikanern im Süden. Vor dem Ersten Weltkrieg stellten die fleischverarbeitenden Betriebe – der damals größte Wirtschaftszweig in Chicago – Afro-Amerikaner nicht ein. Das hatte weniger mit den Arbeitgebern zu tun als mit den Gewerkschaften, die afro-amerikanische Mitglieder ablehnten. Nun aber gab es Chancen. Der Protest der Gewerkschaften wurde überhört. Die Zuwanderer fanden Jobs, die Männer in den Schlachthöfen, den Stahlwerken und im Baugewerbe, die Frauen in Fabriken, sowie in unterschiedlichsten Dienstleistungen.
Für Familie Black stand vor der Reise nach Chicago noch ein anderer Schritt:
"Meine Großeltern waren Sklaven. Meine Eltern stammten aus dieser Zeit. Meine Eltern sind aus Alabama. Ich wurde am 7. Dezember 1918 in Birmingham geboren, als drittes Kind. Meine Eltern waren aus Angst vor dem Ku Klux Klan nach Birmingham gezogen. In der Stadt fühlten sie sich sicherer als auf dem Land."
Afro-Amerikaner, die es wagten, Rechte einzufordern, mussten in ländlichen Gebieten um ihr Leben fürchten. Größere Orte boten größere Sicherheit – Begegnungen mit weißen Mitbürgern auf Augenhöhe blieben aber auch hier ausgeschlossen, wie Ethan Michaeli bekräftigt, ein Autor aus Chicago.
Bei Nacht und Nebel in den Norden
"Es war eine Kultur der Respektlosigkeit. Afro-Amerikaner mussten die Bürgersteige verlassen, wenn ihnen ein Weißer entgegenkam. Und die Straßen waren damals schmutzig."
Michaeli schrieb ein Buch über den "Defender" – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten Publikationen von und für Afro-Amerikaner. Der "Defender" erschien in Chicago – aber er fand auch im Süden seine Leser. Der Verleger der Zeitung Robert Abott wurde nicht müde, die Vorzüge der Nordstaaten zu preisen. Zunächst mit mäßigem Erfolg.
"Trotz niedriger Löhne, trotz der Verweigerung elementarer Rechte, lebten 80 bis 90 Prozent der Afro-Amerikaner im Süden. In Staaten wie Mississippi und in South Carolina bildeten sie die Mehrheit. Es war ihre Heimat, die sie nicht verlassen wollten – auch dann nicht, wenn im Norden Jobs auf sie warteten."
"Leute wie Robert Abbot ermutigten die Menschen, in den Norden zu ziehen. Mitarbeiter der großen Unternehmen machten im Süden Werbung. Und sie wurden gehört. 1919 zogen meine Eltern nach Chicago. Obwohl es dort kurz zuvor Rassenunruhen gegeben hatte, wollte vor allem meine Mutter weg. Sie fürchtete, man würde meinen Vater im Süden lynchen."
Die Schwarzen verließen ihre Heimat oft bei Nacht und Nebel. Per Bus oder mit der Bahn. Die Illinois Central Railroad durchquerte den Bundesstaat Mississippi. Wer es aus dem Delta heraus schaffte, jener Schwemmlandschaft, die über hunderte von Meilen die Gegend westlich und östlich des großen Flusses prägt, und, zum Beispiel, bis Memphis kam, der gelangte mit dem Zug ohne umzusteigen bis nach Chicago.
Je mehr Afro-Amerikaner im Süden Chicagos eintrafen, desto mehr Weiße zogen aus: ein Prozess, der nicht ohne Gewalt ablief. Zwischen 1917 und 1921 wird von 58 Bombenanschlägen berichtet, Brandstiftungen und Sachbeschädigungen kamen dazu. Dennoch entstand ein neues Viertel. Als "Bronzeville" ging es in die Geschichte der Stadt ein.
Michaeli schrieb ein Buch über den "Defender" – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten Publikationen von und für Afro-Amerikaner. Der "Defender" erschien in Chicago – aber er fand auch im Süden seine Leser. Der Verleger der Zeitung Robert Abott wurde nicht müde, die Vorzüge der Nordstaaten zu preisen. Zunächst mit mäßigem Erfolg.
