"Heute blond, morgen braun"
Popqueen Madonna wird unvorstellbare 50, und die Kritiker feilen an Charakterisierungen. Keine Avantgardistin, sondern eine große Popularisierungsmaschine sei sie, sagt der Musikjournalist der "Zeit" Thomas Gross. Die "Patchwork-Persönlichkeit" habe gezeigt, dass Popkultur mit Spiel zu tun hat. Sie fasziniere, weil sie sich nichts diktieren lasse, betont die Autorin Sandra Grether.
Katrin Heise: Madonna Louise Veronica Ciccone, sie wird morgen 50 und ist seit 25 Jahren auf der Bühne, gilt als Königin, als Ikone des Pop. Ich begrüße die Musikjournalistin Sandra Grether, von der in den nächsten Tagen ein Buch über Madonna erscheint. Sie ist uns in Köln zugeschaltet. Schönen guten Tag!
Sandra Grether: Ja, schönen guten Tag, hallo!
Heise: Und hier bei uns im Studio begrüße ich den Musikkritiker der "Zeit" Thomas Gross, unter anderem auch mit einem Beitrag im erwähnten Buch dabei. Schönen guten Tag, Herr Gross!
Thomas Gross: Hallo!
Heise: Bevor wir den Status der Königin des Pop mal so ein bisschen abklopfen, sollten Sie vielleicht, Martin Riesel, ein paar Daten, ein paar Stationen ihres Lebens nennen.
Martin Riesel: Ja, geboren ist sie 1958 in Bay City, im US-Bundesstaat Michigan, der Vater italienischstämmiger US-Amerikaner, die Mutter Franco-Kanadierin, und die stirbt früh. Da ist Madonna erst fünf Jahre alt. Strenge katholische Erziehung, das hat sicherlich seine Folgen gehabt. Sie war ein sehr schlaues Kind, Klavierstunden, Tanzunterricht. Der Tanzlehrer, der entdeckt dann ihre Talente. Und sie geht nach New York und wird da groß, lernt Schlagzeug und Gitarre. Vor genau 25 Jahren dann ihr Debütalbum. Und da hat sie schon ziemlich genaue Vorstellungen, wie es klingen sollte.
Der Rest ist fast Musikgeschichte. 1984 "Like A Virgin", die sündige Kindfrau, 1989 "Like A Prayer" mit dem angeblichen schwarzen Jesus. Dann folgen diese Kegelbrüste von Jean Paul Gaultier und der Fotoband "Sex", der Film "Im Bett" mit Madonna und andere filmische Flops, "Evita", "Bond-Girl". Und immer dieses Spiel mit religiösen Symbolen, mit neuen musikalischen Stilen. Zuletzt dann die Trennung von der bisherigen Musikindustrie usw. Was bleibt? 200 Millionen verkaufte Alben, sieben Grammys und, vielleicht noch wichtiger, unendliche Videoauszeichnungen. Was ist sie? Der letzte verbliebene Megastar des Pop oder die Pop-Mutti, die ihrem eigenen Anspruch, ihrem Image verzweifelt hinterrennt?
Heise: Darauf will ich jetzt noch keine Antwort hören. Das werden wir am Ende vielleicht dann besser wissen. Sandra Grether, Sie haben Ihr Buch "Madonna und wir - Bekenntnisse" genannt. Bekennen Sie mal, was lieben Sie an Madonna?
Grether: Ja, ich finde es eben, wie er schon andeutete, sehr schön, dass sie wirklich auch ein Gespür dafür hat, was innovativ ist. Wir wollen die Frage jetzt nicht schon beantworten, aber dass sie eigentlich ihren Trends nicht wirklich hinterherläuft, sondern schon auch durchaus innovativ nach vorne schaut in ihrer Musik und auch immer wieder etwas Neues wagt, was ja auch Teil ihres Images ist. Madonna gilt ja sehr stark als Verwandlungskünstlerin. Ja, und ich persönlich mag auch einfach ihre Ausstrahlung, wie sie so auftritt, ihre Aura usw.
Heise: Und haben natürlich auch immer wieder nach getanzt, 83 schon.
Grether: Ja, auf jeden Fall. Nein, 83 noch nicht im Kinderzimmer.
Heise: Im Kinderzimmer noch nicht? Na ja, viele haben da schon mit angefangen. Madonna ist eher omnipräsent. Es wurde ja eben genannt, in Filmen, sie hat Kinderbücher geschrieben, aber vor allem eben die Musik ist da. Was macht für Sie, Frau Grether, aber das Phänomen Madonna aus?
