Konrad Jarausch: "Zerrissene Leben. Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter"
wbg Theiss in Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WBG), Darmstadt 2018, 4560 Seiten, 29,95 Euro
"Das kollektive Lernen weiterzugeben - eine große Aufgabe!"
Der deutsch-amerikanische Historiker Konrad Jarausch hat eine Kollektivbiografie geschrieben. Sein Zeitrahmen dabei: das Leben der Kinder der Weimarer Republik. Dabei ging es ihm auch um eine Art Erfahrungsweitergabe aus erster Hand, um das kollektive Lernen, wie er sagt.
Deutschlandfunk Kultur: Dass das 20. Jahrhundert reich an menschengemachten Katastrophen und historischen Brüchen ist, das ist ein Allgemeinplatz. Aber wie bildet man diese Geschichte ab, wenn man die Wirkung der Ereignisse auf Individuen darstellen will, ohne dass diese Darstellung sich verengt und damit stark subjektiviert?
Einer besonders anspruchsvollen Art der Biographie hat sich unser heutiger Gast angenommen. Ich begrüße zum Tacheles-Gespräch Konrad Jarausch, Professor für europäische Geschichte an der Universität von North Carolina in Chapel Hill. Guten Tag, Herr Jarausch.
Konrad Jarausch: Hallo. Es ist nett, hier zu sein.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Jarausch, Sie haben eine neuartige deutsche Geschichte geschrieben, eine Geschichte des 20. Jahrhunderts unter dem Titel "Zerrissene Leben. Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter". Sie nennen das eine "kollektive Biographie". – Können Sie uns beschreiben, wie Sie da vorgegangen sind?
Konrad Jarausch: Ja. Ich wollte sozusagen viele dieser sehr interessanten Geschichten und Erlebnisse von normalen deutschen Menschen, also nicht Elite und die bekannt sind, irgendwie aufzeichnen und zugänglich machen und hatte eigentlich gedacht, ich fange mit einem halben Dutzend an. Jetzt sind es über achtzig geworden, das heißt, individuelle Schicksale.
Ein Muster ergibt sich, wenn man sie miteinander vergleicht. Es gibt immer Punkte, wo es gemeinsame Erfahrungen gibt auf der einen Seite. Und dann gibt es auch Art und Weisen, in denen diese Erfahrungen geschildert werden. Auf Englisch würde man das tropes of memory (Anm. d. Red.: sprachliche Bilder der Erinnerung) nennen.
80 Autobiographien - aber das ist eine schwierige Gattung
Deutschlandfunk Kultur: Also, Sie haben zurückgegriffen auf Autobiographien von Kindern, die in der Weimarer Zeit geboren wurden, also zwischen 1918 und 1933 so ungefähr, und die in den 90er Jahren dann angefangen haben zurückzublicken und ihr Leben reminiszieren zu lassen und auch zu bewerten letztendlich. – Was ist der Vorteil dieser Methode gegenüber anderen historischen Methoden?
Konrad Jarausch: Diese Quellengattung ist handlicher. Wenn man also über achtzig Tagebücher hätte aus dem gesamten Jahrhundert, dann wäre das eine Endlosaufgabe. Es ging einfach nicht. Natürlich kann man mit Leuten reden. Nur diese Generation ist dabei, auszusterben. Ich habe im letzten Sommer noch mit zwei Mittneunzigern geredet. Einer von denen hat mir gesagt: "Sie dürfen mein Material nur benutzen, wenn Sie mich besuchen kommen und mit mir sich darüber auseinandersetzen."
Diese Autobiographie ist eine spannende Gattung, aber natürlich auch eine schwierige Gattung, weil viel in der Retrospektive geglättet wird und man kann sich nicht immer faktisch auf alle Einzelheiten mehr verlassen. Aber es ist auch eine diachronische Gattung, weil man immer in der Gegenwart zurückblickt und die Verarbeitung des vergangenen Erlebens in der Niederschrift mit geliefert wird. Also, man hat jetzt nicht nur eine Erzählung, wie Jugendliche in der Friedenszeit in der HJ oder im BDM waren. Man hat dann auch fünfzig Jahre später eine Reflektion darüber, was das bedeutet.