"Trotz niedriger Löhne, trotz der Verweigerung elementarer Rechte, lebten 80 bis 90 Prozent der Afro-Amerikaner im Süden. In Staaten wie Mississippi und in South Carolina bildeten sie die Mehrheit. Es war ihre Heimat, die sie nicht verlassen wollten – auch dann nicht, wenn im Norden Jobs auf sie warteten."
"Leute wie Robert Abbot ermutigten die Menschen, in den Norden zu ziehen. Mitarbeiter der großen Unternehmen machten im Süden Werbung. Und sie wurden gehört. 1919 zogen meine Eltern nach Chicago. Obwohl es dort kurz zuvor Rassenunruhen gegeben hatte, wollte vor allem meine Mutter weg. Sie fürchtete, man würde meinen Vater im Süden lynchen."
Die Schwarzen verließen ihre Heimat oft bei Nacht und Nebel. Per Bus oder mit der Bahn. Die Illinois Central Railroad durchquerte den Bundesstaat Mississippi. Wer es aus dem Delta heraus schaffte, jener Schwemmlandschaft, die über hunderte von Meilen die Gegend westlich und östlich des großen Flusses prägt, und, zum Beispiel, bis Memphis kam, der gelangte mit dem Zug ohne umzusteigen bis nach Chicago.
Je mehr Afro-Amerikaner im Süden Chicagos eintrafen, desto mehr Weiße zogen aus: ein Prozess, der nicht ohne Gewalt ablief. Zwischen 1917 und 1921 wird von 58 Bombenanschlägen berichtet, Brandstiftungen und Sachbeschädigungen kamen dazu. Dennoch entstand ein neues Viertel. Als "Bronzeville" ging es in die Geschichte der Stadt ein.
Die Afro-Amerikaner kommen, die Weißen gehen
"Die Zuwanderer fanden eine Infrastruktur vor, die sie nutzen konnten. Sie mussten hier nicht die Bürgersteige verlassen, wenn ihnen ein Weißer entgegenkam, sie nutzten die öffentlichen Verkehrsmittel wie alle anderen. Und sie konnten wählen! In Erinnerung an Lincoln, Grant und die anderen Helden der Sklavenbefreiung wählten die Afro-Amerikaner vor allem die Republikaner, deren Partei damals den Bürgermeister stellte. Schon 1915 gab es schwarze Kommunalpolitiker. 1919 zählte die Stadt 50.000 Migranten aus dem Süden. Sogenannte Committee Men organisierten das Wahlverhalten. Das war eine politische Kraft, mit der zu rechnen war."
Michaeli zitiert den Schriftsteller Carl Sandburg, der die schwarzen Migranten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Chicago niederließen, als "mächtigsten Wählerblock der Vereinigten Staaten" bezeichnete. Inzwischen verfügten die Schwarzen über mehr Stimmen als die Einwanderer aus Europa.
Michaeli zitiert den Schriftsteller Carl Sandburg, der die schwarzen Migranten, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Chicago niederließen, als "mächtigsten Wählerblock der Vereinigten Staaten" bezeichnete. Inzwischen verfügten die Schwarzen über mehr Stimmen als die Einwanderer aus Europa.
Bronzeville wurde zu einer Stadt am Rande der Stadt. Die meisten Weißen hatten die Gegend inzwischen verlassen hatten. Eine afro-amerikanische Infrastruktur entstand, mit Geschäften, Dienstleistungen und Kirchen.
"Als sich meine Eltern einigermaßen eingelebt hatten, schrieben sie an Verwandte und Bekannte in den Südstaaten und ermutigten sie, ebenfalls in den Norden zu kommen. Immer mehr von ihnen zogen nach Chicago. Familien- und Freundschaftsbande hielten."
"Wegen der Rassentrennung, die auch in Chicago praktiziert wurde, mussten wir Parallel-Institutionen gründen. Es gab etliche unter uns, die einen weißen Vater hatten. Die brachten Fähigkeiten mit, die ihnen halfen, kleine Geschäfte zu führen. Von Versicherungsagenturen bis zu Friseuren. Weil die weißen Gewerkschaften uns noch immer ablehnten, gründeten wir eigene Arbeitnehmervertretungen. Außerhalb unserer Wohngebiete fanden wir keine Arbeit – also kauften wir außerhalb von Bronzeville auch nicht ein. Unsere Gemeinschaft hielt zusammen. Das galt auch in der Wirtschaftskrise. Wir waren arm, aber wir waren nicht mittellos. Wenn meine Mutter keinen Zucker mehr hatte, borgte sie sich Zucker von der Nachbarin."
