Als Opa Kriegsgefangener in den USA war
Im Roman "Ein mögliches Leben" erzählt Hannes Köhler von deutschen Soldaten, die in US-Kriegsgefangenschaft waren. Die Amerikareise von Großvater und Enkel - 70 Jahre später - trägt familienbiografische Züge: Der Großonkel des Autors war ab dem Jahr 1944 in Kalifornien inhaftiert.
Romanstoffe liegen manchmal direkt vor der Nase. Bei Hannes Köhler war es ein von den Amerikanern am Ende des Zweiten Weltkriegs gefangen genommener Großonkel, der ihn zu seinem neuen Roman "Ein mögliches Leben" inspirierte. Der Onkel verbrachte ab 1944 einige Zeit in einem Kriegsgefangenenlager in Kalifornien. Köhler faszinierte, dass sich in den Lagern Mikrokosmen unter der Führung von unverbesserlichen Wehrmachtssoldaten bildeten, die unverdrossen einen Sieg Hitlers über die USA herbei fantasierten und auch vor Gewalt gegen Mitgefangene nicht zurückschreckten.
Im Interview erzählt Köhler, was er bei seinen Recherchen während einer zweimonatigen USA-Reise durch Texas, Utah, Kalifornien und Alabama erlebte und wie er zu seinen Figuren fand.
Das Interview im Wortlaut:
Joachim Scholl: Hannes Köhler ist Jahrgang 1982, geboren in Hamburg, lebt jetzt in Berlin, 2011 hat er seinen ersten Roman veröffentlicht, und jetzt gibt es den zweiten: "Ein mögliches Leben", so der Titel, und darin erzählt Hannes Köhler von einer zeitgeschichtlichen Reise. Ein alter Mann fährt mit seinem Enkel nach Texas, dahin, woher er als junger deutscher Wehrmachtssoldat in Gefangenschaft war. Hannes Köhler ist bei uns im Studio, guten Morgen!
Hannes Köhler: Guten Morgen!
Scholl: Deutsche Kriegsgefangene in den USA, da gibt es reichlich Quellen, viel historische Literatur. Ein Thema, über das man jetzt breiter öffentlich diskutiert hätte, ist es nicht geworden oder nie gewesen. Wie sind Sie denn, Hannes Köhler, drauf gestoßen?
Köhler: Der erste Impuls war tatsächlich die eigene Familiengeschichte. Also mein Großonkel ist als Kriegsgefangener in Kalifornien gewesen damals und hatte dann nach der Rückkehr auch die Möglichkeit, in die USA zu gehen und hat sich dagegen entschieden nach langer Diskussion in der Familie, und ich habe meinen Großonkel selber nicht mehr kennengelernt, der ist sehr jung gestorben an Steinstaublunge, nannte man das dann damals, der war Bergmann, und mein Großvater hat das aber sehr beschäftigt immer. Also das war so eine dieser Familiengeschichten, die immer mal wieder aufkamen, und der hat nie so recht verstehen, dass sein Bruder sich diese Chance hat entgehen lassen, und das hat sogar zu so einem Bruch in der Familie geführt.
Scholl: Also die Chance, sozusagen Amerikaner zu werden.
Köhler: Genau, die Chance, sozusagen in den USA zu leben und in Kalifornien zu leben und so speziell natürlich im Nachkriegsdeutschland, wo die Perspektive noch gar nicht so klar war.
Scholl: Aber was hatte denn dann der Großvater erzählt von der Gefangenschaftssituation? Das muss Sie ja da irgendwie gereizt haben, oder?
Köhler: Die Erzählungen waren eigentlich die von großer Freiheit trotz Gefangenschaft, und das ist natürlich schon mal ein Widerspruch, der mich sehr gereizt hat, interessiert hat, dass man also einerseits in einem Lager lebte und andererseits aber ein Land kennengelernt hat, von dem man natürlich in den 30er- und 40er-Jahren eigentlich nur irgendwie in Form von Bildern oder Romanen gehört hatte.
Zwei Monaten auf den Spuren des Großonkels
Scholl: Sie erzählen jetzt von einer solchen Reise. Großvater und Enkel fahren nach Texas, und Sie haben aber selbst, Hannes Köhler, diese Reise als Recherchereise gemacht. Wann haben Sie denn gedacht, das muss ich erst mal selber mir anschauen?
Köhler: Das ist so langsam gewachsen diese Idee, auch so ein bisschen aus einer Frustration heraus, dass das Schreiben nicht so richtig funktionieren wollte, dass die Konstruktion nicht richtig funktionieren wollte, auch dass, was an Quellen hier in Deutschland zugänglich ist, ja doch nicht so üppig ist, und dann war dieser Gedanke lange da, und dann hat sich eine gute Gelegenheit ergeben, und dann sind meine Freundin und ich für zwei Monate in die USA gereist.
Scholl: Wo sind Sie da genau hingefahren?