Einige oder eine überraschend große Zahl von Leuten hat sich dann auch wirklich ernsthaft mit sich selbst auseinander gesetzt, weil das in der Zeit, wo sie berufstätig waren und andere Aufgaben hatten, schwer möglich war. Da waren sie so mit ihrem Leben beschäftigt, sich wieder auf die Beine zu bekommen und dann ihre Häuser zu bauen oder zu heiraten und beruflichen Erfolg zu haben.
Aber wenn sie dann im Ruhestand sind, dann tauchen diese vergangenen Erinnerungen wieder auf und sie sind hochgradig ambivalent, weil sie einerseits sozusagen die positiven Erlebnisse der Jugend wiedergeben, zum anderen aber auch wissen, dass diese Jugenderlebnisse von den Nazis hochgradig kontaminiert sind und sie dann in den Zweiten Weltkrieg geführt haben, wo sie, wenn sie Männer waren, an der Front gekämpft hatten, und wenn sie Frauen waren, waren sie in den Bombenkellern. Und wenn sie Juden waren, dann waren sie entweder ausgewandert, wenn sie Glück hatten, oder in den KZs.
Deutschlandfunk Kultur: Das sind sehr unterschiedliche Lebensläufe, die Sie da ins Visier nehmen und miteinander auch verflechten und gegeneinander kontrastieren – von glühenden Nazis eben bis hin zu Holocaust-Opfern.
Wie kann man denn so unterschiedliche Perspektiven zusammenbringen? Ist das Ihnen gelungen oder steht das oft einfach unverbunden da?
Konrad Jarausch: Die Verbindungen sind ja in der Sache selbst. Es gibt kein Opfer ohne Täter. Wenn man also an dieser etwas einfachen Gegenüberstellung festhalten will, gibt es kein Opfer ohne Täter und ohne Mitwisser. Das heißt auf Englisch dann bystander…
Deutschlandfunk Kultur: Der Mitläufer.
Konrad Jarausch: Der Mitläufer, der vielleicht auch nur die Pflicht getan hat, aber im Pflichttun dann doch den Vernichtungskrieg unterstützt hat und auf irgendeiner Ebene dann auch Teil des Systems gewesen ist. Viele Leute haben dann schließlich auch ein ambivalentes Verhältnis zu den Nazis entwickelt, als es dann klar wurde, dass das Leiden, was sie anderen Europäern angetan hatten, dann in der letzten Kriegsphase wieder auf die Deutschen zurück gekommen ist.
Deutschlandfunk Kultur: Da würde ich gerne mit Ihnen drüber sprechen, zunächst einmal über diese Mitläufer. Das ist ja ein breites Feld. Das nimmt einen breiten Raum ein in Ihrem Buch.
Wie haben diese Mitläufer den Nationalsozialismus erlebt? Gibt es da erkennbare Muster?
Konrad Jarausch: Eigentlich schon. Ich meine, weil, die Mitläufer waren dann, sagen wir mal, jetzt bleiben wir bei der HJ, dann waren sie in der HJ, um Fliegen zu lernen oder Motorrad zu fahren oder weil ihnen die Lagerfeuer Spaß gemacht haben. Sie haben nicht alle oder ein erheblicher Teil hat sich gar nicht wirklich mit der Ideologie auseinandergesetzt, sondern das war eine Freizeitbeschäftigung. Die ganzen Kameraden oder so was waren da. Und auch wenn ihre Eltern Sozialdemokraten oder Kommunisten waren oder Christen waren, die das nicht wollten, dann haben sie Krach mit ihren Eltern gekriegt, damit sie die Uniform haben konnten und mitlaufen konnte.
Es gibt sozusagen graduelle Unterschiede im Engagement. Denn nicht alle sind HJ-Führer geworden. Für die ist dann sozusagen der Bruch noch schwieriger. Und es hat auch immer eine kleine Anzahl von Leuten gegeben, die es irgendwie geschafft haben, zu den Heimabenden nicht zu kommen und höchstens mal eine Winterhilfswerksammlung mitzumachen, aber sich dann sozusagen zu verkrümeln, zu verabschieden. Und es gibt auch Erzählungen, wo eine Mutter dann einen HJ-Führer ohrfeigt, der ihren Sohn rekrutieren will. Also, es gab Möglichkeiten. Es gab auch gewisse private Räume auch im Dritten Reich. Und es gab auch etwas Verweigerung.