Der Boom von Bronzeville
In den 30er-Jahren wuchs die schwarze Bevölkerung in Chicago um rund 45.000 auf 278.000 1940. Bronzeville boomte.
"The community expanded and from the prospective of Afro-American arriving from the South, there was a larger community every year. There was a more prosperous community every year. You can see the concentration of Afro-American professionals and businessmen."
Neben allen wirtschaftlichen und politischen Erfolgen, die die Afro-Amerikaner an Chicagos Südseite verzeichneten, war es vor allem die Unterhaltungsindustrie, die Bronzeville bekannt machte, über die Grenzen der Stadt und über die Grenzen der Rassen hinaus. In ungezählten Restaurants und Klubs spielten Jazz- und Bluesmusiker, die zu Legenden wurden.
Tim Samuelson kümmert sich im Auftrag der Stadt um das historische Erbe von Chicago. Die Klubs, sagt er, hatten ihre eigene Erkennungsmelodie.
"Seit 1926 trat Louis Armstrong im Sunset Café auf."
Auch im nah gelegenen Savoy Ballroom war Louis Armstrong eine feste Größe - neben Count Basie, Duke Ellington und vielen anderen. Im Regal Theatre, einem großen Kino, in dem auch Konzerte stattfanden, waren – dann schon in den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts - B.B.King und Miles Davis zu hören.
Der Zweite Weltkrieg markiert die Zäsur zwischen den beiden Wellen der Great Migration. Die Zahl der Reisenden ins vermeintlich "gelobte Land" im Norden sollte sich bis 1970 auf rund sechs Millionen verfünffachen.
Ein Grund war die nach wie vor in den Südstaaten praktizierte Verweigerung der Bürgerrechte für Afro-Amerikaner – obwohl sich die Erwartungen Vieler nach dem Krieg verändert hatten. Michael Smith, Professor an der Ohio State University, beschreibt den Bewusstseinswandel einer nicht unwichtigen Gruppe.
"Die schwarzen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg und im Koreakrieg dienten, waren Helden. In der Armee genossen sie Freiheiten, die ihnen zuhause verwehrt waren. ‚Bevor ich wie ein Bürger zweiter oder dritter Klasse behandelt werde‘, sagten sie sich, ‚ziehe ich lieber an einen besseren Ort‘."
"The community expanded and from the prospective of Afro-American arriving from the South, there was a larger community every year. There was a more prosperous community every year. You can see the concentration of Afro-American professionals and businessmen."
Neben allen wirtschaftlichen und politischen Erfolgen, die die Afro-Amerikaner an Chicagos Südseite verzeichneten, war es vor allem die Unterhaltungsindustrie, die Bronzeville bekannt machte, über die Grenzen der Stadt und über die Grenzen der Rassen hinaus. In ungezählten Restaurants und Klubs spielten Jazz- und Bluesmusiker, die zu Legenden wurden.
Tim Samuelson kümmert sich im Auftrag der Stadt um das historische Erbe von Chicago. Die Klubs, sagt er, hatten ihre eigene Erkennungsmelodie.
"Seit 1926 trat Louis Armstrong im Sunset Café auf."
Auch im nah gelegenen Savoy Ballroom war Louis Armstrong eine feste Größe - neben Count Basie, Duke Ellington und vielen anderen. Im Regal Theatre, einem großen Kino, in dem auch Konzerte stattfanden, waren – dann schon in den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts - B.B.King und Miles Davis zu hören.
Der Zweite Weltkrieg markiert die Zäsur zwischen den beiden Wellen der Great Migration. Die Zahl der Reisenden ins vermeintlich "gelobte Land" im Norden sollte sich bis 1970 auf rund sechs Millionen verfünffachen.
Ein Grund war die nach wie vor in den Südstaaten praktizierte Verweigerung der Bürgerrechte für Afro-Amerikaner – obwohl sich die Erwartungen Vieler nach dem Krieg verändert hatten. Michael Smith, Professor an der Ohio State University, beschreibt den Bewusstseinswandel einer nicht unwichtigen Gruppe.
