Jess Kidd: "Der Freund der Toten"
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann.
Dumont, Köln 2017
384 Seiten, 20 EUR
Magischer Realismus mit irischer Folklore
Auf die Suche nach der Wahrheit über seine Mutter begibt sich der Titelheld Mahony. Seine Vergangenheit ist völlig ungeklärt und wirft drängende Fragen auf.
Mahony sieht tote Menschen. Schon seit langem. Eine Zeitlang waren sie weg, aber mit dem Brief von seiner Mutter sind sie zurückgekommen. Sie reden über Dinge, die zu Lebzeiten ungesagt blieben, und erinnern ihn daran, dass auch seine Vergangenheit noch ungeklärt ist. Eigentlich dachte Mahony, seine Mutter habe ihn 1950 in einem Korb vor dem Waisenhaus St. Martha ausgesetzt, weil sie ihn loswerden wollte. Aber 26 Jahre später erhält er nun den Brief, der damals auch in dem Korb lag. Darin steht, dass sein Name eigentlich Francis Sweeney ist und seine Mutter Orla die "Schande von Mulderrig" war. Der Brief endet mit der Warnung: "Sie lügen alle, also sei auf der Hut und zweifle nicht daran, dass deine Mammy dich geliebt hat".
Orlas Ermordung
Also macht sich Mahony auf den Weg von Dublin nach Mulderrig im County Mayo. Dort will er herausfinden, was mit seiner Mutter geschehen ist. Schon die Ankunft des gutaussehenden Fremden sorgt für Aufregung – und während die Frauen des Dorfes den attraktiven Fremden anschmachten, versucht er mit der Hilfe der alten Mrs. Cauley, die liebend gerne in Heimlichkeiten herumstochert, die Wahrheit über seine Mutter herauszufinden. Denn sie ist seit 26 Jahren verschwunden. Die offizielle Version besagt, dass die hübsche Orla den Ort im Mai 1950 verlassen hat. Aber die Leser wissen es besser: Jess Kidds "Der Freund der Toten" beginnt mit Orlas Ermordung. Und es sind nicht nur die Leser, die die Wahrheit kennen.
Düstere Geheimnisse
Bei seinen Nachforschungen stößt Mahony auf düstere Geheimnisse, die mit allen Mitteln bewahrt werden sollen, und auf in Irland stets verdächtige Autoritäten von Staat und Kirche. Seine Wahrheitssuche wechselt mit Rückblicken zu den Ereignissen vor 26 Jahren, und so entsteht das Bild einer bigotten Dorfgemeinschaft, in der die junge Orla niemals eine Chance hatte. In diesem irischen Dorf gibt es Männer, die ihre Frauen betrügen, mörderische Altenpflegerinnen, eitle Geistliche, vergiftetes Essen, Briefbomben und Wasserquellen, die auf einmal in Bibliotheken sprudeln.
Geisterwelt und Humor
Dabei erweisen sich in dieser Erzählung von Schuld und Sühne, Verderben und Versuchung, Schwäche und Tod die Toten als ebenso hilfreich wie originell – sei es Father Jim, einer der wenigen Freunde Orlas, der auf einer Kommode von Mrs. Cauley herumlungert, Mrs. Cauleys ehemaliger Verlobter Jimmy, der darauf achtet, dass ihr nichts geschieht, oder sei es die sechsjährige Ida, die ermordet wurde, weil sie zu viel wusste und Mahoney zu warnen versucht. Sie verbinden den magischen Realismus mit irischer Folklore und sorgen dafür, dass dieses Debüt trotz seiner bisweilen allzu überbordenden Ein- und Vorfälle mit einer düster-galligen Mischung aus Geisterwelt, Verbrechen und Humor überzeugt.