Grether: Ja, ich denke mal, es ist nicht so selbstverständlich, wenn man sich mal die Musikgeschichte anschaut. Allein das ist schon eine Weise, zunächst Pop-Disko-Sängerin, sich nicht von Produzenten diktieren lässt, wie es gehen muss, sondern dass sie eben selbst die Leute diktiert, dass sie genau weiß, wie die Songs klingen sollen usw. Auch von Anfang der 80er her gedacht, war das schon mal sehr außergewöhnlich, gab es eigentlich bis dahin eher umgekehrt. Und dann eben auch ihre starke Verknüpfung zu dem Medium Videos. Das ist, glaube ich, auch eine große Faszination auch für viele Leute, dass sie so sehr gut auch mit Videos umzugehen weiß, dass das eben eigentlich untrennbar mit ihrer Musik verknüpft ist, die Bilder dazu.
Heise: Die multimediale Präsenz.
Grether: Genau.
Heise: Thomas Gross, wie sehen Sie das? Was ist für Sie das Phänomen Madonna?
Gross: Ja, Sie haben gerade das Stichwort Phänomen gebracht. Phänomenal an ihr ist, dass sie es überhaupt zum Phänomen gebracht hat. Sie ist ja als Phänomen jemand, der permanent zur Stellungnahme zwingt. Nichts zu Madonna zu sagen zu haben, keine Meinung zu ihr haben, das geht einfach nicht, dann gehört man nicht dazu, dann fällt man raus aus der Diskursgemeinschaft. Man könnte sagen, Madonna ist keine Musikerin, sie ist ein Medium der Selbstverständigung. Im Reden über Madonna verhandelt eine ganze Generation die Fragen, die für sie relevant sind. Beispielsweise, wie alt bin ich mit 50, wie erfolgreich bin ich und wie halte ich es mit dem Spaß und nicht zuletzt mit dem Spaß am Rollenspiel. Und das Ergebnis ist dann eine Wissenschaft, die man Madonnalogie nennen könnte.
Riesel: Sie haben es ja angesprochen. Wir gehören ja alle zu der Generation, die mit ihr groß geworden sind. Ich habe erst mal einen Song mitgebracht, der war zu Beginn in Europa Madonnas erfolgreichster, aus unserer Jugend dann wahrscheinlich, Platz eins in Großbritannien, Platz drei in Deutschland. Und mit dem gehen wir erst mal in ihren Groove hinein.
Riesel: Im Deutschlandradio Kultur Madonna, 1985 mit "Into the Groove", auch den hat sie mitgeschrieben, wie die meisten ihrer Songs. Sie hat sich immer mit absoluten Top-Produzenten umgeben. Und so war ihre Musik immer irgendwie en vogue oder sogar ein Stückchen vorm Trend. Und genau das hat sich, finde ich, in den vergangenen Jahren immer mehr verändert. Sie geht nicht mehr vorweg, sondern sie rennt manchmal fast verzweifelt hinterher. Thomas Gross, Popkritiker von der "Zeit", sehen Sie das ähnlich?
Gross: Würde ich so nicht unbedingt unterschreiben. Ich denke, vielleicht ist es nicht besonders originell, sich ein Album von Timberland produzieren zu lassen.
Riesel: Eben. Genau so was meine ich.
Gross: Etwas erwartbar. Trotzdem ist sie ja immer noch dabei. Und sie ist eigentlich die Einzige aus ihrer Generation, die auf diese Art und Weise diesen Kontakt zum Zeitgeist gehalten hat. Meine These wäre eher, dass sie das Verständnis von Altern in der Popkultur selber verändert hat. Vorhin wurde ja die Alternative eröffnet, ist das nur noch eine krekle Alte, die den Trends hinterherrennt, oder ist sie selber Trendsetterin? Ich glaube, dass es diesen Widerspruch in dieser Form nicht mehr gibt, und dass Madonna das Beispiel dafür ist.
Heise: Madonna wird morgen 50. Unser Thema hier im "Radiofeuilleton" mit den Musikkritikern und -journalisten Thomas Gross und Sandra Grether. Frau Grether, sehen Sie das ähnlich? Ich dachte, Sie finden immer noch, dass sie doch eine Trendsetterin auch musikalisch gesehen ist.
Grether: Genau. Ich würde mal so sagen, ich sehe jetzt nicht, dass es da so eine große Veränderung gibt. Sie hat eben immer mal mit populäreren oder weniger populären Produzenten zusammengearbeitet. Ich denke, dass sie das auf jeden Fall immer noch ist, denke aber auch gleichzeitig, dass es natürlich ambivalent ist. Man muss jetzt auch nicht so tun, als wäre Madonna die Speerspitze der Avantgarde. Ich meine, sie beutet die natürlich auch ganz schön aus. Und es gibt natürlich auch Leute, die sehr viel innovativer sind. Ich würde mal sagen, dass Madonna eigentlich immer die Trends aufgreift, die gerade aus dem Underground an der Schnittstelle sind, im Mainstream aufzugehen als Konzept.