"Die schwarzen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg und im Koreakrieg dienten, waren Helden. In der Armee genossen sie Freiheiten, die ihnen zuhause verwehrt waren. ‚Bevor ich wie ein Bürger zweiter oder dritter Klasse behandelt werde‘, sagten sie sich, ‚ziehe ich lieber an einen besseren Ort‘."
Im Süden verdrängen Maschinen die Arbeitskräfte
Der entscheidende Grund für die zweite Migrationswelle war ein wirtschaftlicher: mechanische Baumwollpflückmaschinen wurden eingeführt. Die neuen Maschinen fuhren pro Tag eine Ernte ein, für die es bislang rund 100 Arbeitskräfte brauchte. Das Pachtsystem brach zusammen. Den Arbeitern und ihren Familien blieb nichts als die Wanderschaft.
"Die Menschen, die sich während der ersten Welle der Great Migration auf die Reise machten, konnten wenigstens lesen und schreiben; einige sogar rechnen. Bei denen, die im Lauf der zweiten Welle ankamen, war das nicht mehr der Fall. Als sie im Süden keine Arbeit mehr fanden, blieb ihnen nichts anderes übrig als die Wanderung in die Städte des Nordens."
Die Geographie der Vereinigten Staaten wurde neu vermessen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug der Anteil der Afro-Amerikaner in Chicago vier Prozent. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Zahl auf mehr als 20 Prozent, von 278.000 im Jahr 1940 auf 492.000 zehn Jahre später.
Mit der Migration änderte sich das Sozialgefüge im Süden. Clay Motley von der Gulf Coast University in Florida beschreibt eine, wie er sagt, "schräge Dynamik", die nun ihr Ende fand.
"Die Menschen, die sich während der ersten Welle der Great Migration auf die Reise machten, konnten wenigstens lesen und schreiben; einige sogar rechnen. Bei denen, die im Lauf der zweiten Welle ankamen, war das nicht mehr der Fall. Als sie im Süden keine Arbeit mehr fanden, blieb ihnen nichts anderes übrig als die Wanderung in die Städte des Nordens."
Die Geographie der Vereinigten Staaten wurde neu vermessen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug der Anteil der Afro-Amerikaner in Chicago vier Prozent. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Zahl auf mehr als 20 Prozent, von 278.000 im Jahr 1940 auf 492.000 zehn Jahre später.
Mit der Migration änderte sich das Sozialgefüge im Süden. Clay Motley von der Gulf Coast University in Florida beschreibt eine, wie er sagt, "schräge Dynamik", die nun ihr Ende fand.
"Die weißen Plantagenbesitzer verzichteten in der ersten Phase der Migration ungern auf die schwarzen Arbeitskräfte. Sie versuchten sogar, die Afro-Amerikaner vor Übergriffen zu schützen. Der Klu Klux Klan, die Rassisten – das waren die ärmeren Weißen. Es kam zu Spannungen. Die Armen warfen den Reichen vor, die Afro-Amerikaner zu protegieren. Mit der Mechanisierung der Landwirtschaft änderte sich das. Einerseits wurden die afro-amerikanischen Arbeiter weitgehend überflüssig – andererseits begannen die Schwarzen, sich zu organisieren und auch in den Südstaaten ihre Rechte einzuklagen. Die Great Migration wurde so für die meisten Weißen – arm wie reich - zu einer willkommenen Gelegenheit, ein Problem los zu werden."
Ganz so einfach war es nicht. In der zweiten Hälfte der 50er-Jahre erreichten die Forderungen nach gleichen Rechten für alle Amerikaner auch den Süden. 1954 hatte der Supreme Court die Rassentrennung in öffentlichen Schulen und Universitäten als verfassungswidrig bezeichnet. Die "Jim Crows Gesetze", mit denen die Schwarzen seit dem Ende des Bürgerkrieges diskriminiert wurden, begannen zu bröckeln. Der Bus-Boykott in Montgomery, die "Freedom Riders", der gewaltlose Feldzug von Martin Luther King: die Zeichen standen auf Veränderung.