Köhler: Also die Orte, die man im Roman wiederfindet, sind auch die Orte der Reise gewesen. Also Texas und Utah, und wir haben auch noch Kalifornien besucht, und in Alabama gibt es auch ein Museum an einem Ort eines ehemaligen Lagers.
Scholl: Was gibt es denn da eigentlich noch zu sehen? Sieht man da überhaupt noch Lagerareale oder Barracken, oder wie muss man sich das vorstellen?
Köhler: Also meistens tatsächlich nicht, weil das sind Lager gewesen, die sind recht kurzfristig errichtet worden und auch relativ schnell wieder abgebaut worden. Da ist dieser Lager in Texas tatsächlich ein Sonderfall. Das liegt so in der Mitte vom Nirgendwo, wie man so sagt, und da gibt es tatsächlich Reste von Barracken, und da gibt es ein privat betriebenes Museum und von Leuten, die sich da sehr rührig und mit viel Enthusiasmus drum kümmern, das zu erhalten.
Scholl: Im Roman ist der Großvater 90 Jahre alt, also wenn man so zurückrechnet, ist das sehr realistisch, im Jahr 1944, dem Jahr, als er Gefangener war, dann so ungefähr 20. Das ist so die Altersspanne. Er trifft auf jeden Fall noch Zeitzeugen, also ähnlich rüstige Greise. Haben Sie noch Leute getroffen?
Köhler: Ich habe in den USA leider niemanden mehr getroffen, aber ich wusste, dass es diese Treffen gibt. Das heißt, in diesem Lager in Texas gibt es tatsächlich regelmäßig Treffen ehemaliger Wächter und ehemaliger Soldaten, die in dem Umfeld dieses Lagers gearbeitet haben.
Scholl: Die müssen ja auch uralt sein.
Der gefährliche Mikrokosmos in den Lagern
Köhler: Ja, das sind sie auch, und ich hätte die auch gerne getroffen. Das war in dem Fall dann aber leider nicht möglich, weil die Reise sozusagen relativ kurzfristig dann …, da haben wir den Zeitplan so festgelegt, und das war dann nicht mehr machbar.
Scholl: Wenn es so etwas wie eine kollektive Erinnerung an die Kriegsgefangenschaft von Wehrmachtssoldaten gibt, dann sieht die meistens so aus, wer von den Amerikanern oder Engländern gefangen wurde, hatte Glück gehabt, war gerettet, wer von den Russen gekrallt wurde, hatte Pech und musste froh sein, wenn er überlebt hat. Sie erzählen nun in Ihrem Roman von dieser amerikanischen Kriegsgefangenschaft ja von einer richtigen Lebensgefahr, in die man auch bei den Amerikanern geraten konnte. Was war das für eine Gefahr?
Köhler: Also die Situation ist natürlich eine völlig andere und grundsätzlich stimmt diese Wahrnehmung auch. Das heißt, die Amerikaner selber haben eigentlich fast immer – es gab Ausnahmen, aber das hatte mit persönlichen Entscheidungen von Lagerkommandanten zu tun –, grundsätzlich haben die Amerikaner sich sehr strikt an die Genfer Konventionen gehalten, das heißt, den Deutschen ging es gut, die hatten genug zu essen, die haben gearbeitet, dafür aber sogar auch Geld bekommen. Das Problem war sozusagen eher der Mikrokosmos der deutschen Gefangenen in den Lagern.
Das heißt, da hat sich alles widergespiegelt in so einer sehr komprimierten Form, was sich auch in der deutschen Gesellschaft widergespiegelt hat. Das heißt, es gab Druck von oben meistens, von linientreuen Nazis, die immer versucht haben, die Kontrolle über die Lager zu erhalten, und das hat meistens auch geklappt, es gab Ausnahmen. Klar, das hat für die deutschen Soldaten, die vielleicht auch dieses Momentum der Freiheit und diese Idee, da etwas Neues kennenzulernen, ausnutzen wollten, zu vielen Problemen geführt.
Scholl: Ich meine, das hat mir auch jetzt erst Ihr Roman eigentlich klar gemacht. Natürlich denkt man, wenn man Geschichten hört, dass jeder Kriegsgefangene erst mal froh war, überhaupt überlebt zu haben, also jetzt kann ich nicht mehr getötet werden, von keiner Bombe mehr getroffen, von keinem Panzer mehr überrollt, Glück gehabt. Dass jetzt plötzlich doch so eine Art von, wie Sie es nennen, Mikrokosmos da ist, dass also da auch wirklich Soldaten da sind, die also überzeugt sind, dass der Führer sie noch raushaut, dass sie sogar davon sprechen, irgendwann wird Amerika von den Deutschen erobert, und wir werden dann frei sein, und ihr seid dann alles Verräter, die ihr jetzt euch freut, sozusagen davongekommen zu sein. Wie haben Sie davon erfahren?