Riesel: Und genau das passiert aber auf den letzten Alben nicht mehr?
Grether: Ja, das stimmt. Aber dann ist es eben nicht mehr eine musikalische Innovation, sondern dann möchte sie eben als 50-jährige Frau zeigen, dass sie zum Beispiel auch mit dem 25 Jahre jüngeren Justin Timberlake im Duett singen und sich mit dem anflirten kann.
Heise: Mit dem Flirten, da haben Sie jetzt ein ganz gutes Stichwort gegeben. Ich würde nämlich gerne mal ein bisschen von der Musik vielleicht weg, so die Optik, ihre Spielchen mit Zeichen, sexuellen Symbolen, Provokationen, der Papst hat vom Kauf ihrer Platten mal abgeraten, darauf zu sprechen kommen. Frau Grether, was hat Madonna tatsächlich dadurch erreicht? Hat sie weibliche sexuelle Selbstbestimmung vorangebracht?
Grether: Ja, ich würde mal sagen, schon auf jeden Fall. Da war sie nicht die Erste und auch die Letzte. Man muss sie jetzt auch nicht als die Ikone der weiblichen Selbstbestimmung sehen. Aber sie hat schon einen ganz guten Beitrag geleistet, wie ich finde. Das ist auch eigentlich etwas, was ich an ihr am meisten mag und auch schon immer am meisten mochte, eben, dass sie das Sexuelle oder das Sexy-Sein und all dies sehr ausstellt, was natürlich auch verkauft. Das ist ja nun auch kein Geheimnis.
Aber ich würde mal sagen, dass sie in all dem eigentlich auch immer sehr authentisch war. Man kennt ja auch ihre Biografie. Es ist jetzt auch kein Kind von Traurigkeit. Ich würde mal sagen, da hat sie schon ganz gut ihr eigenes Leben in den Flirty-Videos und am Anfang, in den 80ern, mit diesem Boytoy-Gürtel und all diese Dinge. Sie hat das schon immer ganz gut, auch diese Ambivalenz, Macht und Ohmacht durchzuspielen, verschiedene Frauenrollen.
Heise: Philosoph Jean Baudrillard sieht das ein bisschen anders. Der sagt zu Madonna und ihrem Hyper-Sex, dass es eigentlich nur das autistische Ich darstellt, Spiel der Simulation und den Körper ein bisschen wie so ein technisches Instrumentarium vorstellt. Klingt aber eher bemitleidenswert.
Grether: Na ja.
Heise: Gehen Sie nicht mit?
Grether: Nein, überhaupt nicht, sehe ich nicht so. Was heißt der Körper als technisches Instrumentarium? Es ist nun mal ihr Körper, den sie da ausstellt und nicht der Körper von irgendwem anders. Und es ist nun mal der Körper, mit dem sie lebt. Jetzt mal ganz blöd gesagt. Und ich würde eher einwenden, dass es natürlich auch noch andere Arten gibt als Sängerin oder als Showperson, Sexualität zu thematisieren.
Heise: Wenn wir jetzt mal zum Thema Emanzipation oder Feminismus kommen, da so ein bisschen weiter überleiten. Madonna umgibt sich eigentlich nur mit Männern.
Grether: Genau.
Heise: Gleichberechtigt ihr sind nur Männer. Hat sie uns zum Thema Feminismus doch relativ wenig zu sagen?
Grether: Nein, sie hat uns natürlich trotzdem was zu sagen. Ein Ansatz in dem Buch ist auch genau der, das, was ich immer an ihr kritisiert habe, dass sie sich immer nur mit männlichen Musikern und Produzenten, das finde ich sehr schade. Und natürlich ist Feminismus auch eine bestimmte Art von Kollektivität und dass man andere Frauen neben sich erträgt und nicht immer nur die einzige Tolle sein will, das würde ich auch ihr vorwerfen. Das ist auch sehr traurig, weil dadurch ist sie auch ein sehr schlechtes Role-Model. Männliche Musiker arbeiten ja auch die ganze Zeit miteinander und nicht gegeneinander.
Aber davon mal abgesehen, ist es natürlich trotzdem gut, dass sie überhaupt so selbstbestimmt weiß, was sie will, mal so ganz blöd gesagt, weil es ist ja auch eine diskursive Sache. Und Frauen sind ja vom Musikdiskurs und auch Musikerinnen sind ja im Musikdiskurs nicht so vertreten wie die Männer.
