Identitätsdebatte in Polen

Stolz, selbstbewusst - und frustriert

Eine junge Frau protestiert gegen die Justizreform in Polen
Protest gegen die Justizreform: Viele junge Polen sind wütend auf die Regierung. © picture alliance / Jan A. Nicolas/dpa
Von Florian Kellermann |
Jung, freiheitsliebend und wütend - Polens Jugend ist innerlich zerrissen: Einerseits ist sie stolz auf ihr Land, andererseits schürt die Regierung Frust und Verzweiflung. Doch verlassen wollen die jungen Menschen ihr Land nicht.
Die Pole Mokotowskie, ein Park im südlichen Zentrum von Warschau. Hunde planschen in einem kleinen Teich, die Menschen erholen sich am Feierabend. Auf einer Parkbank sitzen zwei junge Männer und schlürfen aus Bierdosen. Eigentlich ist es verboten, außerhalb von Restaurants in der Öffentlichkeit Alkohol zu trinken. Eigentlich …
"Das ist eine unserer Nationaleigenschaften: Wenn wir ein Verbotsschild sehen, denken wir schon daran, wie wir es umgehen können. Diese Regel ist ja auch nur wegen derer gemacht, die sich nicht benehmen können, wenn sie betrunken sind. Wir beide sind anders."

"Wir lieben es, uns zu beklagen"

Sagt Michal, 30 Jahre alt, und der 34-jährige Robert nickt. Die beiden sind froh, dass sie im Park ausruhen können. Denn sie beiden haben keine leichte Arbeit, sie treiben Schulden ein für ein Inkasso-Unternehmen:
"Viele Menschen, mit denen wir tun haben, sind frustriert. Sie sehen, was die anderen haben und wissen, dass sie das nicht erreichen können. Das macht sie nervös."
Wer sind die Polen heute, was zeichnet sie aus? Auf diese Frage finden die beiden keine leichte Antwort. Ihnen fallen einige Widersprüche auf: Die Polen mögen Regeln nicht, aber sie sind fleißig und passen sich an. Das sehe man an den Emigranten in Großbritannien oder auch in Deutschland. Sie seien Patrioten, und doch schimpfen sie auf ihr Land, sagt Michal:
"Wir lieben es, uns zu beklagen. Wir sehen nicht, was gut ist und schätzen es nicht. Hinzu kommt dieses Gefühl, dass der Einzelne nichts ändern kann am Großen und Ganzen. Am Ende sind es doch die Seilschaften, die entscheiden, denken viele. Wir sind in den 1980er -Jahre geboren und haben nicht im kommunistischen System gelebt, aber wir sind noch in dieser Atmosphäre erzogen."

Auch die Senioren lernen Englisch

Obwohl sie es nicht mehr selbst erlebt haben, kennen die beiden auch die guten Seiten des Lebens in der Volksrepublik Polen: Die Menschen mussten zusammenhalten. Der eine hat zu Hause heimlich Schnaps gebrannt, der andere Brot gebacken, der dritte wusste, wann es im Möbelgeschäft eine neue Lieferung gibt. Heute kämen ganz andere Eigenschaften der Polen zum Vorschein, sagt Robert:
"Wir sind stolz. Wenn ich im Ausland bin und uns mit anderen Nationen vergleiche, dann sehe ich auch: Wir verfolgen unsere Ziele sehr hartnäckig. Wir sind bereit, viel für unsere Ziele zu opfern. Wir kämpfen um das, was uns zusteht, und wir geben nicht auf."
Eines der Ziele: So zu sein wie die Menschen im Westen:
"Gerade die Jungen sind sehr westlich. Kaum einer spricht da nicht englisch. Selbst unsere Opas fangen an, Englisch zu lernen, gehen in Seniorenkurse. Durch die EU sind Programme zu uns gekommen, die ältere Menschen fördern, sie immer wieder in die Gesellschaft integrieren."
Und dann ist da noch die Frage nach der Freiheitsliebe. Im 19. Jahrhundert erhoben sich die Polen immer wieder gegen die Mächte, die ihr Land geteilt und vereinnahmt hatten. Und auch vor 73 Jahren griffen sie, in einer fast ausweglosen Situation, in Warschau die deutschen Besatzer an; über 150.000 starben im sogenannten Warschauer Aufstand. Um Freiheit ging es auch der Solidarnosc-Bewegung in den 1980er-Jahren, der größten Oppositionsbewegung gegen ein kommunistisches Regime. Freiheitsliebe - ja, aber jeder interpretiere sie anders, meint Robert:
"Bei uns muss man sehr aufpassen, was man sagt, selbst bei Familientreffen. Der eine ist sehr religiös, der andere sieht das locker. Auch wenn es um Politik geht, werden die Konflikte sofort heftig, gegensätzliche Meinungen lassen viele Polen nicht gelten."

