Han Kang:"Menschenwerk"
Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee
Aufbau-Verlag, Berlin 2017
214 Seiten, 20,00 Euro
Eine große Erzählung über Grausamkeit und Würde
In ihrem neuen Roman erzählt die südkoreanische Schriftstellerin die Geschichte der Studentenproteste 1980 in ihrer Heimatstadt Gwangju, die die Militärregierung mit einem Massaker zerschlug: Ein Roman von atmosphärischer Dichte, der den Leser fassungslos zurücklässt.
Bis zum letzten Jahr kannte hier niemand die südkoreanische Autorin Han Kang. Dann wurde ihr Roman "Die Vegetarierin" mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet. Er erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich danach sehnt, aus einengenden Konventionen auszubrechen: Von einem Tag auf den anderen weigert sie sich, Fleisch zu essen, beginnt ein Verhältnis mit ihrem Schwager - und verwandelt sich langsam in eine Pflanze.
"Die Vegetarierin" sorgte für Furore. Nun ist der neue Roman von Han Kang erschienen: "Menschenwerk". Darin führt die Autorin den Leser zurück in die jüngere Vergangenheit Koreas. Und wir lernen viel über die Verfasstheit dieses Landes, das uns zuletzt nur noch in Zusammenhang mit nordkoreanischen Raketentests beschäftigt hat. Wer weiß schon, dass in der Stadt Gwangju im Mai 1980 Studenten für Bürgerrechte demonstrierten? Dass der damalige südkoreanische Militärmachthaber Chun Doo-Hwan seine Truppen wahllos in die Menge schießen ließ? Als sich in den folgenden Tagen die Bevölkerung der Stadt mit den Studenten solidarisierte, setzten die Soldaten ihr Massaker fort und töteten bis zu zweitausend Menschen.
Was ist Menschlichkeit und wie lässt sie sich bewahren?
In mehreren Kapiteln kommen Han Kangs Protagonisten, jene, die das Massaker miterlebten, zu Wort. Jeder erzählt seine Geschichte, und von Kapitel zu Kapitel greifen diese Geschichten immer mehr ineinander. Sie verdichten sich zu einer großen Erzählung über Grausamkeit und Würde, die Zerstörung des Fleisches und die Feinheit der Seelen. Die Menschen sprechen zu sich und zu anderen, meist in der zweiten Person. "Du", das ist ein Toter, ein Leser, ein Überlebender oder der, der man war vor den beschriebenen Ereignissen. Und in jeder Erzählung scheint die Frage auf: was ist Menschlichkeit und (wie) kann man sie bewahren?
Im Mittelpunkt steht der der 15-jährige Dong Ho, ein Schüler, der mit einem gleichaltrigen Freund in einen Demonstrationszug gerät und es sich nicht verzeihen kann, in dem Augenblick, als die ersten Schüsse fallen, dessen Hand loszulassen. Der Freund stirbt. Später hilft Dong Ho, die Getöteten zu bergen und in eine Schule zu bringen, wo Verwandte sie identifizieren können. Dabei lernt er andere Helfer kennen: den Studenten Jin Su, der den Widerstand organisiert, eine gewerkschaftlich engagierte Schneiderin, eine achtzehnjährige Schülerin, die sich beide ebenfalls um die Toten kümmern. Als die Soldaten schließlich auch die Schule stürmen, wird Dong Ho erschossen. Die anderen überleben. Ihre Erzählungen sind Rückblicke, datiert auf die Folgejahre des Massakers. Von Haft und Folter, Depression, Einsamkeit und Schuldgefühlen wird berichtet. Und von der Unmöglichkeit, normal weiterzuleben.
Han Kang stammt selbst aus Gwangju
Im Epilog spricht die Autorin Han Kang selbst. Sie ist in Gwangju geboren. Vor dem Massaker waren ihre Eltern nach Seoul gezogen und hatten ihr Haus an die Familie von Dong Ho verkauft. Es ist eine reale Figur, die zum Auslöser für den Roman wurde, und tatsächlich klingt Han Kangs Sprache sehr sachlich, ihre Sätze sind kurz. Aber durch ihr enormes Vermögen dabei auch sinnliche, stille, poetische und mitunter surreale Bilder zu schaffen – eines der anrührendsten: der Monolog einer Seele, die sich vergeblich bemüht von einem der verwesenden Körper auf einem Leichenhaufen loszukommen - ist dieser Roman von einer atmosphärischen Dichte, die den Leser fassungslos zurücklässt.