Es kam auch zu Morden
Köhler: Das ist in Dokumenten zu finden. Also es gibt da viele …, es gibt Briefe, es gibt Tagebücher. Ich habe auch Interviews mit Zeitzeugen geführt, und die haben zwar nicht so direkt davon erzählen wollen, weil natürlich dieses große Wort der Kameradschaft immer voransteht, und das war auch in den Zeitzeugengesprächen zu merken, aber wenn man dann sozusagen ein bisschen an der Oberfläche kratzt, dann kam doch zutage, dass da wirklich auch massive Probleme zwischen den Soldaten entstanden.
Scholl: Und da kam es auch zu Morden, und das ist verbürgt.
Köhler: Das ist verbürgt, es ist auch dokumentiert in historischen Arbeiten zum Thema, und da sind zwischen den Deutschen ja wirklich gewalttätige Übergriffe vorgefallen, und es sind auch einzelne Soldaten getötet worden.
Scholl: Sie machen ein wirklich packendes draus, Hannes Köhler. Am Anfang, als ich dachte, nehme ich den Roman so in die Hand, dann dachte ich, was kann man denn da für eine Geschichte erzählen mit amerikanischen Kriegsgefangenen, aber dann wird das wirklich zu einer fast griechischen Tragödie, weil man eben auch als Leser direkt in diese Zeit, in diese Lager, in die Psyche der Beteiligten versetzt wird. Also Sie erzählen sozusagen aus der Innensicht dieser Beteiligten. Wie war das denn für Sie als doch noch sehr, sehr junger Autor und Nachgeborener, sich in diese Menschen hineinzuversetzen und dann einen Roman draus zu machen?
Köhler: Das war durchaus schwierig. Also geholfen hat, dass die Protagonisten ja durchaus jung sind teilweise, natürlich in einer ganz anderen Zeit leben. Es hat tatsächlich die Recherchereise geholfen, das heißt, vor Ort zu sein, das heißt auch, die Landschaft und die Geschmäcker, die Gerüche klar vor Augen zu haben beim Schreiben, und dann hat tatsächlich geholfen, die Zeit zu verschieben, das heißt, diesen Teil, der in den Lagern spielt, im Präsens zu erzählen.
Scholl: Ein weiterer … Also wir dürfen jetzt wirklich nicht in die Gefahr kommen, von der Handlung zu viel zu verraten, weil es ist fast eine kriminalistische Geschichte, die Sie erzählen, aber einen weiteren, sehr interessanten Motivstrang entwickeln Sie mit der Tochter des Großvaters, die als junge Frau anno 68 gegen die Politik der USA protestiert, also Stichwort Vietnam, was zu einem völligen Zerwürfnis mit dem Vater, also diesem Großvater, Ihrem Helden, geführt hat, der so als hundertprozentiger Amerikaner und Amerikafan aus der Gefangenschaft kam. Sie, Hannes Köhler, gehören ja jetzt eigentlich zur Enkel-Generation, die mit beiden historischen Bewegungen, Weltkrieg und 68, biografisch eigentlich nichts mehr zu tun hat. Hat sich Ihr eigenes Amerikabild auch durch diese Recherche, durch dieses Buch verändert, und wie sind Sie überhaupt da drauf gekommen, diese Tochter da einzubauen?
Die Rolle der rebellierenden Tochter
Köhler: Die Tochter ist tatsächlich relativ spät erst in den Roman gekommen. Ich hatte lange Zeit nur an eine Enkel-Großvater-Konstellation gedacht, und da hat dann aber die Konstruktion des Romans nicht funktioniert, und erst als dann die Entscheidung fiel, Barbara als Figur dazu zu nehmen und sozusagen alle drei Generationen erzählen zu lassen, dann hat der Roman sozusagen die richtige Form finden können. Insofern, ich hatte auch Respekt davor, aus der Sicht von Barbara zu erzählen. Das hat dann aber sehr viel Freude bereitet.
Scholl: Hat sich Ihr eigenes Bild auf die USA verändert durch diese Geschichte auch?
Köhler: Also es war einfach sehr beeindruckend, in den USA zu sein und die Weite dieses Landes zu erleben, und ich denke auch, das hat beim Schreiben des Romans geholfen. Also ich hoffe auch, dass sich das in der Figur des Franz wiederfindet und seinem Erleben der Vereinigten Staaten, und ich habe ein eigentlich doch sehr offenes Land kennengelernt, was natürlich sehr stark im Widerspruch zu den USA steht, die man heute so medial immer erlebt, und das hat doch auch noch mal den Wunsch gestärkt, den Blick zu schärfen und genau hinzuschauen und die vielen Seiten, die es eigentlich in den USA gibt, immer genau zu betrachten und nicht nur diese mediale Omnipräsenz von Trump irgendwie zu sehen, sondern zu schauen, was es da eigentlich für Stimmen gibt.
Scholl: Vielen Dank, Hannes Köhler, dass Sie bei uns waren!
Köhler: Vielen Dank!
Scholl: Und der Roman von Hannes Köhler, "Ein mögliches Leben", ist im Ullstein Verlag erschienen, hat 352 Seiten und kostet 22 Euro.
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