“Er war der fantasiebegabteste und kreativste Schriftsteller, dem ich je begegnet bin“, sagte der amerikanische Autor John Clellon Holmes über Jack Kerouac. Als dessen berühmtestes Buch „On the Road“ 1957 in den USA erscheint, bedeutet das einen Wendepunkt im Leben des damals 35-jährigen Schriftstellers.
Popstar der Literatur
Nach Jahren großer literarischer Produktivität als noch wenig bekannter Autor wird Kerouac über Nacht zum ersten Popstar der Literatur der Nachkriegszeit. Durch Auftritte und Lesungen in dem neuen Format der Fernsehtalkshows wird der eher schüchterne Schriftsteller als „King of the Beats“ einem Millionenpublikum vorgestellt.
„Er war der Star unter den Literaten. Die Leute wollten ihm die Hand schütteln, wollten ihm begegnen, wollten ihn antatschen, und er hat nur den Kopf geschüttelt und kam überhaupt nicht klar mit diesem plötzlichen Ruhm, damit hatte er nicht gerechnet", erzählt der Schweizer Autor Nicola Bardola, der zum 100. Geburtstag von Kerouac die erste deutschsprachige Biografie des amerikanischen Schriftstellers veröffentlicht hat.
Und er ergänzt: „Für mich war Jack Kerouac nie weg vom Fenster, er war immer präsent. Und sein Manifest der Gegenkultur, 'On the Road', altert unfassbar gut und dient jeder Jugendrevolte immer wieder als Vorlage, wie man sich gegen das Establishment wenden kann.“
Die Beat Generation
1944 hatte sich in New York die Keimzelle der Beat Generation gebildet. Im Umfeld der Columbia Universität in Manhattan befreunden sich William Burroughs, Allen Ginsberg und Jack Kerouac miteinander, die drei bis heute berühmtesten Schriftsteller der Beat Generation.
Erst völlig unbekannt, später ein Popstar: Mit seiner plötzlichen Berühmtheit kam Jack Kerouac nur schwer zurecht. © picture alliance / Leemage
Während Ginsberg und Burroughs aus gut situierten Elternhäusern stammen, ist Jack Kerouac in einfacheren Verhältnissen aufgewachsen. Seine Kindheit und Jugend verbringt er in Lowell, Massachusetts, einer industriellen Provinzstadt in der Nähe von Boston.
Sein Vater ist Drucker, seine Mutter arbeitet in einer Schuhfabrik. Als Kind bekam Jack Kerouac den Spitznamen „Memory Babe“. Er konnte sich lange Dialoge merken und Menschen exakt beschreiben, denen er nur kurz begegnet war.
Jack Kerouacs "On The Road" inspierte die Hippies, für die er eine Ikone war. Diese Jugendbewegung blieb ihm aber fremd. "Er war gegen alle Jugendbewegungen", sagt John Wray, Autor des Nachworts zur deutschen Neuausgabe von "Engel der Trübsal" - lesen Sie hier uns Gespräch mit ihm.
Neben der Literatur ist Jack Kerouac seit seiner Jugend von Musik begeistert. In New York angekommen, entdeckt er den Sound von Duke Ellington, Count Basie und den anderen Jazzgrößen der 1940er-Jahre. Kerouac schreibt in der Zeitung der Columbia Universität in Konzertbesprechungen euphorisch vom „wirklichen Jazz“, einer Musik, die nicht vorgeformt und frei für Improvisationen sei.
„Bebop, das ist es“
„Bebop, das ist es“, sagt Bardola: „Das war die Befreiung in musikalischer Hinsicht für Jack Kerouac. Er ging in Live-Konzerte. Er hat die schwarzen Jazzer erlebt, in einer absoluten Frühphase, und das hat ihn nie losgelassen.“
Oft trifft man sich in den Wohnungen von Burroughs oder Edie Parker, um bis tief in die Nacht über Literatur und Kunst zu diskutieren, Musik zu hören oder wilde Feste zu feiern. Über eine Freundin von William Burroughs kommt Kerouac mit Drogen in Berührung. Er findet heraus, dass das Aufputschmittel Benzedrin den Fluss seiner Gedanken beschleunigt und die Produktivität des Schreibens steigert.
Allen Ginsberg erinnert sich: „Er hat es für einige seiner Bücher benutzt. Manchmal hat er bis zu 24 Stunden lang ununterbrochen geschrieben, mithilfe von Kaffee und Benzedrin, und dann hat er lange geschlafen. Damit hat er seinem Körper natürlich viel zugemutet, und wahrscheinlich war das einer der Gründe dafür, dass er früh gesundheitliche Probleme bekam.“
Während Kerouac sich 1946 um seinen sterbenden krebskranken Vater kümmert, schreibt er nachts an seinem ersten Buch. Innerhalb von zwei Jahren entsteht ein Manuskript von 1.800 Seiten.