Heise: Thomas Gross, finden Sie, dass sie sich da tatsächlich, dass sie die Frauen im Musikdiskurs da vorangebracht hat und nun Rollen-Modell ist?
Gross: Ich denke schon. Ich denke, mittlerweile ist der Diskurs etwas erstarrt und es dreht sich immer wieder um die gleichen Themen. Und Madonna selbst hat auch nicht unbedingt so viel Anlass dazu gegeben, sie als große Feministin zu feiern. Sie hat das immer eher abgewehrt in Interviews und anderen Statements. Aber ich denke, die eigentliche Bedeutung von Madonna ist auch eher eine übergreifende. Madonna hat uns gezeigt, dass Popkultur was mit Spiel zu tun hat. In den 70ern, ich glaube, ich kann das gut beurteilen, weil das zum Teil noch meine Zeit war. Da war alles in der Popkultur von tödlichem Ernst geprägt. Man musste unbedingt den Blues haben wie Joe Cocker und musste kiffen wie Jerry Garcia. Insgesamt musste man immer authentisch unterwegs sein.
Grether: Na ja, was mit David Bowie?
Gross: Na gut, ich meine, es gibt natürlich immer Überschneidungen. Und David Bowie war dann sozusagen der Avantgardist, der von allem, was noch kommen würde. Aber ich denke, Madonna war diejenige, die das zum ersten Mal für ein breites Publikum vorgeführt hat, dass man so was sein kann, wie eine Patchwork-Persönlichkeit, dass man heute blond sein kann, morgen braun und übermorgen, was weiß ich, italoschwarz oder was auch immer. Das Stichwort dazu oder die Floskel mittlerweile heißt, sich immer wieder neu erfinden. Und das hat Anfang der 80er, Mitte der 80er doch sehr viel bedeutet. Und vielleicht haben andere das entwickelt, diese semiotische Auffassung von Pop, Bands wie ABC und Scritti Politti oder meinetwegen eben David Bowie, wie du gesagt hast. Aber das ist ihre Lebensleistung. Sie ist ja eigentlich, wie wir gerade schon festgestellt haben, nicht wirklich eine Avantgardistin, sondern mehr eine große Popularisierungsmaschine.
Heise: Da wollten Sie aber was einwerfen, Frau Grether!
Grether: Ja, ich würde sagen, Popmusik handelt schon immer von Verwandlung. Und ich finde nicht, dass Madonna das erfunden hat oder dass sie die Erste war. Sondern ich denke, dass es eigentlich das ist, was die Leute schon immer an Popmusik und Popkultur gereizt, dass es eben ein Spiel mit Rollen ist.
Riesel: Da ist ja gerade David Bowie ein gutes Gegenbeispiel.
Heise: Dass er eben auch mit Rollen gespielt hat.
Grether: Genau.
Gross: Genau. Wie gesagt, es gibt nicht nur einheitliche Zeitlichkeit in der Popkultur. Es gibt immer Avantgardisten, dieses vorwegnehmen. Bowie ist da viel eher Avantgardist als Madonna. Und das hat sich schon angebahnt Ende der 70er. Aber ich denke, der Grad von Rollenspiel, der hat sich mit Madonna enorm beschleunigt.
Grether: Man kann schon sagen, sie hat es auf die Spitze getrieben und darüber hinaus.
Gross: Genau. Und darüber hinaus, das ist ein gutes Stichwort.
Riesel: Wenn ich noch mal kurz dazwischen gehen darf, wir müssen auch ein bisschen Musik spielen. Was ich immer auffällig fand am Phänomen, das ist ihr Ansehen unter Musikern selbst. Sie hat immer gnadenlosen Ausverkauf betrieben, sich selbst vermarktet und ausgeschlachtet nach allen Regeln des Business. Aber unter Musikern, unter DJs, da kann man selbst den härtesten Techno-DJ fragen, da ernten sie fast ausnahmslos höchsten Respekt, bis heute. Wer einmal ein Madonna-Song remixen durfte, der schreibt es in die erste Zeile seiner Vita. Und Madonna-Remixes, das ist so eine riesige Diskografie für sich. Ich habe mal einen rausgesucht, ein eher seltenes Liebhaberstück. Da hat sie einen Marvin-Gaye-Hit nachgesungen. Und das wurde dann als Remix bearbeitet von Massive Attack, einer meiner Madonna-Lieblingsnummern, "I want you".
Riesel: Der Massive-Attack-Remix von "I want you" mit Madonna. Die kommt demnächst auch auf Deutschland-Tournee, am 28. August spielt sie in Berlin, am 4. September in Düsseldorf und am 9. September in Frankfurt am Main.