Zeugnisse einer sich wandelnden Erinnerungskultur
Deutschlandfunk Kultur: Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist: Sie sagen das in Ihrem Buch auch selbst, dass die Perspektive der Opfer notwendigerweise beschnitten ist, schlicht und ergreifend, weil viele der Opfer das nicht überlebt haben, den Nationalsozialismus. Viele sind ausgewandert und stehen als Quelle so nicht mehr zur Verfügung vielleicht. – Wie haben Sie denn versucht, der Perspektive der Opfer gerecht zu werden in Ihrem Buch?
Konrad Jarausch: Ich meine, einerseits gibt es natürlich Opfer, von denen auch eine relativ kleine Zahl überlebt hat. Und es gibt ein Archiv in New York, das Leo-Baeck-Institut, was über 2.000 von diesen jüdischen Erzählungen, oft auch als Manuskripte gesammelt hat.
Und dann gibt es eine Reihe von Erinnerungsbüchern auf Englisch, aber auch, die dann teilweise ins Deutsche übersetzt worden sind. Und dann gibt es Fragmente auch in den männlichen Berichten von der Ostfront von teilweiser Wahrnehmung, von kleinen Bildern einer Partisanenaktion, von der behauptet wird es seien Partisanen. Und am nächsten Morgen geht der Autor, der frühere Soldat vorbei und sieht getötete Frauen, Kinder und alte Leute. Und das ist dann eine kognitive Diskrepanz, weil er dann fragt. Und dann wird er barsch angefahren von den lokalen SS-Leuten oder so was. Also: Mundhalten, weitergehen und sich da nicht einmischen!
Deutschlandfunk Kultur: Wie denken denn Überlebende des Holocaust über Deutschland und die Deutschen? Gibt es da Muster, die man erkennen kann, die immer wiederkommen?
Konrad Jarausch: Ja, ich meine, da gibt es ein erhebliches Spektrum.
Was interessant ist, was für mich interessant ist, ist, dass eine ganze Reihe von ihnen irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg von den 60er Jahren an, also nicht nur in den 50er Jahren, aber dann in den späteren 60er, 70er und 80er Jahren dann auch wieder Deutschland besucht hat. Unter denen gibt es unterschiedliche Reaktionen.
Es gibt eine Familie, Pelzhändler aus dem Ruhrgebiet, die dann nach Amerika ausgewandert sind. Der Sohn kommt dann wieder zurück und wird zwar von dem lokalen Bürgermeister in allen Ehren empfangen und hofiert usw. Aber er hat das Gefühl, diesen Deutschen ist nicht zu trauen. Sie haben die Familie ausgestoßen, verfolgt. Warum soll ich ihnen jetzt glauben, wenn sie schön Kind bei mir machen.
Aber es gibt auch ein anderes Extrem von sogar Überlebenden aus Israel, die zurückkommen und die sozusagen diese selbstkritische deutsche Geschichtskultur wahrnehmen und dann plötzlich auch wieder Anknüpfungspunkte finden in ihrem Heimatort und dann das Gefühl haben, wenn sie wieder zurückgehen, dass ihr Leben jetzt gerundet ist, dass eine Sache, die nicht abgeschlossen war, irgendwie zum Schluss gekommen ist.
Aber die Herkunft und das, was ihnen widerfahren ist, ist bei vielen von ihnen nicht weggegangen. Und es gibt von Peter Gay den Satz: "Es ist wie Glasstückchen…"
Deutschlandfunk Kultur: Peter Gay, ein wichtiger amerikanischer Kulturhistoriker.
Konrad Jarausch: Ja, genau, Peter Fröhlich, umbenannt auf Englisch, weil man das nicht aussprechen konnte, dass sozusagen sein Deutschsein wie "Glassplitter in der Haut" war, dass es also Jahrzehnte gedauert hat, bis er damit fertig geworden ist.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben eben die Kultur der Selbstkritik angesprochen in Deutschland. Aber diese Autobiographien, die Sie benutzen von nichtjüdischen Deutschen, offenbaren oft ein ziemlich apologetisches Geschichtsbild, das sich von der öffentlichen Erinnerungskultur doch sehr unterscheidet. – Was ist da für ein Mechanismus am Werk?
Konrad Jarausch: Das war mir sehr wichtig, auf diese Ebene der gesellschaftlichen oder ehre privaten halbgesellschaftlichen Erinnerung zu kommen, weil die Entwicklung der kritischen öffentlichen Geschichtskultur eine der großen Leistungen der Bundesrepublik ist – von Intellektuellen, von Politikern, von Wissenschaftlern usw. Aber sie ist immer in der Spannung gewesen mit dem, was in den Familien erzählt worden ist über das Dritte Reich.
