Hannah Arendt: "Wie ich einmal ohne dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen. Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff"
Hg. von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann
Piper, München 2017
688 Seiten, 38,00 Euro
Briefe voller Zuneigung und Liebe
Während Hannah Arendt von August 1949 bis März 1950 durch Europa reist, kämpft ihre Studienfreundin Hilde Fränkel unverzagt gegen ihre Krebs-Erkrankung. Ihr Briefwechsel aus dieser Zeit ist der Höhepunkt des empfehlenswerten Bandes "Wie ich einmal ohne dich leben soll".
Um gar nicht erst herumzudrucksen: Ein "Briefwechsel", der nur Briefe eines Schreibers enthält, ist kein Briefwechsel. Wird er dennoch so angepriesen, handelt es sich um eine Mogelpackung. Und mit einer solchen beginnt der im übrigen vorzüglich editierte Band "Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen". Wir lesen über 160 Seiten ausschließlich Briefe von Anna Weil, der Jugendfreundin Hannah Arendts aus Königsberger Zeiten. Während Arendt 1941 aus dem französischen Exil nach New York flüchten konnte, überlebte Weil mittellos in Südfrankreich und machte später Karriere in europäischen Institutionen. In Weils Briefen an Arendt entfalten sich drei Jahrzehnte Zeitgeschichte aus jüdischer Perspektive und die Innenansichten der lebenslangen Freundschaft. Die Intimität mit Anna, so schwärmte Arendt gegenüber ihrem zweiten Mann Heinrich Blücher, sei "wie ein warmes Tuch über den Schultern".
Anne Weil – die "beste Freundin"
Tatsächlich lässt sich der gesamte Band als Quellen-Studie zu Arendts anspruchsvollem Begriff der Freundschaft lesen. Darauf legen die Herausgeberinnen Ingeborg Nordmann und Ursula Lutz viel Wert. Arendt bezeichnete Weil als "beste Freundin", obwohl stets eine letzte Distanz übrig blieb. Den Grund dafür hat Arendt positiv formuliert: An Weil schätze sie die ihr selbst fremde Fähigkeit, "sich nie ganz zu riskieren". Gegenteiliges gilt für Arendts Freundschaft mit Hilde Fränkel, die sie aus Frankfurter Studien-Zeiten Anfang der 30er-Jahre kannte und in New York wiedergetroffen hat.
Der dokumentierte Briefwechsel reicht nur von August 1949 bis März 1950. Arendt reist da gerade durch Europa, während Fränkel unverzagt gegen ihre Krebs-Erkrankung kämpft: "Ich habe so viel dope, dass ich immer die Engel im Himmel pfeifen höre." Arendt, die Intellektuelle par excellence, schätzt an Fränkel, die selbst intellektuelle Neigungen hat, dass sie "keine Intellektuelle" sei, dafür aber "erotisch genial veranlagt". Wie das zu verstehen ist, sei dahingestellt. Fränkel jedenfalls erfreut sich an Arendts Herz und Hirn gleichermaßen: "Du bist der einzige Mensch in meinem Leben, zu dem ich voll und ganz ja sage. Entweder fehlt das Menschliche oder das Geistige. Du hast alles in vollstem Maße." Arendt entgegnet: "Wie ich einmal ohne Dich leben soll..." Auf ihre Veranlassung hin schreibt Martin Heidegger ein Poem für Fränkel: "Tod ist das Gebirg des Seyns / im Gedicht der Welt." Im Juni 1950 stirbt Fränkel, bis zuletzt von Arendt begleitet.
Das zarte Monument steht für sich
Der Briefwechsel Arendt-Fränkel, Höhepunkt des Bandes, steht als zartes Monument für sich – ergreifend auch für Leser ohne näheres Arendt-Interesse. Das wiederum ist nützlich, um aus den weitgehend ohne Arendts Schreiben überlieferten Briefwechseln mit der Journalistin Charlotte Beradts, der Lektorin Rose Feitelson und der Verlegerin Helen Wolff Gewinn zu ziehen. Viel Alltag, viel unterhaltsame Lästerlust, viel Arbeit und Sorge, viel Politisches und wenig Philosophisches, Auftritte restlos Unbekannter und weltweit Prominenter: Der Band ist eine weite Reise durch den Arendt-Kosmos und zugleich ein Lehrbuch weiblicher Herzlichkeit. Regelmäßig herrschen sehr hohe menschliche Wärmegrade. Aber gekünstelt wirkt nichts, am wenigsten Arendts Zeilen an Hilde Fränkel: "Ich liebe Dich und grüsse und küsse Dich."