Heise: Ja, und dann ist schon 50. Denn morgen feiert sie ihren Geburtstag, und wir haben den schon mal vorgefeiert mit dem Popkritiker der Zeitschrift "Die Zeit" Thomas Gross, ich danke Ihnen für Ihren Besuch, mit der Musikjournalistin Sandra Grether, die in Köln uns zugeschaltet ist.
Sandra Grether: Ja, schönen guten Tag, hallo!
Heise: Und hier bei uns im Studio begrüße ich den Musikkritiker der "Zeit" Thomas Gross, unter anderem auch mit einem Beitrag im erwähnten Buch dabei. Schönen guten Tag, Herr Gross!
Thomas Gross: Hallo!
Heise: Bevor wir den Status der Königin des Pop mal so ein bisschen abklopfen, sollten Sie vielleicht, Martin Riesel, ein paar Daten, ein paar Stationen ihres Lebens nennen.
Martin Riesel: Ja, geboren ist sie 1958 in Bay City, im US-Bundesstaat Michigan, der Vater italienischstämmiger US-Amerikaner, die Mutter Franco-Kanadierin, und die stirbt früh. Da ist Madonna erst fünf Jahre alt. Strenge katholische Erziehung, das hat sicherlich seine Folgen gehabt. Sie war ein sehr schlaues Kind, Klavierstunden, Tanzunterricht. Der Tanzlehrer, der entdeckt dann ihre Talente. Und sie geht nach New York und wird da groß, lernt Schlagzeug und Gitarre. Vor genau 25 Jahren dann ihr Debütalbum. Und da hat sie schon ziemlich genaue Vorstellungen, wie es klingen sollte.
Der Rest ist fast Musikgeschichte. 1984 "Like A Virgin", die sündige Kindfrau, 1989 "Like A Prayer" mit dem angeblichen schwarzen Jesus. Dann folgen diese Kegelbrüste von Jean Paul Gaultier und der Fotoband "Sex", der Film "Im Bett" mit Madonna und andere filmische Flops, "Evita", "Bond-Girl". Und immer dieses Spiel mit religiösen Symbolen, mit neuen musikalischen Stilen. Zuletzt dann die Trennung von der bisherigen Musikindustrie usw. Was bleibt? 200 Millionen verkaufte Alben, sieben Grammys und, vielleicht noch wichtiger, unendliche Videoauszeichnungen. Was ist sie? Der letzte verbliebene Megastar des Pop oder die Pop-Mutti, die ihrem eigenen Anspruch, ihrem Image verzweifelt hinterrennt?
Heise: Darauf will ich jetzt noch keine Antwort hören. Das werden wir am Ende vielleicht dann besser wissen. Sandra Grether, Sie haben Ihr Buch "Madonna und wir - Bekenntnisse" genannt. Bekennen Sie mal, was lieben Sie an Madonna?
Grether: Ja, ich finde es eben, wie er schon andeutete, sehr schön, dass sie wirklich auch ein Gespür dafür hat, was innovativ ist. Wir wollen die Frage jetzt nicht schon beantworten, aber dass sie eigentlich ihren Trends nicht wirklich hinterherläuft, sondern schon auch durchaus innovativ nach vorne schaut in ihrer Musik und auch immer wieder etwas Neues wagt, was ja auch Teil ihres Images ist. Madonna gilt ja sehr stark als Verwandlungskünstlerin. Ja, und ich persönlich mag auch einfach ihre Ausstrahlung, wie sie so auftritt, ihre Aura usw.
Heise: Und haben natürlich auch immer wieder nach getanzt, 83 schon.
Grether: Ja, auf jeden Fall. Nein, 83 noch nicht im Kinderzimmer.
Heise: Im Kinderzimmer noch nicht? Na ja, viele haben da schon mit angefangen. Madonna ist eher omnipräsent. Es wurde ja eben genannt, in Filmen, sie hat Kinderbücher geschrieben, aber vor allem eben die Musik ist da. Was macht für Sie, Frau Grether, aber das Phänomen Madonna aus?
Grether: Ja, ich denke mal, es ist nicht so selbstverständlich, wenn man sich mal die Musikgeschichte anschaut. Allein das ist schon eine Weise, zunächst Pop-Disko-Sängerin, sich nicht von Produzenten diktieren lässt, wie es gehen muss, sondern dass sie eben selbst die Leute diktiert, dass sie genau weiß, wie die Songs klingen sollen usw. Auch von Anfang der 80er her gedacht, war das schon mal sehr außergewöhnlich, gab es eigentlich bis dahin eher umgekehrt. Und dann eben auch ihre starke Verknüpfung zu dem Medium Videos. Das ist, glaube ich, auch eine große Faszination auch für viele Leute, dass sie so sehr gut auch mit Videos umzugehen weiß, dass das eben eigentlich untrennbar mit ihrer Musik verknüpft ist, die Bilder dazu.