Das hängt mit dem Topos des deutschen Leidens zusammen, wo bei kritischen Intellektuellen deutsches Leiden eigentlich nicht stattfinden darf. Und es stimmt einfach nicht. Deutsche haben gelitten, auch Täter leiden an den Konsequenzen ihres Tuns, zumindest manche von ihnen. Und mir war es wichtig, diese Ebene zu erschließen, wie sich daraus dann die Frage ergibt, welches Leiden ist wichtig, und sich aus dem deutschen Leiden auch erschließen lässt, warum eine ganze Reihe von normalen Deutschen dann zu Einsichten gelangt ist, dass Krieg keine gute Sache ist.
Also, wo man selber erfrorene Füße hatte oder irgendwie ausgebombt wurde oder vergewaltigt wurde, dann hat das doch irgendwelche Konsequenzen auch in der Beurteilung von Dingen.
Versäumnisse der akademischen Geschichtsschreibung
Deutschlandfunk Kultur: Oft wurde aber - wenn ich mich mal zurück erinnere, wie das war als Kind in den 60er Jahren, was ich so hörte von meinen Onkeln, die Soldaten im Zweiten Weltkrieg waren - das deutsche Leid instrumentalisiert zur Schuldabwehr und zur Relativierung. Wie kann man denn da überhaupt noch sinnvoll trennen?
Konrad Jarausch: Ja, die Verbindung muss man herstellen. Man muss fragen nach den Ursachen dieses Leides. Also, das Leid als solches ist meines Erachtens vorhanden. Es ist natürlich, wie Sie gerade sagten, in der sogenannten Vergangenheitspolitik zumindest in den 50er Jahren bis in die 60er, 70er Jahre hinein noch weitgehend abgelehnt worden. Aber man kann es schaffen. Und die Gedenkstättenlandschaft schafft das ja auch, die Verbindung herzustellen und zu fragen: Warum habt ihr denn gelitten? Warum sind die Ostgebiete denn verloren gegangen? Warum musstet ihr fliehen? Warum sind eure Kameraden gestorben, so dass aus euerm Jahrgang der Abiturklasse oder sowas sozusagen nur ein Drittel überlebt hat?
Ich finde schon, das ist sozusagen ein Versäumnis der akademischen Geschichtsschreibung, nicht auf diese Ebene zu gehen, sondern zu sagen, ihr dürft nicht so denken. Das läuft nicht. Leute lassen sich so nicht überzeugen. Sondern was man machen muss, ist zu fragen: Was habt ihr damals gemacht? Was habt ihr damals gedacht? Überlegt euch doch mal, wo kommt das her? Welche Konsequenzen hatte das?
Deutschlandfunk Kultur: Also, Stalingrad ist ohne den Überfall auf die Sowjetunion nicht denkbar. Punkt.
Konrad Jarausch: Ja, genau. Und die Vertreibung ist auch ohne ethnisches cleansing und ohne den Holocaust nicht denkbar. Das sind Zusammenhänge, die man herstellen muss.
Und es gibt glücklicherweise doch auch eine aktive Minderheit der Zeitgenossen, der Weimarer Alterskohorte, die dann nach ihrer Pensionierung wirklich sich ernsthaft mit sich auseinandergesetzt hat. Gut. Es gibt dann immer wieder Floskeln. Es gibt Tropen der Erinnerung, die verkleinernd sind. Wir sind eine verratene Generationen. Wir sind beschissen worden von den Nazis usw. Wir waren an nichts schuld. Das gibt es, aber es gibt auch andere Leute. Ich habe da die drei BDM-Erinnerungen im Kopf, bei denen Leute Nervenzusammenbrüche hatten als pensionierte Leute, weil sie dann angefangen haben, ihre Tagebücher zu lesen aus dem Dritten Reich und es überhaupt nicht fassen konnten, dass sie dieselbe Person waren.
Und es gibt auch ein privates gesellschaftlich induziertes Lernen in den Jahrzehnten dazwischen.
Deutschlandfunk Kultur: Sie sagen, dass dieses apologetische Geschichtsbild in bestimmten Nischen überdauern konnte, auch wenn viele Intellektuelle das eben nicht wollten.