Der Alltag bleibt geprägt von Diskriminierung
Der Ruf nach Bürgerrechten und einem Ende der Rassentrennung ließ sich nicht mehr überhören. Dennoch blieb der Alltag der Afro-Amerikaner geprägt von Diskriminierung. Michael Smith’s Familie zog 1956 von Mississippi nach Chicago. Smith erinnert sich an Besuche als Kind in der Heimat.
"Dort sah ich die Wasserspender – die einen für Weiße, die anderen für Farbige. Ich erinnere mich daran, dass meine Großmutter, sie war Ende 70, mit einer jungen Weißen sprach. Die junge Frau mag Mitte 20 gewesen sein, und meine Großmutter war fast 80. Die junge Frau nannte meine Großmutter Lizzie, meine Großmutter sprach ihr Gegenüber als Miss Ann an. Als Kind aus Chicago fragte ich mich: Wieso nutzt die weiße Frau den Vornamen meiner Großmutter, während diese höflich von Miss Ann spricht?"
Die Städte im Norden waren indes nicht mehr das wirtschaftliche "Mekka", das bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Arbeitskräfte suchte. Die Zuwanderer traten in einen Wettbewerb mit den Weißen – die dann in der Regel den Zuschlag bekamen, wenn es um die sogenannten "guten Jobs" ging. Außerhalb von Bronzeville und einigen wenigen anderen Distrikten ging für die Afro-Amerikaner auch in Chicago wenig.
Bronzeville erstreckte sich von der Cermac Road im Norden zur 67. Straße im Süden. Im Osten reichte es an das Westend von Cottage Grove, und im Westen stieß die Gegend an den Dan-Ryan-Expressway. Eine bis in die 50er-Jahre durchaus ansehnliche Gegend, sagt der 99 Jahre alte Timuel Black.
"So if you travel through Bronzeville and you look at the housing stock, that´s not slum housing."
Nach der Ankunft der neuen Generation der Great Migration sollte sich das bald ändern. Tim Samuelson warnt als offiziell von der Stadt bestellter Historiker vor dem Verfall ganzer Viertel.
"Dort sah ich die Wasserspender – die einen für Weiße, die anderen für Farbige. Ich erinnere mich daran, dass meine Großmutter, sie war Ende 70, mit einer jungen Weißen sprach. Die junge Frau mag Mitte 20 gewesen sein, und meine Großmutter war fast 80. Die junge Frau nannte meine Großmutter Lizzie, meine Großmutter sprach ihr Gegenüber als Miss Ann an. Als Kind aus Chicago fragte ich mich: Wieso nutzt die weiße Frau den Vornamen meiner Großmutter, während diese höflich von Miss Ann spricht?"
Die Städte im Norden waren indes nicht mehr das wirtschaftliche "Mekka", das bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Arbeitskräfte suchte. Die Zuwanderer traten in einen Wettbewerb mit den Weißen – die dann in der Regel den Zuschlag bekamen, wenn es um die sogenannten "guten Jobs" ging. Außerhalb von Bronzeville und einigen wenigen anderen Distrikten ging für die Afro-Amerikaner auch in Chicago wenig.
Bronzeville erstreckte sich von der Cermac Road im Norden zur 67. Straße im Süden. Im Osten reichte es an das Westend von Cottage Grove, und im Westen stieß die Gegend an den Dan-Ryan-Expressway. Eine bis in die 50er-Jahre durchaus ansehnliche Gegend, sagt der 99 Jahre alte Timuel Black.
"So if you travel through Bronzeville and you look at the housing stock, that´s not slum housing."
Nach der Ankunft der neuen Generation der Great Migration sollte sich das bald ändern. Tim Samuelson warnt als offiziell von der Stadt bestellter Historiker vor dem Verfall ganzer Viertel.
Die Grenzen verlaufen nun zwischen Arm und Reich
"Die South Side war einmal eine wohlhabende Gegend. Die Weißen, die hier lebten, bauten große, stabile Häuser. Als die Afro-Amerikaner im Verlauf der ersten Phase der Great Migration immer näher kamen, verließen die Weißen das Viertel. Die Schwarzen übernahmen die schönen Häuser. Die zweite Welle der Zuzügler veränderte die Lage abermals. Den gut situierten Schwarzen der älteren Generation passten die oft wenig gebildeten und armen Leute aus dem Delta nicht, die sich nun hier niederließen. Sie zogen ebenfalls weg, die South Side wechselte wieder ihr Gesicht."
