"Einer der bedeutendsten Autoren der letzten Jahrzehnte"
Die Berliner Akademie der Künste erinnert an Imre Kertész und sein Werk. Zwei Jahre nach dem Tod des ungarischen Nobelpreisträgers ist der Schriftsteller Ingo Schulze sicher: "Wir brauchen ihn".
Frank Meyer: Imre Kertész ist einer der radikalsten Kritiker des totalitären Denkens – das hat Michael Naumann über den ungarischen Schriftsteller gesagt. Vor allem der "Roman eines Schicksallosen" von Imre Kertész hat sehr viele Menschen beeindruckt – ein Buch über seine Erfahrung als Jugendlicher in deutschen Konzentrationslagern.
Im Jahr 2002 wurde Imre Kertész mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet, 2016 ist er gestorben, und heute beginnt in der Berliner Akademie der Künste eine große Tagung über Imre Kertész. Bei der ist unter anderem der Berliner Autor Ingo Schulze beteiligt, und der ist jetzt hier bei uns im Studio. Seien Sie willkommen, Herr Schulze!
Ingo Schulze: Guten Morgen!
Meyer: Sie haben sich – haben wir gehört – sehr dafür eingesetzt, dass diese Tagung stattfindet, hier in Berlin stattfindet. Warum war Ihnen das so ein Anliegen?
"Ich glaube, dass wir ihn brauchen"
Schulze: Imre Kertész ist ja doch einer der bedeutendsten Autoren der letzten Jahrzehnte. Und sein Archiv ist in der Akademie untergebracht, und er hat lange Zeit in Berlin gelebt, kannte hier viele, in Berlin, und da er Mitglied der Akademie der Künste war, lag eigentlich nichts näher, als eine Konferenz über ihn, hier in Berlin, an der Akademie, zu machen.
Denn sein Werk ist so bedeutend, und andererseits glaube ich, dass so wie er zur Zeit gelesen wird, kann doch irgendwie eine Verstärkung gebrauchen, finde ich – überhaupt eine Beschäftigung mit Kertész. Er ist zwei Jahre tot, aber ich denke, dass es jetzt an der Zeit ist, noch mal vehement auf ihn hinzuweisen. Ich glaube, dass wir ihn brauchen.
Meyer: Und warum brauchen wir ihn?
Schulze: Na ja, es heißt ja, die Tagung folgt einem Titel eines Essays von ihm – "Der Holocaust als Kultur". Und in diesem Essay sagt er, dass dieser Holocaust, dieses unglaubliche Leid hat aber zugleich eben auch ein unglaubliches Wissen produziert. Und es geht darum, dieses Wissen zu nutzen, damit umzugehen.
Also ein Land, eine Gesellschaft, oder man kann auch sagen, eine Weltgemeinschaft, die ihrer Vergangenheit nicht sicher ist, die nicht darüber spricht, sich damit auseinandersetzt, ist gezwungen, das zu wiederholen. Das weiß man ja.
Aber wenn man dann Kertész liest und seinen Blick auf Auschwitz, dann wird einem jetzt eigentlich vorher schon in gewisser Weise klar, aber dort eigentlich dann wirklich verständlich, was das bedeutet hat, dieser Einschnitt. Dass danach eben tatsächlich alles anders ist, dass eigentlich praktisch jeder Begriff sozusagen noch mal neu durchdacht werden muss.
Meyer: War das auch ein Autor, der bei Ihnen genau das ausgelöst hat? Der Ihnen, ja – die Augen öffnen ist sicherlich der falsche Begriff – aber, der Ihnen diese Erfahrung noch mal neu zugänglich gemacht hat?
"Wir hatten dann immer so einen unstetigen Austausch"
Schulze: Ich hatte das Glück, ihn 95 schon kennen zu lernen. Und wir hatten dann immer so einen unstetigen Austausch. Und da ist man natürlich erstmal von der Person des Autors – davon berichtet praktisch jeder – überwältigt, von seiner Freundlichkeit, Güte, Höflichkeit, von seinem scharfen Intellekt.