Zum Beispiel bei den Vertriebenenverbänden, das nennen Sie als ein Milieu, in dem das überlebt und überdauert hat. – Erklärt das, wie solche Narrative jahrzehntelang unter der Oberfläche schlummern? Man wähnt sie einfach als völlig marginal. Und dann brechen sie auf in der Form von Pegida, AfD und Rechtsradikalismus.
Konrad Jarausch: Ja, es ist erschreckend. Ich meine, diesen Reflex teile ich durchaus. Was vorher nicht möglich war, war, solche Gedanken in der Öffentlichkeit zu artikulieren. Ich würde da aber trennen wollen zwischen einem harten Kern von Neo-Nazi-Traditionen als gesellschaftliche Gruppe und einem etwas breiteren Umfeld, was eher den Reflex hat: Genug ist genug. Wir haben uns genügend entschuldigt usw. Und wir wollen vom Ausland nicht immer hören, dass wir die Schlimmsten gewesen sind. – Und mittlerweile ist es auch die dritte Generation. Das heißt, die Tätergeneration ist ja physisch nicht mehr vorhanden, zumindest auf irgendwelchen mittleren und höheren Ebenen, so dass auch ein gewisser Überdruss da ist. Es gibt auch eine Reaktion auf die Gedenkstätten, die Schulklassenfahrten, dass man einfach das nicht mehr Ernst nehmen will.
Ich denke, da liegt ein Fehler in der öffentlichen Diskussion, weil man versucht hat in Deutschland, Demokratie über Gegenbilder, das heißt, über Nichtdemokratie, über Diktatur und über Verbrechen jungen Leuten nahe zu bringen.
Junge Leute brauchen positive Leitbilder. Sie brauchen Demokraten, Leute aus dem Widerstand usw. Das heißt, ich meine welche, die eben nicht im Dritten Reich für das Regime waren, um positiv zu zeigen, wie wichtig es ist, Freiheit zu unterstützen, soziale Solidarität zu üben usw.
Deutschlandfunk Kultur: Ich möchte jetzt mal auf das Bild von der Bundesrepublik Deutschland und auch der DDR kommen nach 1945, Deutschland nach 1945. – Wie prägt denn die Erfahrung dieses totalen Zusammenbruchs, der ja einfach nicht mehr abzuleugnen war 1945? 1918 konnte man ihn noch leugnen und tat es auch. Wie prägt diese Erfahrung den Blick dieser Generation, die Sie untersucht haben, auf die neue Demokratie in der Bundesrepublik?
Für viele gab es ein Erweckungserlebnis
Konrad Jarausch: Ja, zunächst einmal scheut gebranntes Kind Feuer. Das heißt, nach Schelsky gibt es die skeptische Generation. Und im Westen habe ich das Gefühl…
Deutschlandfunk Kultur: … Der Soziologe Helmut Schelsky…
Konrad Jarausch: Ja. Habe ich das Gefühl, dass es mehr ein Reflex ist, sich aus der Politik herauszuhalten. Das heißt, man versucht sein privates Leben wieder in Ordnung zu bringen. Wenn man sich der jungen Männer mal annimmt, einige von ihnen waren vier, fünf Jahre im Krieg, hatten Not-Abitur, hatten also keine vernünftige Ausbildung hier im Dritten Reich gehabt, mussten also als Mittzwanzigjährige wieder die Schulbank drücken, mussten Abitur nachholen und dann studieren, wollten dann aber eben auch Familien gründen und Karriere machen usw. – Ich denke, diese Dinge, ein privates ziviles Leben zu haben, was nicht durch Krieg, Depression oder Diktatur beeinflusst wird, beeinträchtigt ist, war, glaube ich, das überwältigende Bestreben in der Nachkriegszeit.
Und mein Argument in dem Kapitel über die Bundesrepublik ist, dass es der Bundesrepublik gelungen ist, private Räume zu öffnen, in denen dieses Leben rekonstruiert werden konnte, während in der DDR der antifaschistische Ansatz viel stärker war und die Gesellschaft viel stärker politisiert war und es viel weniger Raum gab, eine Privatexistenz wieder aufzubauen. Man musste sich dem Staat gegenüber bekennen – auf der einen Seite oder auf der anderen Seite. Wenn man es nicht wollte, dann ist man über die Grenze, solange man konnte. Und wer da blieb, musste irgendwie sich sozusagen mit dem System positiv anfreunden.