Die Trennung verlief nicht mehr nur zwischen den Rassen, sie verlief auch entlang ökonomischer Gegensätze in der afro-amerikanischen "community". Timuel Black:
"Als die Jobs verschwanden, wurden die Leute abhängig von Sozialhilfe. Ein Netz, das alle auffing, gab es nicht. Jeder machte sein eigenes Ding. Meine Kinder, also die Kinder der ersten Zuwanderung, waren da schon weg und genossen ihre Ausbildung. Mit den Kindern der zweiten Great Migration hatten sie nichts mehr zu tun."
Die Trennung verlief nicht mehr nur zwischen den Rassen, sie verlief auch entlang ökonomischer Gegensätze in der afro-amerikanischen "community". Timuel Black:
"Als die Jobs verschwanden, wurden die Leute abhängig von Sozialhilfe. Ein Netz, das alle auffing, gab es nicht. Jeder machte sein eigenes Ding. Meine Kinder, also die Kinder der ersten Zuwanderung, waren da schon weg und genossen ihre Ausbildung. Mit den Kindern der zweiten Great Migration hatten sie nichts mehr zu tun."
Es folgte eine Entwicklung, die das Leben der Afro-Amerikaner bis heute prägt, nicht nur in Chicago. Die Städte veränderten sich – wer es sich leisten konnte, verließ die überfüllten "inner Cities", gleich welcher Hautfarbe man war.
Zwischen 1975 und 1985 verdoppelte sich in den Vereinigten Staaten die Zahl der Afro-Amerikaner, die in den Vorstädten lebten, auf sieben Millionen. Planer und Politiker verständigten sich auf ein Modell, das, so der Stadthistoriker Tim Samuelson, den Innenstädten wenig Gutes versprach.
"Die weißen Hausbesitzer ließen ihre Immobilien verfallen. Zugleich versuchten sie, den Wohnraum zu zerstückeln, um möglichst großen Profit zu erreichen. Das Ergebnis: zu viele Menschen auf zu wenigen Quadratmetern in einer Umgebung, in der sich niemand mehr um eine funktionierende Infrastruktur kümmerte. Die Verhältnisse wurden unerträglich. Als ‚Lösung‘ errichtete die Stadt Wohnblocks, mehrstöckige Betonburgen, um die sich aber – einmal bewohnt - auch niemand mehr kümmerte. Hauptsache, die Menschen waren irgendwo untergebracht. So etwas löst die Probleme nicht, im Gegenteil, es schafft neue Unruhe. Mit einer modernen Alternative für den innerstädtischen Raum, von der einige Planer mit wohlwollender Naivität sprachen, hatten die neuen tristen Wohnblocks nichts zu tun."
Die meisten Schwarzen leben prekär
Während das "gelobte Land" im Norden für eine Minderheit der Afro-Amerikaner ökonomische Stabilität und damit bessere Aussichten auf die Zukunft schuf, blieb die Lage für die Mehrheit der Schwarzen prekär. In Chicago galt das vor allem für jene, die den Süden der Stadt nicht verlassen konnten oder wollten.
Der Autor Ethan Michaeli erkennt keinen Weg, auf dem der Abstieg zu vermeiden gewesen wäre.
"1967/68 gab es Bronzeville nicht mehr. Man konnte die Gegend zwar noch so nennen; aber die Menschen, die hier lebten und in Bronzeville eine funktionierende Gemeinschaft schufen, waren Teil einer Generation. Sie waren erfolgreich sowohl wirtschaftlich als darin, ihre Bürgerrechte durchzusetzen. Als diese Generation Bronzeville verließ, verfiel die Gegend. Die Stadt Chicago hatte keine Idee, was auf der South Side geschehen sollte. Die gewachsene Wohnstruktur wurde nicht erhalten. Menschen, die ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten, erhielten keine Unterstützung. Die Mittel flossen stattdessen an die neuen Hausbesitzer in den Vorstädten."
In den 60er-Jahren war die Zahl der Afro-Amerikaner in Chicago noch einmal um 300.000 gestiegen – dann folgte der Verfall. In den folgenden rund 30 Jahren verlor das ehemalige Bronzeville 75 Prozent seiner Bevölkerung.