1950 erscheint der Roman, auf 500 Seiten gekürzt, unter dem Titel „The Town and the City“. Es sei immer noch ein sehr gutes Buch, sagt Bardola, aber mit dem breakthrough, den Kerouac danach mit „On the Road“ geschafft hat, habe es nichts zu tun.
„On the Road“
Anfang 1947 lernt Kerouac in New York Neal Cassady lernen. Eine Freundschaft, die für seine weitere Entwicklung von großer Bedeutung sein wird. Im Gegensatz zu den Freunden des Beat Movement aus New York kommt Cassady aus den untersten Schichten der US-amerikanischen Gesellschaft.
Gemeinsam mit Cassady unternimmt Kerouac in den folgenden Jahren mehrere Reisen, deren Schilderungen im Zentrum seines Romans „On the Road“ stehen. Die Hauptfigur des Romans, Dean Moriarty, ist Neal Cassady stark nachempfunden.
Bardola erzählt: „Er zeigt ihn als Motor beim Unterwegssein. Er ist natürlich auch immer am Steuer. Er ist der Ahab am Steuer sozusagen, aber er ist natürlich auch literarischer Einfluss. Neal Cassady wollte selbst Schriftsteller werden. Er ist ja zur Columbia Clique gefahren, um von denen zu lernen, wie man Romane schreibt. Das hat er nie geschafft.“
Jack Kerouac ist vier Jahre älter als Neal Cassady. Er bewundert seinen draufgängerischen Freund für Eigenschaften, die er auch gerne hätte. Carolyn Cassady, die zweite Ehefrau von Neal, erinnert sich in der Filmdokumentation „What happened to Jack Kerouac“:
„Es gibt viele Passagen in Jacks Büchern, in denen er sich als Macho gibt, was ihm eigentlich überhaupt nicht entsprach. In Neal hat er jemanden getroffen, der von Natur aus das Prachtexemplar eines Machos ist. Ich bin mir sicher, dass er Neal um die Leichtigkeit beneidet hat, mit der er diesen Typ Mann verkörperte. Und doch hatte Neal auch eine mitfühlende Seite, die Jack ebenso hatte, sodass sie wie Pech und Schwefel zusammenhielten. Und dann beneidete Neal Jack wegen seiner Bildung und seiner bürgerlichen Herkunft, um einen Platz in der Gesellschaft. Neal hatte keinen.“
Per Anhalter in den Westen
Im Juli 1947 macht sich Kerouac per Anhalter auf den Weg von New York nach Denver, um Neal Cassady und Allen Ginsberg zu besuchen. Und er will den Westen der USA sehen.
Bardola berichtet: „Es war das Abhauen, das Verschwinden, das Losgehen. Und es gibt ja wunderbare Dialoge in seiner Prosa, die fast an Beckett erinnern. Warten auf Godot. Neal sagt dann: Wir müssen los, wir müssen gehen. Wir dürfen nie anhalten.“
Im April 1951 entsteht in New York die Urfassung von „On the Road“. Kerouac schreibt den Text innerhalb von 20 Tagen nonstop auf eine 40 Meter lange Rolle Telexpapier.
Jahrelange Suche nach einem Verleger: Originalmanuskript von "On the road”.© AP Archiv
Dann findet er dafür jahrelang keinen Verleger. Nahezu mittellos pendelt er zwischen New York und San Francisco, wo er über längere Phasen bei Neal Cassady und seiner Frau lebt. Zeitweise in einem Dreiecksverhältnis.
Zwischen 1951 und 1957 schreibt Jack Kerouac an mehreren Büchern, die erst nach seinem Durchbruch mit „On the Road“ nach und nach veröffentlicht werden. Es sei ein Glücksfall gewesen, dass „On the Road“ nicht sofort veröffentlicht wurde, meint Bardola:
„Auch wenn er natürlich gelitten hat, aber er hatte ja auch mal ein Angebot und hat es dann zurückgewiesen. Er selbst hat vielleicht gespürt, dass das vielleicht zu früh ist. Und in diesen Jahren hat er ja geschrieben wie besessen. Er hat weitergeschrieben und alles, fast alles, was danach veröffentlicht wurde, war schon da. Vor 'On the Road'.”
„Wir sind alle Buddhisten“
Plötzlich vernahm ich durch den Wind einen schön gebrochenen Jodler von seltsamer musikalischer und mystischer Intensität, sah hinauf, und es war Japhy, der ganz oben auf der Spitze des Matterhorns stand und sein triumphales, gipfelbezwingendes, Buddhaberg-zertrümmerndes Freudengeheul ausstieß. Es war wunderbar. Und lustig war es auch, hier oben auf dem nicht gar so lustigen Dach von Kalifornien mit all dem wallenden Nebel.