Deutschlandfunk Kultur: Die Entzauberung dieser Form des sozialistischen verordneten Antifaschismus, die, kann man sagen, kommt wirklich erst richtig hoch mit dem Bau der Mauer, als offensichtlich wird, dass dieses Regime nicht in der Lage ist, das zu halten, was es verspricht.
Aber zunächst mal, nach 1945 nur betrachtet, erscheint ja paradox: Die totale Niederlage verschaffte beiden Herrschaftssystemen in Ost und West, also Demokratie und Sozialismus, zunächst Legitimation. Denn es gab ja auch viele Menschen im Osten, die sagten: Gut, ich bin zwar Sozialdemokrat, aber ich mache jetzt mit den Sozialisten gemeinsame Sache und versuche daraus was zu machen.
Was sagen denn die ostdeutschen Zeitzeugen in Ihrem Buch darüber, über diese Phase und dann über ihre Desillusionierung? Wie funktionierte das?
Konrad Jarausch: Ich meine, eine ganze Reihe von ihnen wie Christa Wolf oder Hans Modrow, hatten ein Erweckungserlebnis. Christa Wolf auf alle Fälle war eine begeisterte BDM-Jugendliche, hatte einen Nervenzusammenbruch und schreibt dann irgendwo, dass sie einen alten Antifaschisten kennengelernt hätte, und das ist bei Modrow ähnlich. Bei Modrow ist es, glaube ich, irgendwo in einem Gefangenenlager, der dann sozusagen die Welt neu erklärt.
Und wenn man ein sozusagen älterer Teenager ist, also junger Erwachsener in dieser Phase und das Weltbild, das man früher hatte, bricht zusammen, dann steht man vor einer Leere, einer Leerstelle, die sich irgendwie füllen möchte.
Der Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen ist, dass im Osten ein viel stärkeres Angebot von SED und FDJ kam, das sozusagen ideologisch stimmig eine Welterklärung bot, auf die man sich einlassen konnte. Aus demographischen Gründen alleine, weil ein guter Teil der Männer in mittleren und älteren Generationen weg war, gab es natürlich dann auch diese antifaschistischen Karrieren, wo junge Leute Mitte zwanzig plötzlich schon ganz verantwortliche Stellen übernehmen konnten.
Im Westen ist die Suche pluralistischer, konfuser. Da gibt es unterschiedliche Angebote. Da gibt es die CDU mit ihrer Abendlandsideologie. Da gibt es die SPD mit ihrer Arbeiterkultur. Da gibt es die kleine FDP. Und es gibt kirchliche Kreise. Es gibt sozusagen eine ganze Palette von unterschiedlichen Dingen und ironischerweise eine Umkehrung, weil die Bundesrepublik mit mehr Nazi-Belastung anfängt und im Osten sozusagen das bessere Deutschland am Anfang vorhanden ist – besonders für Intellektuelle. Bert Brecht, Stefan Heym, eine ganze Reihe von ihnen sind wieder nach Ostdeutschland zurück gegangen, weil sie nicht in diesem kapitalistischen postfaschistischen Westdeutschland leben wollten.
Der Prozess der Desillusionierung ist dann graduell. Der kommt dann über Disziplinierungen, wo man, wie der Herausgeber, wie Fritz Klein, der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, ist Mitte Dreißig. Und dann bekommt man dann stalinistische Dinge aufgebrummt. Irgendwann geht das nicht mehr. Also, irgendwann wird dann die Spannung….
Deutschlandfunk Kultur: Da gibt es ein berühmtes Buch von Wolfgang Leonhard, "Die Revolution frisst ihre Kinder". Dann wurde den Kindern irgendwann klar: das kann es nicht sein, was wir hier haben. – Wie war das denn im Westen? Also, im Westen machen ja dann die sozialistischen Studenten dem Kapitalismus oder der Demokratie zum Vorwurf, dass sie ja nur über Konsumismus die Demokratie erkaufen würde. Und dieses Misstrauen an der deutschen Demokratie ist ja bis heute auch geblieben insgesamt in dieser Gesellschaft – nicht ohne Grund.
Aber wie ordnen Sie das ein? Ist dieses Misstrauen weiterhin berechtigt, gerade mit Blick auf diese ganzen Bewertungen und Interpretationen der eigenen Geschichte, die Sie da gelesen haben?