Aber wenn man "Roman eines Schicksallosen" liest und die anderen Bücher – gerade "Liquitation" –, dann wird etwas möglich, was, glaube ich, nur durch Literatur möglich ist, dass man etwas versteht, was man letztlich auch nicht unbedingt versteht, wenn man – oder so geht es mir zumindest –, wenn man an einer Gedenkstätte steht oder die Gedenkreden darüber hört.
Weil so wie er das schreibt, wie sozusagen ein 14-Jähriger nach Auschwitz kommt und sagt, na Gott sei Dank, jetzt kommen wir endlich mal zu den Deutschen. Die sind wirklich anders als diese blöden Polizisten da in Budapest.
Und dieses Nicht-Wissen, und immer mit dieser Erwartung, mit der er kommt, das ist, na ja, wie, eigentlich mit einer Erwartung, dass man jetzt irgendwie doch menschlich behandelt wird. Und so gerät man eigentlich Schritt für Schritt da hinein.
Und wenn man Kertész hat lesen hören, er musste dann selbst immer so lachen, das hatte aber so ein befreiendes Lachen, obwohl das quasi wie fast taktlos erscheint, aber es ist so ein Erkennen. Ich denke, den "Roman eines Schicksallosen" zu lesen, da kann man eine Ahnung davon bekommen, was es bedeutet hat.
Meyer: Es gibt auch eine direkte Verbindung anderer Art zwischen Ihnen und Imre Kertész. Es ist einmal ein Buch erschienen, das hieß "Eine, zwei, noch eine Geschichte". Das beginnt mit einer Geschichte von Imre Kertész, dann folgt eine von einem anderen ungarischen Schriftsteller – Peter Esterhazy – und eine dritte Geschichte von Ihnen.
Und Sie haben in diesem Zusammenhang gesagt, zu der Geschichte von Imre Kertész – da geht es um eine Bahnfahrt –, die habe Sie auch deshalb so getroffen, weil die Geschichte Ihnen bewiesen hat, dass Charakter und das, was wir verschämt ein großes Herz nennen, für die Literatur eben doch entscheidend sind. Wie zeigt sich in der Geschichte ein großes Herz?
"Es gibt kaum etwas, was mich mehr erschüttert hat"
Schulze: Das ist immer schwer, wenn man das begründen muss. Ich hab eben nicht nur Kertész Geschichte kennen gelernt, sondern die sozusagen gleich mit der Fortführung, oder sagen wir mal, mit dieser anderen Version von Peter Esterhazy. Und ich hatte dann diese Vermessenheit, dass ich dachte, ich würde gerne diesen zwei anderen Generationenerfahrungen noch mal die eigene hinzufügen.
Es geht ja wirklich immer um die Fahrt von Budapest nach Wien und dieses Überschreiten dieser Ost-West-Grenze und, dass das ja heute, für unsereiner mit einem deutschen EU-Pass ist das eben kein Problem mehr. Das war es vorher, und das hat ja auch lange mein Leben bestimmt, aber heute geht es um andere Grenzen. Oder für andere sind das natürlich auch noch heute Grenzen, und darum ging es mir: So eine andere Generationenerfahrung hinzuzufügen.
Immer, wenn man Kertész liest, spürt man, dass er eigentlich auf die Schönheit setzt, und mit so einem, ja wie soll ich sagen? Also wenn man ihn liest, vielleicht zeigt sich darin dieses große Herz. Man wird nie bedrückt. Also man liest alles und auch das Erschütterndste und es gibt, müsste ich jetzt sagen, kaum etwas, was mich mehr erschüttert hat, aber es macht einen trotzdem frei. Es bedrückt einen nicht, und es nimmt trotzdem, wischt nicht die eigene Erfahrung aus.
