Ina Hartwig: "Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biografie in Bruchstücken"
S. Fischer, Frankfurt 2017
320 Seiten, 19,99 Euro
Porträt einer weltläufigen Intellektuellen
Ingeborg Bachmann gilt als weltentrückte "Schmerzensfrau" der deutschsprachigen Literatur. Auf solches Raunen verlässt sich Ina Hartwig nicht. In ihrer neuen Biografie über die Schriftstellerin wird sie erfrischend konkret – ihr Buch ist ein anekdotenreiches Zeitpanorama.
"Wer war Ingeborg Bachmann?" – mit diesem bodenständigen, äußerst unaufgeregten Titel gibt die Biografin Ina Hartwig die Richtung an: Fern von allem Pathos zeichnet die Publizistin und Kritikerin die Lebensstationen der österreichischen Dichterin nach. Und dieser Blick tut gut bei einer Autorin, bei der es die Mythenbildung leicht hatte: Bachmanns kometenhafter Aufstieg in den Fünfzigerjahren, ihre glamourösen Auftritte, ihre Beziehungen zu Paul Celan und Max Frisch und ihr rätselhafter Tod 1973 waren jahrzehntelang die Grundlage für immer neue Projektionen.
Mit all dem Raunen macht Ina Hartwig jetzt Schluss und sieht die Dichterin weder als "Schmerzensfrau", noch als "Einsame und Entrückte". Vielmehr konturiert sie in ihrer "Biografie in Bruchstücken" Bachmanns Lebensspuren zu einem vielfach gebrochenen Porträt.
Eindrückliches Zeitpanorama
Dabei öffnen sich immer wieder Zeitkapseln und entfalten ein eindrückliches Zeitpanorama der Fünfziger-, Sechziger- und frühen Siebzigerjahre. Interessant ist dabei, wie Ina Hartwig hier bekanntes Material der breits erforschten Dichterin neu liest, es dreht und wendet, um durch eine neue Perspektive mehr Schärfe zu erreichen.
So betrachtet sie eines der bekanntesten Bachmann-Portraits, veröffentlicht auf dem "Spiegel"-Cover 1954 hauptsächlich unter dem Blickwinkel, wer hier fotografiert und wer die "Wundermaschine" angeworfen hat. Es ist der Fotograf und Weltmann Herbert List, dem Bachmann ihren Kopf mit lässigem Kurzhaarschnitt in die Kamera dreht, ihre Augen kajalgeschminkt, der Mund dunkel, dazu ihr dunkler Rollkragen.
Es ist sein Blick auf eine neue intellektuelle Weiblichkeit, der das knabenhafte Mädchen in eine Ikone verwandelt. Wenn Ina Hartwig nun den dazugehörigen "Spiegel"-Artikel interpretiert, der von Geschichtsverdrängung und -klitterung der 50er-Jahre nur so strotzt, dann öffnet sich diese Zeitkapsel – und damit auch das Dilemma der Schriftstellerin, die ein unabhängiges Künstlerleben auf Augenhöhe mit ihren männlichen Kollegen führen wollte und daran scheiterte.
Reiche Anekdoten
Es ist weniger das Wissenschaftliche, sondern vielmehr das erzählend Anekdotische, das Ina Hartwigs Bachmann-Biografie ausmacht. Über mehrere Jahre hinweg hat sie Zeitzeugen, Freunde und Bekannte Bachmanns befragt, darunter Hans Magnus Enzensberger, Klaus Wagenbach oder den über 90-jährigen Henry Kissinger. Dass der ehemalige amerikanische Außenminister und konservative Republikaner mit der linksliberalen Dichterin ein "Vertrauensverhältnis" verband, ist allemal interessant.
Überhaupt, immer wenn Ina Hartwig ihre biografische Zeitzeugenschaft dicht am Bachmanntext einsetzt, ist sie überzeugend: Auf diese Weise kann sie einen in der Bachmann-Forschung oft zitierten Satz aus "Malina" neu lesen. "Es war Mord" heißt es am Ende des brutalsten Stück Prosa, das Bachmann geschrieben hat. Immer wieder wird dieser Satz als Anklage, am liebsten gegen Max Frisch gelesen. Ina Hartwig ergänzt nun ihre Lesart und findet das Wort "Selbstzerstörung" passender.
Bachmanns dunkle Seite
Mag Bachmanns Medikamenten- und Drogenabhängigkeit vielen Lesern bekannt sein, hier vertieft die Biografin in Wiederholungsschleifen, wie die Dichterin mit Drogenhändlern verkehrte, wie sie den "Untergrund" liebte oder den "schwulen Blick für schöne, schmutzige Männer" und Vergewaltigungsfantasien mit Dichterkollegen teilte. Diesen Nachdruck hätte die Biografie gar nicht gebraucht, um ein Dichterleben zu erklären, dass verschiedene, streng getrennte Lebensweisen kannte.
Umso wichtiger ist, und das macht ihre Bachmann-Biografie aus, dass man hier die Weltläufigkeit, die Intellektualität und vor allem die enorme Kraft der Dichterin wiederentdecken kann – und ihren Humor. Dieser Spur zu folgen, die einer ihrer befragten Zeitzeugen Hans Ulrich Treichel mit einer "Bachmann-Mappe mit selbstausgedachte Witzen" erwähnt, wäre lohnend. Bachmanns Witz, ihre Freude am Unbeschwerten, in ihrem frühen und späten Werk sehr präsent, gehört nach wie vor zu den wenig beleuchteten Seiten ihrer Persönlichkeit.