Honig und Stachel

Von Thomas Kroll |
In seinem Buch "Der Honig und der Stachel" erklärt der liberale Rabbiner Walter Rothschild das Judentum auf rund 400 Seiten. Die Spannbreite reicht von Vorschriften für den Gottesdienst bis zu Israels Bedeutung als Volk, Land und Staat.
"Mittelalterliche Rabbiner redeten aus ihrer Zeit und ihrer Perspektive. Ich denke, moderne Rabbiner müssen das auch tun."

Das sagt Walter Rothschild. Er stammt aus England und ist Rabbiner der liberalen Gemeinde "Or Chadasch" in Wien. Zudem besucht er regelmäßig die jüdischen Reformgemeinden in Freiburg und Giesen bei Hildesheim, in Köln und Halle zu Gottesdiensten und religiösen Unterweisungen.

Rabbi Rothschild: "Man kann nicht alles über eine Religion in einem Buch lernen. Viele machen diesen Fehler. Sie denken: Oh, ich habe die Bibel gelesen. Jetzt verstehe ich das Judentum. Ach, Quatsch."

Deshalb legt Rabbi Rothschild ein weiteres gewichtiges Buch vor. Dort die 2000 Jahre alte Bibel, hier seine aktuelle, kritische Einführung in das Judentum auf gut 400 Seiten.

Rothschild: "Wir brauchten ein Buch für die heutige Zeit aus moderner liberaler Perspektive."

"Der Honig und der Stachel" lautet der Titel von Rothschilds umfangreichem Werk. Der geht zurück auf ein israelisches Kinderlied von Naomi Schemer.

Rabbi Rothschild ist überzeugt: Im Leben gibt’s immer irgendwo einen Stachel. Das Leben hat beide, Honig und Stachel. Das Judentum auch.

"Viele Einleitungen, Einführungen ins Judentum sind für mich viel zu süß, süß und stickig – also wie Honig. Alles ist wunderbar, man sieht diese schönen Bilder: Papa, Mama, zwei Kinder bei den Schabbatkerzen. Die Welt ist noch heil. Alles ist wunderbar. Und die Wirklichkeit ist natürlich viel anders."

Rothschild versucht mit seinem Buch einen ungeschönten Blick auf jüdisches Leben in Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts. Auf der einen Seite beschreibt der Rabbiner etwa die Vorschriften, Möglichkeiten und Schönheiten des Sabbat-Gottesdienstes, sei es in der Synagoge, sei es daheim. Auf der andern Seite verschweigt er weder den Holocaust und dessen Folgen, noch umgeht er das Stichwort "Israel" und dessen dreifache Bedeutung als Volk, Land und Staat.

"Für einen Kurs über das Judentum ist ein Kapitel über Israel sehr notwendig. Man kann andere Meinungen haben wie ich. Das ist völlig okay, aber man muss mindestens eine Meinung haben."

Entstanden ist das Buch in zahlreichen Kursen für Menschen, die Juden werden oder zum Judentum übertreten möchten. Für weitere Interessierte und Neugierige bietet das Buch ebenfalls jede Menge Stoff.

"Daraus kann man lernen Grundlagen zu jüdischen Gottesdiensten, Liturgie, Feiertage, Bräuche zu Hause; es geht um koscheres Essen, Mezuzah, die Sachen, die man tragen soll: Gebetsschal, Teffilin, Kopfbedeckung, klein bisschen über Geschichte, klein bisschen über Israel, bisschen über die Konzept von Mizwah, also die Gebote, wie man die Welt hoffentlich besser machen kann."

Probe aufs Exempel: In Dani Levys Film "Alles auf Zucker" fällt oft der Ausdruck "Schiw’ah". Dazu liest man bei Rothschild im Glossar die Übersetzung: "Sieben; Trauerzeit, sieben Tage lang". Leider fehlt ein Stichwortverzeichnis mit Seitenangaben. Doch findet man schließlich ausgiebige Informationen im Kapitel "Der jüdische Lebenszyklus", konkret: im Abschnitt: "Trauerzeit":

"Die erste intensive Phase ist die Schiw’ah (hebr[äisch für] sieben). Während dieser ersten sieben Tage ist der Trauernde von jeglicher sozialen Pflicht oder Verantwortung befreit. Er braucht keinen Gottesdienst zu besuchen, muss sich nicht rasieren, waschen oder wie aus dem Ei gepellt aussehen oder den guten Gastgeber spielen – nein, er darf und soll sich ganz seinen Gedanken, Tränen und seiner Trauer hingeben können."

Wenig hingegen findet man in "Der Honig und der Stachel" zur Kabbalah. Das ist die mystische Tradition des Judentums.

Rothschild: "Ich finde diese Obsession mit Mystik auch eine Flucht, ein escapism, weg von den echten Problemen. Man suchte eine Welt weg vom Stachel in der Süßigkeit."

Rothschild schreibt nicht nur über all die praktischen Dinge, die das Judentum ausmachen, über Riten und Gebräuche, Gebote und Verbote. Zwischen den Zeilen sowie in einem eigenen Kapitel findet man immer wieder theologische Anregungen und grundsätzliche Überlegungen – etwa zum Gottesbild.

"Das Judentum zeichnet sich durch verschiedene Gegensätze und Widersprüche aus. Irgendwie kommen wir trotzdem klar. Einer davon ist der zwischen Gott und den Menschen, ein anderer ist der zwischen einem Gott der Gerechtigkeit und einem Gott der Barmherzigkeit – einer, der richtet und einer, der vergibt, aber es ist derselbe Gott."

Rothschild: "Das kommt häufig vor im Judentum: Wir nennen Gott Avenu malkenu, unser Vater, unser König. Zu dem Vater hat man eine intime Beziehung, er ist selber persönlich verantwortlich, dass man überhaupt existiert. Und zum König redet man als Untertan, distanziert. Man hat Verpflichtungen, nicht unbedingt Liebe, aber Verpflichtungen."

Rothschilds angenehm lesbares Buch "Der Honig und der Stachel" macht vertraut mit religiöser Praxis, theologischem Denken und "Lebensphilosophie" des liberalen Judentums, mit dessen Tradition und mit dessen Bemühen um zeitgemäße Inkulturation im 21. Jahrhundert.

Ein Jude würde sagen: Rothschilds Buch ist kein "Kol Bo". Es ist kein Buch, das Alles enthält. Aber sehr vieles. Das reichhaltige Nachschlagewerk ist geprägt von profunder Kenntnis, Offenheit und Toleranz, Witz und Esprit – und regt an zu eigenem Denken und kritischer Nachfrage.

Walter Rothschild: Der Honig und der Stachel. Das Judentum – erklärt für alle, die mehr wissen wollen
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009
433 Seiten, 29,95 Euro