Aus “Die Dharmajäger“ von Jack Kerouac
1954 befreundet sich Kerouac in San Francisco mit einem Studenten der Anthropologie, der eine starke Affinität zum Buddhismus hat. Gary Snyder, der später selbst zu einem bekannten Schriftsteller der Beat Generation wird, ist ein erfahrener Bergsteiger und nimmt Kerouac auf einige seiner Touren mit. In seinem
Roman „Die Dharmajäger“, der 1958 erscheint, erzählt Kerouac von seinen Wanderungen mit Gary Snyder, der im Buch in der Figur des „Japhy“ nachempfunden ist.
„Allen stellte mir Jack als einen großartigen Schriftsteller vor, und dann las Jack uns an diesem Abend lange Passagen aus 'October and the Railroad Earth' vor. Das waren wunderbare Momente. Ich bekam sofort ein Gefühl dafür, was er schrieb“, erinnert sich Gary Snyder in der Dokumentation „What happened to Jack Kerouac“:
“Und dann hatten wir ein langes Gespräch über Buddhismus. Jack wurde zum ersten Mal in seinem Leben bewusst, dass es noch mehr Buddhisten in Amerika gab. Kenneth, Philippe und ich saßen da, kicherten und sagten: 'Klar, Jack, wir sind alle Buddhisten. In San Francisco sind alle Buddhisten.'"
“King of the Beat”
1957 findet Jack Kerouac endlich einen Verlag für „On the Road“, und der Roman wird ein großer Erfolg. Mit Joyce Johnson ist zudem eine neue Freundin an seiner Seite.
Die Leute kannten ihn im ganzen Village. Als 'On the Road' veröffentlicht war, war es sehr schwer, mit Jack allein zu sein. Es waren immer Leute da, dauernd wollte irgendjemand vorbeikommen. Das war sehr anstrengend. Die Leute wollten unbedingt Kontakt mit ihm aufnehmen, auch physisch. Frauen wollten, dass er mit ihnen schlief. Ich erinnere mich, dass eine Frau auf einer Party zu mir sagte: 'Du bist 21, aber ich bin schon 29. Ich muss jetzt mit ihm ficken.'
Joyce Johnson erinnert sich an Jack Kerouac
Kerouac kommt nur schwer mit der plötzlichen Berühmtheit zurecht. Er wird gefeiert wie ein Popstar, leidet aber darunter, dass seine Literatur nicht verstanden wird. Sie wird als Erlebnisbericht eines Protagonisten der jungen neuen Generation gesehen. Er ist der „King of the Beat“, aber der Jazz seines Schreibens, die spontane Komposition und Improvisation, die Vermischung von Realität und Fiktion zu einem neuen innovativen Stil wird kaum wahrgenommen.
“Generation der Seligkeit und Freude”
In den 1960er-Jahren mündet die von der Avantgarde der Beat Generation getragene Gegenkultur in das Massenphänomen der Hippie-Bewegung. Jack Kerouacs Werke wurden zunehmend als Inkunabeln der Jugendbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesehen.
Über die Verbindungen zwischen der Beat-Generation und der Gegenkultur der 1960er-Jahre veranstaltete die US-amerikanische Sendereihe „The Firing Line“ im September 1968 eine Talkshow, zu der auch Jack Kerouac eingeladen wurde. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt.
Wir haben die Bewegung in Gang gesetzt und die Kids haben es aufgenommen. Viele Scharlatane und Kommunisten haben sich dann mit drangehangen. Die Beat-Generation war eine Generation der Seligkeit und der Freude, des Lebens und der Zärtlichkeit. In den Zeitungen schrieben sie dann aber von 'sich gegenseitig schlagen', vom 'Beat-Aufstand', Vorstellungen, die ich nie hatte. Ich bin katholisch, ich glaube an Ordnung, Sanftmut und Frömmigkeit. Die Idee war rein in meinem Herzen.
Jack Kerouac, 1968 in "The Firing Line"
Mitwirkende: Bettina Hoppe, Laurenz Laufenberg, Anne Rathsfeld, Tilmar Kuhn
Regie: Stefanie Lazai
Ton: Ralf Perz
Redaktion: Dorothea Westphal
Jack Kerouac: "On the Road"
Übersetzt von Ulrich Blumenbach und Michael Kellner
Rowohlt Verlag TB, Hamburg 2011
576 Seiten, 10 Euro
Jack Kerouac: "Die Dharmajäger"
Übersetzt von Thomas Überhoff
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022
288 Seiten, 24 Euro
Jack Kerouac: "Engel der Trübsal"
Übersetzt von Jan Schönherr
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022
528 Seiten, 26 Euro