Der Staat wird kritisch beäugt

Aber nicht nur die Angestellten einer Inkasso-Firma blicken sehr kritisch auf die eigene Nation. Auch Intellektuelle zeichnen ein eher dunkles Bild. So Adam Boniecki, Herausgeber der liberal-katholischen Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny". Als ihn eine Gruppe von Studenten interviewte, sagte er:
"Die Polen sind immer noch durch das Trauma des vergangenen halben Jahrhunderts charakterisiert. In der kommunistischen Volksrepublik Polen ist eine Haltung entstanden, die für andere, seit Jahrhunderten freie Ländern schwer vorstellbar ist. Ein Anspruchsdenken, ein allgemeines Misstrauen, ein negatives Verhältnis zum Staat, der ständig in Frage gestellt wird. Als ob wir immer noch einen Staat hätten, der uns von unseren Nachbarn aufgezwungen wäre."
Zurück in die Pole Mokotowskie, den Park in Warschau. Auf der anderen Seite des kleinen Teichs sitzen zwei junge Frauen. Jola studiert Archivwesen, Ola Iberoromanistik. Die beiden kommen aus der Gegend von Lublin, aus Ostpolen, einer der ärmeren Regionen in Polen. Und einer, die als sehr katholisch geprägt gilt, als sehr konservativ. Trotzdem ist auch für die beiden Polen nur noch als Teil des vereinten Europas denkbar:
"Dank der EU entwickelt sich unser Land, es kommen viele Investitionen. Klar, wir verstehen es auch, gute Projekte zu schreiben und die Fördermittel zu nutzen. Ich bin mit einem Europa ohne Grenzen aufgewachsen und kann es mir nicht anders vorstellen. Vor kurzem war ich in der Slowakei und bin gewohnt, dass das eine Reise ist wie in eine andere Stadt."

Frei und flexibel

Was fällt Jola auf, wenn sie aus so einem Urlaub zurück nach Polen, in ihre Heimat kommt?
"Wir hatten einen Schüleraustausch mit Deutschland. Wenn es hieß, dass eine Veranstaltung um neun Uhr beginnt, dann ist dort die ganze Gruppe um neun Uhr da. Wir Polen sind da erst so langsam eingetrudelt. Wir fühlen uns freier, aber wir kommen so auch nicht so schnell vorwärts. Wir könnten vieles schneller erledigen, wenn wir pünktlicher wären."
Ola schmunzelt. Das sei wohl wieder so ein Fall, in dem Polen ihr Land übermäßig kritisch sehen, meint sie. Tatsächlich ist die Wiese, auf der die beiden sitzen, akkurat geschnitten, der Abfall liegt hübsch ordentlich in den Mülleimern.
Demonstranten vor dem Präsidentenpalast in Warschau.
Demonstranten vor dem Präsidentenpalast in Warschau.© picture alliance / dpa / Jan A. Nicolas

Wut auf die Regierung

Ortswechsel: Der Erlöser-Platz in Warschau, das Mekka der Hipster, der jungen Warschauer aus der gut verdienenden Mittelschicht. Am Tisch eines italienischen Restaurants sitzen Mikolaj und Pawel. Sie wollen sich gar nicht lange mit der Frage aufhalten, wer die Polen eigentlich seien. So angefressen sind sie von der aktuellen Regierung:
"Gerade diejenigen, die am meisten von der Europäischen Union haben, protestieren nicht gegen die antieuropäische Politik der Regierung. Die Bauern, die Unternehmer. Wir werden Millionen Euro an Strafe zahlen müssen, weil wir uns nicht an Urteile des EU-Gerichtshofs halten, nur weil ein Parteivorsitzender, der Katzen mag, das so will."

Die Jungen wollen bleiben

Sagt Pawel, 30 Jahre alt, Verkaufsleiter in einem Modegeschäft. Bloß gut, dass Polen in der EU sei und er das Land schnell verlassen könne, wenn es noch schlimmer werde, meint der 26-jährige Mikolaj. Der Leiter eines Restaurants wirft den Polen vor, dass sie sich von den Politikern kaufen ließen:
"Vor allem in den kleinen Städten und auf dem Land stehen die Menschen deshalb hinter der Regierungspartei PiS. Sie haben das neue Kindergeld bekommen. Umgerechnet 110 Euro pro Kind. In Warschau ist das nichts. Sie werden wieder für die PiS stimmen, da bin ich mir sicher."
Beide, Pawel und Mikolaj, haben Freunde und Verwandte, die im Ausland leben. Sie aber wollen die Heimat eigentlich nicht verlassen. Auch wenn sie, wie viele Polen, ihre eigene Nation für zerstritten, für zu passiv und für nicht ordentlich genug halten. Aber wie bei vielen drückt sich wohl auch bei ihnen gerade in dieser Kritik ihre Zuneigung aus.
Außerdem in dieser Weltzeit:
Frankreich: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – wirklich?
Die Zukunft der Schotten: Den Briten näher oder der EU?
Die ganze Sendung zum Nachhören:
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