Wer heute durch das Gebiet fährt, sieht verlassene Straßen, zerfallende Häuser, von Zäunen umsäumte Wohnblocks – auf den freien Flächen, und davon gibt es etliche in Süden Chicagos, stapelt sich zwischen verlassenen Autowracks der Müll. Die Gewalt in den Städten, so Professor Smith aus Ohio, werde vor allem von der Republikanischen Partei instrumentalisiert.
"Hier wird viel übertrieben. Die Medien und Politiker wie Donald Trump sprechen von ‚innerstädtischen Kampfzonen‘. Alles Quatsch. Trump und seine Freunde nutzen die Angst, um drakonische Gesetze zu schaffen, die ihnen nutzen. Der Gewalt lässt sich so nicht beikommen."
Der Autor Ethan Michaeli erkennt keinen Weg, auf dem der Abstieg zu vermeiden gewesen wäre.
"1967/68 gab es Bronzeville nicht mehr. Man konnte die Gegend zwar noch so nennen; aber die Menschen, die hier lebten und in Bronzeville eine funktionierende Gemeinschaft schufen, waren Teil einer Generation. Sie waren erfolgreich sowohl wirtschaftlich als darin, ihre Bürgerrechte durchzusetzen. Als diese Generation Bronzeville verließ, verfiel die Gegend. Die Stadt Chicago hatte keine Idee, was auf der South Side geschehen sollte. Die gewachsene Wohnstruktur wurde nicht erhalten. Menschen, die ihre Miete nicht mehr bezahlen konnten, erhielten keine Unterstützung. Die Mittel flossen stattdessen an die neuen Hausbesitzer in den Vorstädten."
In den 60er-Jahren war die Zahl der Afro-Amerikaner in Chicago noch einmal um 300.000 gestiegen – dann folgte der Verfall. In den folgenden rund 30 Jahren verlor das ehemalige Bronzeville 75 Prozent seiner Bevölkerung.
Wer heute durch das Gebiet fährt, sieht verlassene Straßen, zerfallende Häuser, von Zäunen umsäumte Wohnblocks – auf den freien Flächen, und davon gibt es etliche in Süden Chicagos, stapelt sich zwischen verlassenen Autowracks der Müll. Die Gewalt in den Städten, so Professor Smith aus Ohio, werde vor allem von der Republikanischen Partei instrumentalisiert.
"Hier wird viel übertrieben. Die Medien und Politiker wie Donald Trump sprechen von ‚innerstädtischen Kampfzonen‘. Alles Quatsch. Trump und seine Freunde nutzen die Angst, um drakonische Gesetze zu schaffen, die ihnen nutzen. Der Gewalt lässt sich so nicht beikommen."
Diskriminierung gibt es bis heute
Mit der Durchsetzung der Bürgerrechte auch im Süden der USA und dem Fortzug oder Verfall großer Industriezweige im Norden endete die Great Migration. Hat die Reise ins "gelobte Land" ihr Ziel erreicht? Die Antwort des Autors Ethan Michaeli ist zwiespältig.
"Soziale und juristische Diskriminierung von Weißen gegenüber Afro-Amerikanern gab und gibt es überall in den Vereinigten Staaten – bis heute. In Chicago und anderorts herrschte an den Schulen mehr oder weniger strikte Rassentrennung – nicht weil sie gesetzlich festgeschrieben war, sondern weil sie von den Betroffenen praktiziert wurde. Was die Verweigerung elementarer Bürgerrechte angeht, sind die Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden nicht groß.
Wir beobachten hier wie dort unverhältnismäßige Polizeigewalt, wir beobachten wirtschaftliche und soziale Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und im Immobiliensektor. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied. Im Norden sind die Afro-amerikanischen Communities sehr aktiv. Chicago ist da das beste Beispiel. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gründeten die Schwarzen hier Netzwerke, mit deren Hilfe sie sich Stück für Stück von den ´Jim Crow`-Gesetzen emanzipieren konnten."
Michael Smith aus Ohio verbindet politische Fortschritte mit dem Hinweis auf die Kraft der Kunst.