Heise: Die multimediale Präsenz.
Grether: Genau.
Heise: Thomas Gross, wie sehen Sie das? Was ist für Sie das Phänomen Madonna?
Gross: Ja, Sie haben gerade das Stichwort Phänomen gebracht. Phänomenal an ihr ist, dass sie es überhaupt zum Phänomen gebracht hat. Sie ist ja als Phänomen jemand, der permanent zur Stellungnahme zwingt. Nichts zu Madonna zu sagen zu haben, keine Meinung zu ihr haben, das geht einfach nicht, dann gehört man nicht dazu, dann fällt man raus aus der Diskursgemeinschaft. Man könnte sagen, Madonna ist keine Musikerin, sie ist ein Medium der Selbstverständigung. Im Reden über Madonna verhandelt eine ganze Generation die Fragen, die für sie relevant sind. Beispielsweise, wie alt bin ich mit 50, wie erfolgreich bin ich und wie halte ich es mit dem Spaß und nicht zuletzt mit dem Spaß am Rollenspiel. Und das Ergebnis ist dann eine Wissenschaft, die man Madonnalogie nennen könnte.
Riesel: Sie haben es ja angesprochen. Wir gehören ja alle zu der Generation, die mit ihr groß geworden sind. Ich habe erst mal einen Song mitgebracht, der war zu Beginn in Europa Madonnas erfolgreichster, aus unserer Jugend dann wahrscheinlich, Platz eins in Großbritannien, Platz drei in Deutschland. Und mit dem gehen wir erst mal in ihren Groove hinein.
Riesel: Im Deutschlandradio Kultur Madonna, 1985 mit "Into the Groove", auch den hat sie mitgeschrieben, wie die meisten ihrer Songs. Sie hat sich immer mit absoluten Top-Produzenten umgeben. Und so war ihre Musik immer irgendwie en vogue oder sogar ein Stückchen vorm Trend. Und genau das hat sich, finde ich, in den vergangenen Jahren immer mehr verändert. Sie geht nicht mehr vorweg, sondern sie rennt manchmal fast verzweifelt hinterher. Thomas Gross, Popkritiker von der "Zeit", sehen Sie das ähnlich?
Gross: Würde ich so nicht unbedingt unterschreiben. Ich denke, vielleicht ist es nicht besonders originell, sich ein Album von Timberland produzieren zu lassen.
Riesel: Eben. Genau so was meine ich.
Gross: Etwas erwartbar. Trotzdem ist sie ja immer noch dabei. Und sie ist eigentlich die Einzige aus ihrer Generation, die auf diese Art und Weise diesen Kontakt zum Zeitgeist gehalten hat. Meine These wäre eher, dass sie das Verständnis von Altern in der Popkultur selber verändert hat. Vorhin wurde ja die Alternative eröffnet, ist das nur noch eine krekle Alte, die den Trends hinterherrennt, oder ist sie selber Trendsetterin? Ich glaube, dass es diesen Widerspruch in dieser Form nicht mehr gibt, und dass Madonna das Beispiel dafür ist.
Heise: Madonna wird morgen 50. Unser Thema hier im "Radiofeuilleton" mit den Musikkritikern und -journalisten Thomas Gross und Sandra Grether. Frau Grether, sehen Sie das ähnlich? Ich dachte, Sie finden immer noch, dass sie doch eine Trendsetterin auch musikalisch gesehen ist.
Grether: Genau. Ich würde mal so sagen, ich sehe jetzt nicht, dass es da so eine große Veränderung gibt. Sie hat eben immer mal mit populäreren oder weniger populären Produzenten zusammengearbeitet. Ich denke, dass sie das auf jeden Fall immer noch ist, denke aber auch gleichzeitig, dass es natürlich ambivalent ist. Man muss jetzt auch nicht so tun, als wäre Madonna die Speerspitze der Avantgarde. Ich meine, sie beutet die natürlich auch ganz schön aus. Und es gibt natürlich auch Leute, die sehr viel innovativer sind. Ich würde mal sagen, dass Madonna eigentlich immer die Trends aufgreift, die gerade aus dem Underground an der Schnittstelle sind, im Mainstream aufzugehen als Konzept.
Riesel: Und genau das passiert aber auf den letzten Alben nicht mehr?