Und das ist manchmal selten, wenn man etwas über Gulag, Holocaust liest, oder was auch immer, was schrecklich ist, was einem dann sagt, oh Gott, ja jetzt reicht es, kann ich nicht mehr. Aber bei ihm setzt die gegenteilige Reaktion ein, bei mir.
Meyer: Heute Abend beginnt die Konferenz mit einem Vortrag, von einem ungarischen Literaturwissenschaftler – László F. Földényi. Da wird es um das heimliche Leben von Imre Kertész gehen. Das klingt schon mal sehr interessant. Es gibt unter anderem, um nur mal ganz kurz ins Programm zu schauen, eine Lesung mit dem Schauspieler Ulrich Matthes. Der wird unveröffentlichte Tagebuchnotizen von Emre Kertész lesen.
Schulze: Das ist morgen Abend um acht. Also darauf freue ich mich sehr, weil das ist wirklich die ganz – Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche –, aber die frühen von 1959/60, die ersten Tagebuchaufzeichnungen, die um die Entstehung des "Roman eines Schicksallosen" kreisen.
Meyer: Also ein sehr, sehr interessantes Programm jetzt in den nächsten Tagen, bei dieser Konferenz. Ich möchte Sie, zum Schluss unseres Gesprächs, noch etwas anderes Fragen. Sie haben vor drei Wochen gesagt, Sie würden gerne die Unterzeichner der "Erklärung 2018" an einen Tisch holen – mit Flüchtlingen und mit Deutschen, die zu tun haben, in ihrem Alltag, mit Flüchtlingen.
Die "Erklärung 2018", die haben ja viele Schriftsteller unterzeichnet, das ist diese Erklärung, in der es unter anderem heißt, ich zitiere das mal, "mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird". Und wir würden gerne wissen, hier in der Redaktion, was aus diesen Gedanken geworden ist, diese verschiedenen Seiten an einen Tisch zu holen.
"Nicht immer nur in Extremen miteinander reden"
Schulze: Na ja, ich bin heute erst von einer dreimonatigen Reise zurückgekommen. Es gab welche, die sagten, ja das versuchen wir zu organisieren. Da habe ich bisher noch nichts gehört. Worum es mir ginge, wäre, dass man sozusagen nicht immer nur in Extremen miteinander redet, dass man sozusagen nicht immer nur ja und nein kennt, sondern eben auch Positionen aufbaut, wo durchaus Menschen eben in der einen Sache sehr ähnlich denken, bei der anderen ganz gegenteilig sind. So erlebe ich das auch oftmals jetzt mit Freunden.
Und meiner Ansicht nach hat halt auch diese komische Erklärung – eigentlich ist das so ein aufmerksamkeitsheischendes Ding, das ist, wenn es dann mal anfängt zu diskutieren, dann kann man über den Begriff Masseneinwanderung reden. Wenn man sich das mal anguckt – es gibt keine Masseneinwanderung. Es gibt sehr viele, die Asyl beantragen, sehr viel weniger als damals. Über die Gründe, warum es weniger sind, müsste man auch reden. Ich finde das auch nicht vertretbar, wie Asylsuchende von unseren Grenzen ferngehalten werden.
Aber das ist ein großes Thema, da kann man nicht einfach so in ein paar Minuten das abtun. Aber das wäre einfach mal, dass man versucht konkret zu sprechen und, dass es einem tatsächlich an einer Verständigung liegt – und da geht es eben nicht um Extrempositionen nur. Und wenn sowas möglich wäre, habe ich gesagt, wäre ich sehr, sehr gerne dazu bereit.
Meyer: Dann hoffe ich sehr, dass das zustande kommt und wünsche Ihnen, vor allem für die nächsten Tage, eine interessante Konferenz zu Imre Kertész. Vielen Dank für den Besuch hier im Studio, Ingo Schulze!
Schulze: Vielen Dank für die Einladung!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.