Gründung der Gruppe 47

Offene Diskussion gegen die Verdrängung

Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günther Eich 1952 während der Tagung der Gruppe 47 (v.lks).
Heinrich Böll, Ilse Aichinger und Günther Eich während der Tagung der Gruppe 47 im Jahr 1952 © picture alliance / dpa
Von Helmut Böttiger |
Die Gruppe 47 war die wohl einflussreichste Schriftstellervereinigung, die es in Deutschland jemals gab: gegründet eher zufällig vor 70 Jahren am Bannwaldsee bei Füssen. Zu ihrem Wesen gehörte die offene Diskussion - etwas, woran man in Deutschland nicht mehr gewöhnt war.
"Wir waren ja keine Samariteranstalt. Wir wollten die deutsche Literatur wieder lebendig machen, die Nachkriegsliteratur."
Hans Werner Richter, der Chef der Gruppe 47, blickt auf die Anfänge dieser enorm einflussreichen Schriftstellervereinigung zurück. In den 60er-Jahren definierte sie mit Autoren wie Günter Grass, Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger oder Ingeborg Bachmann den bundesdeutschen Literaturbetrieb. Doch davon war an diesem Wochenende vom 6. auf den 7. September 1947 am Bannwaldsee bei Füssen noch nicht einmal in Ansätzen etwas zu ahnen. Es waren völlig unbekannte Schriftsteller, die sich hier trafen, um über die Möglichkeiten von Gegenwartsliteratur nach dem Geschichtsbruch durch die Nationalsozialisten zu sprechen.
"Man muss sich einmal vorstellen – wir waren damals 20, 22, 24 Jahre. Wir haben überhaupt nichts von einer literarischen Welt, die außerhalb der uns zugänglichen gelegen hat, gewusst. Wir kamen nach '45, ausgespuckt von der Weltgeschichte."

Fließende Grenzen zwischen Literatur- und Gesellschaftskritik

Der spätere Verleger Heinz Friedrich gehörte zu dem guten Dutzend Teilnehmer der ersten Tagung. Am bekanntesten ist heute davon noch am ehesten Wolfdietrich Schnurre, und es ging häufig um deutsche Kriegserlebnisse. Doch man darf sich nicht täuschen: Es gab auch ganz andere Perspektiven. Der Publizist Walter Maria Guggenheimer etwa kam in der Uniform der gaullistischen Widerstandsarmee an den Bannwaldsee. Die Gastgeberin der Tagung, Ilse Schneider-Lengyel, hatte als Emigrantin im Paris der 30er-Jahre gelebt, einen ungarischen Juden geheiratet und war stark von Surrealismus und Symbolismus beeinflusst. Und bei den bald hinzukommenden jüngeren Autoren der Gruppe 47 war nicht mehr der realistische Hemingway, sondern Franz Kafka der Autor, dem am meisten nachgeeifert wurde. Vor allem aber gehörte zum Wesen der Gruppe 47 die offene Diskussion, etwas, woran man in Deutschland überhaupt nicht mehr gewöhnt war. Diesen Schriftstellern ging es um etwas:
"Und dazu brauchen Sie schon scharfe Kritik, und da können Sie nicht mit Rücksichten arbeiten, das ist unmöglich."
Die Grenzen zwischen Literaturkritik und Gesellschaftskritik waren fließend. Die Gruppe 47 machte 1950 Günter Eich, den bedeutendsten Hörspielautor seiner Zeit, zu ihrem ersten Preisträger: Er prangerte die Praxis der Verdrängung bei den Wirtschaftswunderdeutschen am heftigsten an. Es folgte gleich im Jahr darauf der bis dahin völlig unbekannte und mittellose Heinrich Böll. Langsam steigerte diese lose Schriftstellervereinigung, die nur ein- oder zweimal im Jahr zusammenkam und keine schriftliche Satzung hatte, ihre Bedeutung. Sie wurde zu einer atmosphärischen Opposition unter der Kanzlerschaft Konrad Adenauers. Auch der große Lyriker Paul Celan wurde durch die Gruppe 47 berühmt, und der Auftritt von Günter Grass mit der "Blechtrommel" wurde 1958 dann zu einem literaturgeschichtlichen Ereignis.
"Das eigentliche Erlebnis ist für mich auch unter anderem ein Lernerlebnis gewesen: diese vermittelte Toleranz, das Zuhören-Müssen und dann auch mehr oder weniger –Können, und das artikulierte Sprechen, wenn etwas gefällt oder nicht gefällt."

Ende als ein Phänomen von Markt und Macht

In der Literatur wurden die Fragen gestellt, die von den herrschenden Politikern so nicht gestellt wurden. Im Jahr 1959 erschienen gleichzeitig die "Blechtrommel", Uwe Johnsons "Mutmaßungen über Jakob" und Heinrich Bölls "Billard um halb zehn". Nicht nur der englische "Observer" konstatierte, dass die bedeutendste Literatur in Europa zur Zeit in der Bundesrepublik entstünde. Doch ihr großer Erfolg schien die Gruppe 47 dann auch von innen zu zerstören. Peter Handke zeigte mit seinem spektakulären Auftritt in Princeton 1966, dass es in erster Linie nur noch um den Literaturbetrieb ging. Die Gruppe 47, angetreten als eine zentrale Instanz der Demokratisierung der frühen Bundesrepublik, endete als ein Phänomen von Markt und Macht. Die Literatur war im allgemeinen Wirtschaftsleben angekommen.
Auch Jürgen Becker, der letzte Preisträger der Gruppe im Jahr 1967, spürte das.
"Es war, wie wenn Sepp Herberger einen in die Nationalmannschaft beruft, das kam einem als junger Autor so vor."
Die Tagung in der fränkischen Pulvermühle im Oktober 1967, mitten in der Studentenbewegung, blieb die letzte der Gruppe 47. Ihre verschiedenen Fraktionen waren endgültig auseinandergebrochen.
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