Grether: Ja, das stimmt. Aber dann ist es eben nicht mehr eine musikalische Innovation, sondern dann möchte sie eben als 50-jährige Frau zeigen, dass sie zum Beispiel auch mit dem 25 Jahre jüngeren Justin Timberlake im Duett singen und sich mit dem anflirten kann.
Heise: Mit dem Flirten, da haben Sie jetzt ein ganz gutes Stichwort gegeben. Ich würde nämlich gerne mal ein bisschen von der Musik vielleicht weg, so die Optik, ihre Spielchen mit Zeichen, sexuellen Symbolen, Provokationen, der Papst hat vom Kauf ihrer Platten mal abgeraten, darauf zu sprechen kommen. Frau Grether, was hat Madonna tatsächlich dadurch erreicht? Hat sie weibliche sexuelle Selbstbestimmung vorangebracht?
Grether: Ja, ich würde mal sagen, schon auf jeden Fall. Da war sie nicht die Erste und auch die Letzte. Man muss sie jetzt auch nicht als die Ikone der weiblichen Selbstbestimmung sehen. Aber sie hat schon einen ganz guten Beitrag geleistet, wie ich finde. Das ist auch eigentlich etwas, was ich an ihr am meisten mag und auch schon immer am meisten mochte, eben, dass sie das Sexuelle oder das Sexy-Sein und all dies sehr ausstellt, was natürlich auch verkauft. Das ist ja nun auch kein Geheimnis.
Aber ich würde mal sagen, dass sie in all dem eigentlich auch immer sehr authentisch war. Man kennt ja auch ihre Biografie. Es ist jetzt auch kein Kind von Traurigkeit. Ich würde mal sagen, da hat sie schon ganz gut ihr eigenes Leben in den Flirty-Videos und am Anfang, in den 80ern, mit diesem Boytoy-Gürtel und all diese Dinge. Sie hat das schon immer ganz gut, auch diese Ambivalenz, Macht und Ohmacht durchzuspielen, verschiedene Frauenrollen.
Heise: Philosoph Jean Baudrillard sieht das ein bisschen anders. Der sagt zu Madonna und ihrem Hyper-Sex, dass es eigentlich nur das autistische Ich darstellt, Spiel der Simulation und den Körper ein bisschen wie so ein technisches Instrumentarium vorstellt. Klingt aber eher bemitleidenswert.
Grether: Na ja.
Heise: Gehen Sie nicht mit?
Grether: Nein, überhaupt nicht, sehe ich nicht so. Was heißt der Körper als technisches Instrumentarium? Es ist nun mal ihr Körper, den sie da ausstellt und nicht der Körper von irgendwem anders. Und es ist nun mal der Körper, mit dem sie lebt. Jetzt mal ganz blöd gesagt. Und ich würde eher einwenden, dass es natürlich auch noch andere Arten gibt als Sängerin oder als Showperson, Sexualität zu thematisieren.
Heise: Wenn wir jetzt mal zum Thema Emanzipation oder Feminismus kommen, da so ein bisschen weiter überleiten. Madonna umgibt sich eigentlich nur mit Männern.
Grether: Genau.
Heise: Gleichberechtigt ihr sind nur Männer. Hat sie uns zum Thema Feminismus doch relativ wenig zu sagen?
Grether: Nein, sie hat uns natürlich trotzdem was zu sagen. Ein Ansatz in dem Buch ist auch genau der, das, was ich immer an ihr kritisiert habe, dass sie sich immer nur mit männlichen Musikern und Produzenten, das finde ich sehr schade. Und natürlich ist Feminismus auch eine bestimmte Art von Kollektivität und dass man andere Frauen neben sich erträgt und nicht immer nur die einzige Tolle sein will, das würde ich auch ihr vorwerfen. Das ist auch sehr traurig, weil dadurch ist sie auch ein sehr schlechtes Role-Model. Männliche Musiker arbeiten ja auch die ganze Zeit miteinander und nicht gegeneinander.
Aber davon mal abgesehen, ist es natürlich trotzdem gut, dass sie überhaupt so selbstbestimmt weiß, was sie will, mal so ganz blöd gesagt, weil es ist ja auch eine diskursive Sache. Und Frauen sind ja vom Musikdiskurs und auch Musikerinnen sind ja im Musikdiskurs nicht so vertreten wie die Männer.
Heise: Thomas Gross, finden Sie, dass sie sich da tatsächlich, dass sie die Frauen im Musikdiskurs da vorangebracht hat und nun Rollen-Modell ist?