"Ohne die Great Migration hätte die amerikanische Kultur weltweit deutlich weniger Einfluss. Jazz, Blues und Rock `n` Roll entstanden als Folge. Menschen erinnern sich an vergangene Zeiten mit Hilfe von Literatur, Kunst und Musik. Was die Afro-Amerikaner betrifft, geht das noch weiter. Ohne diese Erinnerung wäre auch die politische Macht, die Schwarze ausüben, nicht entstanden. Als die Weißen begannen, sich mit der Literatur und der Musik der Afro-Amerikaner zu befassen, merkten sie, dass diese Leute auch Städte führen und ihren Kindern etwas beibringen konnten. Menschliches Miteinander kann nur durch gemeinsam geschätzte Kultur entstehen. Richard Wright und James Baldwin hätten sonst nie eine Chance gehabt."
Das letzte Wort gehört Timuel Black, fast 100 Jahre alt und noch kein bisschen müde. Der Kampf, sagt er, geht weiter.
"Ich fühle mich für die Kinder und Enkeln der zweiten Great Migration verantwortlich. Sie sollen die gleichen Möglichkeiten haben wie die Weißen. In unseren Gemeinden sollten Schusswaffen verboten werden – nur so kriegen wir auch den Rauschgifthandel in den Griff. Ich wünsche mir die Integration zwischen Rassen, zwischen sozialen Klassen und zwischen unterschiedlichen Kulturen. Experimente, in denen benachteiligte Kinder die Schulbank gemeinsam mit privilegierten Kindern drückten, machen mir Hoffnung. Die Kids aus den Ghettos fanden Anschluss – die Gegensätze verringerten sich. So etwas treibt mich noch immer an."
"Soziale und juristische Diskriminierung von Weißen gegenüber Afro-Amerikanern gab und gibt es überall in den Vereinigten Staaten – bis heute. In Chicago und anderorts herrschte an den Schulen mehr oder weniger strikte Rassentrennung – nicht weil sie gesetzlich festgeschrieben war, sondern weil sie von den Betroffenen praktiziert wurde. Was die Verweigerung elementarer Bürgerrechte angeht, sind die Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden nicht groß.
Wir beobachten hier wie dort unverhältnismäßige Polizeigewalt, wir beobachten wirtschaftliche und soziale Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und im Immobiliensektor. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied. Im Norden sind die Afro-amerikanischen Communities sehr aktiv. Chicago ist da das beste Beispiel. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gründeten die Schwarzen hier Netzwerke, mit deren Hilfe sie sich Stück für Stück von den ´Jim Crow`-Gesetzen emanzipieren konnten."
Michael Smith aus Ohio verbindet politische Fortschritte mit dem Hinweis auf die Kraft der Kunst.
"Ohne die Great Migration hätte die amerikanische Kultur weltweit deutlich weniger Einfluss. Jazz, Blues und Rock `n` Roll entstanden als Folge. Menschen erinnern sich an vergangene Zeiten mit Hilfe von Literatur, Kunst und Musik. Was die Afro-Amerikaner betrifft, geht das noch weiter. Ohne diese Erinnerung wäre auch die politische Macht, die Schwarze ausüben, nicht entstanden. Als die Weißen begannen, sich mit der Literatur und der Musik der Afro-Amerikaner zu befassen, merkten sie, dass diese Leute auch Städte führen und ihren Kindern etwas beibringen konnten. Menschliches Miteinander kann nur durch gemeinsam geschätzte Kultur entstehen. Richard Wright und James Baldwin hätten sonst nie eine Chance gehabt."
Das letzte Wort gehört Timuel Black, fast 100 Jahre alt und noch kein bisschen müde. Der Kampf, sagt er, geht weiter.
"Ich fühle mich für die Kinder und Enkeln der zweiten Great Migration verantwortlich. Sie sollen die gleichen Möglichkeiten haben wie die Weißen. In unseren Gemeinden sollten Schusswaffen verboten werden – nur so kriegen wir auch den Rauschgifthandel in den Griff. Ich wünsche mir die Integration zwischen Rassen, zwischen sozialen Klassen und zwischen unterschiedlichen Kulturen. Experimente, in denen benachteiligte Kinder die Schulbank gemeinsam mit privilegierten Kindern drückten, machen mir Hoffnung. Die Kids aus den Ghettos fanden Anschluss – die Gegensätze verringerten sich. So etwas treibt mich noch immer an."