Konrad Jarausch: Die Ironie der Angelegenheit ist ja, dass es eine Art von Stufenprozess war. Das, was die Gründungsgeneration der Bundesrepublik gewesen ist, hat die materielle Basis gelegt, hat die institutionelle Basis gelegt. Und dann sind es ihre Kinder, die 68er, die Revolte machen, die sagen: Aber das kann’s nicht sein – Auto, Kühlschrank, Einfamilienhaus oder sowas –, weil sie natürlich schon im Wohlstand aufwachsen und ihnen dann sozusagen die Überreste der autoritären Verhaltensweisen der Eltern auf die Nerven gehen
Ich meine, um eine persönliche Antwort einzuflechten: Ich bin 1960 aus ähnlichen Gründen nach Amerika gegangen, weil mir einfach die Adenauer-Gesellschaft zu sehr auf die Nerven ging. Und das ist, glaube ich, dann "mehr Demokratie wagen" in der zweiten Stufe, also über die Kanzlerdemokratie hinaus eine sozialdemokratische Demokratie, partizipatorische Demokratie. Und die dritte Stufe war dann mit den Grünen, mit den neuen sozialen Bewegungen, die sozusagen sich dann auch in der großen Arbeiterpartei nicht wiederfinden und andere gegenkulturelle Formen der Basisdemokratie ausprobieren wollen.
Also, es ist in der Bundesrepublik ein Prozess der Veränderung, der inneren Demokratisierung, so habe ich das genannt. Also, die Leute müssen in der Demokratie ankommen, nicht nur zum Wählen gehen und irgendeiner Partei zugehören, sondern sie müssen sich auch als Demokraten fühlen und verhalten. – Das ist ein Prozess, der über einige Generationen geht.
Die Praxis des kollektiven Lernens muss weitergegeben werden
Deutschlandfunk Kultur: Bei den meisten Menschen, die da ihre Autobiographie beigesteuert haben, ist es ja so, dass im Endeffekt ein Konsens besteht über das, was Sie gerade nannten, Demokratie, auch über die deutsche Vergangenheit, den Holocaust, den Nationalsozialismus. Das ist ein relativ breiter Konsens, auch wenn er unterschiedlich ausgeprägt ist.
Dieser kritische Konsens, kann der denn diese Generation von Menschen überdauern? Oder verschwindet der auch mit dieser Erfahrung und diesem, wie soll ich sagen, diesem lebenslangen Lernen an der deutschen Katastrophe von 1945 und dem Holocaust?
Konrad Jarausch: Das wissen wir noch nicht. Es gibt ja dieses Bonmot, dass Historiker schlechte Propheten sind, vor allem über die Zukunft, weil sie im Auto dauernd in den Rückspiegel gucken und vorne ist die Windschutzscheibe oder so was überklebt. Sie sehen ja auch nicht mehr als andere Leute.
Es ist eine Aufgabe, ich denke, die als Aufgabe ernst genommen werden muss. Es ist, glaube ich, kein Automatismus. Es wird in den Familien immer noch etwas tradiert. Und ich denke auch, durch internationale Aufenthalte, durch Bekanntwerden mit Jugendlichen aus anderen Ländern, die dann immer über die deutsche Vergangenheit auch fragen und was wissen wollen usw., dann kommen die jungen Deutschen teilweise auch in Situationen, die ihnen nicht wohl sind. Auf Englisch würde man sagen they are emberassed (Anm. d. Red. "es ist ihnen peinlich") , dass sie deutsch sind.
Man kann sogar soweit gehen, wenn man in einer Gruppe von jungen Europäern fragt, was sie sind, die einzigen, die dann sagen, ich bin von Europa, das sind die Deutschen. Alle anderen sagen, ich bin Franzose, ich bin Engländer, Niederländer usw. Also, sozusagen die Spuren dieser Angelegenheit sind in der Kultur drin, bleiben drin. Und die Frage ist, wie geht man damit um.
Ich denke, es ist eine große Aufgabe, das kollektive Lernen, das gesellschaftliche Lernen aus dem 20. Jahrhundert weiterzugeben fürs 21. Jahrhundert. Das heißt nicht, dass alle Lösungen des 20. Jahrhunderts schon Globalisierungsantworten sind oder Umweltantworten sind usw. Aber wenn man ein bisschen sich selbst relativieren kann und wissen kann, dass Demokratie verwundbar ist, dass sie fehlschlagen kann, dass man sie nicht einfach für selbstverständlich erklären kann, sondern dass es Einsatz braucht, ich denke, dann ist schon viel gewonnen.
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