Gross: Ich denke schon. Ich denke, mittlerweile ist der Diskurs etwas erstarrt und es dreht sich immer wieder um die gleichen Themen. Und Madonna selbst hat auch nicht unbedingt so viel Anlass dazu gegeben, sie als große Feministin zu feiern. Sie hat das immer eher abgewehrt in Interviews und anderen Statements. Aber ich denke, die eigentliche Bedeutung von Madonna ist auch eher eine übergreifende. Madonna hat uns gezeigt, dass Popkultur was mit Spiel zu tun hat. In den 70ern, ich glaube, ich kann das gut beurteilen, weil das zum Teil noch meine Zeit war. Da war alles in der Popkultur von tödlichem Ernst geprägt. Man musste unbedingt den Blues haben wie Joe Cocker und musste kiffen wie Jerry Garcia. Insgesamt musste man immer authentisch unterwegs sein.
Grether: Na ja, was mit David Bowie?
Gross: Na gut, ich meine, es gibt natürlich immer Überschneidungen. Und David Bowie war dann sozusagen der Avantgardist, der von allem, was noch kommen würde. Aber ich denke, Madonna war diejenige, die das zum ersten Mal für ein breites Publikum vorgeführt hat, dass man so was sein kann, wie eine Patchwork-Persönlichkeit, dass man heute blond sein kann, morgen braun und übermorgen, was weiß ich, italoschwarz oder was auch immer. Das Stichwort dazu oder die Floskel mittlerweile heißt, sich immer wieder neu erfinden. Und das hat Anfang der 80er, Mitte der 80er doch sehr viel bedeutet. Und vielleicht haben andere das entwickelt, diese semiotische Auffassung von Pop, Bands wie ABC und Scritti Politti oder meinetwegen eben David Bowie, wie du gesagt hast. Aber das ist ihre Lebensleistung. Sie ist ja eigentlich, wie wir gerade schon festgestellt haben, nicht wirklich eine Avantgardistin, sondern mehr eine große Popularisierungsmaschine.
Heise: Da wollten Sie aber was einwerfen, Frau Grether!
Grether: Ja, ich würde sagen, Popmusik handelt schon immer von Verwandlung. Und ich finde nicht, dass Madonna das erfunden hat oder dass sie die Erste war. Sondern ich denke, dass es eigentlich das ist, was die Leute schon immer an Popmusik und Popkultur gereizt, dass es eben ein Spiel mit Rollen ist.
Riesel: Da ist ja gerade David Bowie ein gutes Gegenbeispiel.
Heise: Dass er eben auch mit Rollen gespielt hat.
Grether: Genau.
Gross: Genau. Wie gesagt, es gibt nicht nur einheitliche Zeitlichkeit in der Popkultur. Es gibt immer Avantgardisten, dieses vorwegnehmen. Bowie ist da viel eher Avantgardist als Madonna. Und das hat sich schon angebahnt Ende der 70er. Aber ich denke, der Grad von Rollenspiel, der hat sich mit Madonna enorm beschleunigt.
Grether: Man kann schon sagen, sie hat es auf die Spitze getrieben und darüber hinaus.
Gross: Genau. Und darüber hinaus, das ist ein gutes Stichwort.
Riesel: Wenn ich noch mal kurz dazwischen gehen darf, wir müssen auch ein bisschen Musik spielen. Was ich immer auffällig fand am Phänomen, das ist ihr Ansehen unter Musikern selbst. Sie hat immer gnadenlosen Ausverkauf betrieben, sich selbst vermarktet und ausgeschlachtet nach allen Regeln des Business. Aber unter Musikern, unter DJs, da kann man selbst den härtesten Techno-DJ fragen, da ernten sie fast ausnahmslos höchsten Respekt, bis heute. Wer einmal ein Madonna-Song remixen durfte, der schreibt es in die erste Zeile seiner Vita. Und Madonna-Remixes, das ist so eine riesige Diskografie für sich. Ich habe mal einen rausgesucht, ein eher seltenes Liebhaberstück. Da hat sie einen Marvin-Gaye-Hit nachgesungen. Und das wurde dann als Remix bearbeitet von Massive Attack, einer meiner Madonna-Lieblingsnummern, "I want you".
Riesel: Der Massive-Attack-Remix von "I want you" mit Madonna. Die kommt demnächst auch auf Deutschland-Tournee, am 28. August spielt sie in Berlin, am 4. September in Düsseldorf und am 9. September in Frankfurt am Main.
Heise: Ja, und dann ist schon 50. Denn morgen feiert sie ihren Geburtstag, und wir haben den schon mal vorgefeiert mit dem Popkritiker der Zeitschrift "Die Zeit" Thomas Gross, ich danke Ihnen für Ihren Besuch, mit der Musikjournalistin Sandra Grether, die in Köln uns zugeschaltet ist.