Isolde Charim: "Ich und die Anderen"
Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert.
Wien, Paul Zsolnay Verlag 2018
224 Seiten, 22 Euro
Wenn Identitäten erodieren
In der Gegenwart ist nichts mehr selbstverständlich: Alles ist nur eine Möglichkeit von vielen - das behauptet die Philosophin Isolde Charim in ihrem neuen Buch. Leider neigt sie in mancher Hinsicht zu Vereinfachungen.
Eine seit langem diskutierte Grunderfahrung der Moderne ist die Kontingenz: das Verschwinden des Selbstverständlichen. Jeder Lebensentwurf, jede Kultur ist relativ. Im Wald des Möglichen ist die eine Wahrheit und Wirklichkeit nicht mehr auszumachen.
Isolde Charims Essay spitzt diesen Befund nun für unsere Epoche der "neuen Pluralisierung" noch einmal zu: "Heute gibt es keine Zugehörigkeit, die ihre Selbstverständlichkeit nicht gegen andere Selbstverständlichkeiten behaupten muss." Die Kontingenz sei in die Identitätsbildung selbst eingewandert: "Heute spürt oder ahnt zumindest jeder, dass er selber nur eine Möglichkeit unter anderen ist."
Charim diagnostiziert eine erodierte Identität
Nun gibt es eine "Pluralität" der Lebensentwürfe und Existenzweisen schon lange – ist die Erfahrung, die ähnlich auch schon Jean-Paul Sartre formuliert hat, wirklich so neu? Die aktuelle Herausforderung wird deutlicher, wenn Charim schreibt: "Wenn in einer Schulklasse muslimische Schüler neben jüdischen und atheistischen Schülern sitzen, migrantische neben nicht-migrantischen Deutschen – dann verändert das jeden einzelnen, der da sitzt." Die erodierte Identität als Konsequenz der Pluralisierung sei eine Erfahrung, der heute niemand mehr entgehen könne, meint Charim. Die Pluralität der Religionen und Weltanschauungen etwa lasse den "naiven Glauben" nicht mehr zu.
Hier stutzt man. Erleben fundamentalistische religiöse Strömungen nicht seit Jahren Zulauf, unter Muslimen ebenso wie unter Christen? Und kann man nicht auch heute – etwa als Zeuge Jehovas – naiv glauben? Charim aber beharrt darauf: Das Säkulare sei ins Herz der Religion eingedrungen; Glauben gebe es nur noch im Modus des "Trotzdem". So gesehen ist bei den Islamisten, die sich oft als Konvertiten oder Neubekehrte im Schnellkurs erst noch die Grundlagen ihres "Glaubens" aneignen müssen, gewiss einige Trotzigkeit am Werk.
Mit solchen und anderen Formen der "Abwehr der Pluralität" befasst sich Charim in der zweiten Hälfte des Buches: dem Islamismus, dem neurechten Populismus, der linken politischen Korrektheit. Allesamt Strategien, Komplexität und Identitätsstress zu unterlaufen in einer Zeit, in der viele Zeichen, Zuschreibungen und (Geschlechter-)Ordnungen kontingent und prekär, also uneindeutig geworden seien.
Kluge Reflexionen neben fragwürdigen Behauptungen
Neben klugen Reflexionen und pointierten Formulierungen finden sich in diesem Band auch einige fragwürdige Behauptungen – etwa dass die Terroristen des 11. September den "Mythos vom Westen", also den "Mythos vom guten Leben als Allheilmittel nachhaltig in Frage gestellt" hätten, einfach "indem sie ihm widerstanden".
Vor allem aber reduziert Charim in jenen Passagen, die sich verstärkt mit Politik und Migration befassen, selbst die Komplexität zu sehr. Als gäbe es nur ein Entweder-Oder, skizziert sie die angebliche heutige politische Frontlinie: Auf der einen Seite diejenigen, die eine "durch Migration veränderte Gesellschaft akzeptieren", auf der anderen die vermeintlichen Realitätsverweigerer, die diese "Veränderung als Bedrohung empfinden und sie in eine ‚Überfremdung‘ oder Islamisierung umdeuten".
Hier reproduziert die Philosophin das leidige Schema vieler politischer Debatten, in denen die Zwischentöne fehlen: Entweder du bist für Pluralität in jeder Form und in jedem Ausmaß oder du bist ein Kandidat für den "Populismus", ein "Gekränkter", der Vielfalt ablehnt und sich fahrlässig nach dem "Homogenen" sehnt. Gerade mit einem solchen allzu breiten Pinsel wird man aber der gesellschaftlichen Pluralität in all ihren Nuancen nicht gerecht.