Julien Gracq: Das Abendreich
Aus dem Französischen von Dieter Hornig
Droschl Verlag Graz, Wien 2017
220 Seiten, 23 Euro
Ein konsequenter Anti-Realist
Er war ein Meister surrealer, stilistisch elaborierter Fantastik - jetzt ist Julien Gracqs im Original bereits 1953 veröffentlichter Nachlass-Roman "Abendreich" auch auf Deutsch erschienen. Ein Fest für Freunde ziselierter Sprache.
Es ist ein geheimnisvolles Land, in dem der Held und Ich-Erzähler in Julien Gracqs unvollendetem Roman "Abendreich" zu Hause ist. Ein Königreich mit strengen Regeln und betörenden Landschaften, das irgendwo im Norden zu liegen scheint. Noch herrscht Wohlstand in der Hauptstadt Alt-Brega, noch werden Rituale zelebriert und althergebrachte Regeln befolgt, aber der Held und seine Freunde wissen um die Bedrohung durch barbarische Horden und beschließen, entgegen strenger Verbote, ihre Heimat zu verlassen und in den Kampf zu ziehen.
Der riskante Grenzübertritt, die Durchquerung verheerter Gebiete, die Überwinterung am Meer und schließlich die Ankunft in der belagerten Stadt Roscharta, wo die Männer eine finale Schlacht erleben, skandieren die Handlung des Romans. Es sind aber weniger die Zuspitzungen und Kehrtwendungen, die an Julien Gracqs Abendreich verfangen. Die Faszination rührt aus der ganz eigenen Atmosphäre.
Surreale Welt und Mythen
Julien Gracq, 1910 geboren, Absolvent der École Normale Supérieure, sein Leben lang Gymnasiallehrer für Geographie und Geschichte und hochbetagt 2007 gestorben, ist die vielleicht faszinierendste Figur der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er war ein großer Einzelgänger, dessen Romane keiner der gängigen Strömungen zuzurechnen sind.
In allen seinen stilistisch hochelaborierten Büchern kommt es zu Verschränkungen von Phantastik, surrealen Welten und Mythen. Zwar waren die Beschäftigung mit der deutschen Romantik und dem Surrealismus und die Lektüren von André Bretons "Nadja" und Ernst Jüngers "Auf den Marmorklippen" prägend für Gracqs literarische Arbeit, dennoch entwickelte er eine ganz eigene, kompromisslose, antirealistische Art des Erzählens.
Seine konsequente Ästhetik brachte ihm große Anerkennung ein. Aber Gracq polemisierte gegen den Literaturbetrieb und wies 1951 sogar den Prix Goncourt zurück, den er für "Das Ufer der Syrten", einen seiner berühmtesten Romane, bekommen sollte. Noch zu Lebzeiten, was kaum je vorkam, huldigte man ihm mit einer Gesamtausgabe in der Bibliothéque de la Pléiade. Zu seinen Verehrern gehört Patrick Modiano ebenso wie Pierre Michon.
Preziöses Vokabular
"Abendreich", aus dem Nachlass 2014 in Frankreich erschienen, entstand bereits im Sommer 1953. Gracqs scharfe, präzise konsturierte und existenziell aufgeladene Sprache entwickelt vom ersten Satz an eine enorme Spannkraft. Der Schriftsteller arbeitet mit ungewöhnlichen Verknüpfungen und bildhaften Vergleichen, er schöpft den lexikalischen Reichtum des Französischen komplett aus und hat eine Vorliebe für preziöses Vokabular, was auch in der Übersetzung spürbar wird. Geräusche "gravieren" sich in die klangreiche Luft ein, es gibt "Nebelkorken", die Morgendämmerung ist "flockig", Licht "honigartig und fruchtig". Regengüsse erscheinen wie "fransige Dämpfe", die sich an den "schweren, walrückenartigen Kämmen" der Berge unter "trostlosem Bleilicht" auswringen.
Ob Landschaften, Klima, Licht oder Gemütszustände, Gracq erfüllt alles mit sprachlichem Leben. Dass der Held angesichts des Kampfes zu einem stillen Glück findet, passt zu Julien Gracqs Kult der Einsamkeit.