Höflichkeitsformen

Die falsche Nähe des "Du"

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Wird heutzutage zu schnell geduzt? © imago/Mark Airs
Von Sieglinde Geisel |
Sind wir heutzutage allzu schnell beim "Du"? Ist das nicht eine Form der Distanzlosigkeit? Und überdeckt es nicht die wahren Hierarchien, wenn selbst der Chef geduzt wird?
"Finden Sie das manchmal unangenehm, wenn Sie geduzt werden?"
Mann 1: "Früher fand ich das übergriffig, inzwischen habe ich mich, glaube ich, daran gewöhnt."
Mann 2: "Beim Siezen spürt man eindeutig das eigene Alter, vor allem, wenn das jemand Jüngeres macht."
Mann 3: "Dieses vorschnelle Du ist übergriffig … Wenn mir was verkauft wird, muss ich auch nicht so tun, als ob wir Freunde wären."
Frau 1: "Ich duze gern, ich sieze auch sehr gerne, ich finde den Sprachaufwand des Sie unglaublich reizvoll."
Kein Mensch kann sagen, wann im Deutschen die Höflichkeitsformen erfunden wurden. Sicher ist, dass man sich spätestens seit dem 9. Jahrhundert duzte und ihrzte, im 16. Jahrhundert kam dann die dritte Person Singular auf – "Hat Er gut geschlafen?" – und im 17. Jahrhundert das Plural-Sie – "Haben Sie gut geschlafen?" –, bis der Universalgelehrte Georg Christoph Lichtenberg schließlich feststellte, die Deutschen sagten ein und derselben Person "bald 'Du', bald 'Er', bald 'Ihr', bald 'Sie'".

Früher wurden die Eltern gesiezt

Die Engländer und Franzosen könnten darüber nur lachen. Geblieben ist uns Heutigen von all dem nur Du und Sie. Was die Sache nicht unbedingt einfacher macht:
Mann 3: "Vor allem ist es nicht einfach herauszufinden, wann du und wann Sie."
Zwischen Duzen und Siezen können Welten liegen. So war es im 18. Jahrhundert etwa undenkbar, dass Kinder ihre Eltern duzen. Selbst Goethe hat seine Mutter in Briefen konsequent gesiezt – zuerst im Singular, dann im moderneren Plural –, während sie ihn geduzt hat.
Ich kenne niemanden, der seine Eltern siezt, doch auch die Eltern meiner Freunde zu duzen, wäre mir als Kind nie eingefallen. Heute ist es auch damit vorbei: Mir käme es befremdlich vor, wenn mich die Freunde meiner Kinder siezen würden. Auch den heute 19-jährigen Bent habe ich von Anfang an geduzt.
"Wenn ich scharf nachdenke, gibt es keine Eltern von Freunden, die ich nicht duzen würde. Es gibt eine Ausnahme, der Vater eines Freundes ist Professor, und den sieze ich immer noch, was insofern komisch ist, als wir uns auch auf Feiern ab und zu sehen. Und das ist dann schon seltsam."

Das "Du" als "Tyrannei der Nähe"

Ab 16 Jahren werden Schüler von ihren Lehrern gesiezt. Ich hatte das seinerzeit als Wertschätzung empfunden, doch auch das hat sich geändert.
"Es war mehr eine Konfrontation. Wenn ich mit jemandem per du bin und dann gesiezt werde, dann ist das seltsam. Es gab auch einige Lehrer, die wir immer wieder ermahnt haben, uns doch bitte zu duzen, weil uns das besser gefiel, ich glaube, so eine gewisse Leichtigkeit tut dem Unterricht auch gut."
Das Du kann Solidarität ausdrücken, so etwa das Genossen-Du der Gewerkschaften und linken Parteien, ebenso das Bergsteiger-Du oder das Du auf dem Segelschiff. In den sozialen Medien begegnet man neuerdings dem "digitalen Du", ein missverständlicher Import aus dem Englischen.
Das Verhältnis zum Duzen ist jedoch auch eine Generationenfrage. "Gib mir mein Sie zurück!", lautet der Titel einer Polemik, die der Journalist und Mitfünfziger Holger Fuß vor einiger Zeit in der Zeitschrift "Cicero" geschrieben hat. Holger Fuß sieht im zwanghaften Duzen eine "Tyrannei der Nähe":
"Es ist eine Distanzlosigkeit, die vor allem unter Fremden unangenehm wird, weil ich bin ja sozusagen gar nicht mehr der Entscheidung fähig, ob ich jemanden auf freundliche Distanz halte oder ob ich ihn näher an mich heranlasse."

Das "Du" in der Angstkultur

Holger Fuß sieht in der Kultur oder Unkultur des Duzens jedoch mehr als bloße Distanzlosigkeit, zumal dann, wenn es um das Duzen in der Arbeitswelt geht.
"Wenn ich einen Vorgesetzten duze, der mich am nächsten Tag rausschmeißen kann, dann haben wir keine Nähe hergestellt, sondern dann haben wir was gegaukelt."
Früher verbrachten viele Menschen ihr gesamtes Arbeitsleben in der gleichen Firma, doch damals wäre es niemandem eingefallen, den Chef zu duzen. Heute kann sich kaum mehr jemand seines Arbeitsplatzes sicher sein.
"Und in dieser Angstkultur hat das Duzen natürlich eine ganz bestimmte Funktion, nämlich es kuschliger zu machen, es vertrauter zu machen, uns zu suggerieren: Es ist alles gar nicht so schlimm, die sind ja alle so nett."
Höflichkeitsformeln dienen letztlich dazu, Hierarchien abzubilden. Gerade mit dem vermeintlich solidarischen Du kann man Hierarchien jedoch auch kaschieren. Das sollte uns zu denken geben.
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