"Vorbild nicht, aber Herausforderung"
In diesem Jahr feiert Deutschland 500 Jahre Reformation - die damals ausgelöst wurde durch 95 Thesen, die ein wütender Martin Luther an die Kirchentür in Wittenberg nagelte. Warum Luther trotzdem nicht als Vorbild taugt, erläutert der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann.
Elke Durak: In Wittenberg gehört der Tag heute noch lange Martin Luther, aber wie das so oft ist mit solchen Feiern - noch dazu, wenn sie über lange Zeit anhalten - manch einem ist es dann irgendwann zu viel, und man kann es einfach nicht mehr hören. Das nun dem Kirchenhistoriker und Reformationsexperten aus Göttingen, Professor Thomas Kaufmann, als These vorzulegen, das dürfte weniger gefährlich sein als das, was Luther zugeschrieben wird: Eben diese 95 Thesen gegen den Ablasshandel an die Tür der Wittenberger Kirche genagelt zu haben, was ja nicht einmal erwiesen ist. Die Folgen aber schon – sie wurden Geschichte. Guten Tag, Herr Kaufmann!
Thomas Kaufmann: Hallo, schönen guten Tag!
Durak: Herr Kaufmann, das Reformationsjahr erstmals weltoffen und ökumenisch zu feiern, das allein sei schon ein Erfolg dieses Jahres, hat Margot Käßmann in Wittenberg gesagt. Sagen Sie, was geht das Nichtchristen, Muslime und Juden an?
"Sehr viel Schönrednerei"
Kaufmann: Im Moment ist natürlich sozusagen die Neigung, Erfolgsbotschaften abzusondern, relativ verbreitet. Ich denke mal, es entspricht unserer kulturellen und politischen Situation, dass wir in Deutschland eine postnationalistische Grundgestimmtheit weiterhin als eine Art Basiskonsens in der Gesellschaft haben. Das Ökumenische ist natürlich auch eher Ausdruck dessen, dass man sich gut verstehen will, aber was substanzielle Fragen angeht, die die Entwicklung der Konfessionen aufeinander zu betreffen, ist da auch sehr viel an Schönrednerei im Schwange.
Durak: Oha, ich höre sehr viel Kritik und Enttäuschung aus Ihren Worten heraus. Sie hatten ja zu Beginn dieses Lutherjahres darauf gehofft, dass es zu einem entspannteren Umgang zwischen den Religionen kommen könnte. Ihre Hoffnung hat sich also nicht erfüllt?
Kaufmann: Es liegt im Grunde ein bisschen an der Kurzatmigkeit und an einer Symbolpolitik. In Hildesheim, das war in gewisser Weise - dieses "Healing-of-Memories"-Ding (ein von der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland initiierter Prozess, der die Ökumene stärken helfen sollte, Anm. d. Red.) war ja so der Höhepunkt der ökumenischen Annäherung, und da gab es halt tolle Umarmungen, aber keine nachhaltigen Effekte. Ich denke, man muss sich auch klar machen - das ist natürlich auch Teil einer realistischen Bilanz - dass sich die römische Kirche dann als jubiläumsaffiner gezeigt hat, war auch eine Folge des Pontifikatswechsels.
Als das Ganze los ging mit dem Reformationsjubiläum, wurde von römischer Seite vor allem geraunt, wir können gar nicht feiern, wir haben nichts zu feiern, wir empfinden tiefe Phantomschmerzen über den abgetrennten Teil der Christenheit. Dass das anders wurde hing damit zusammen, dass dann ein anderer Papst da war. Also, das alles ist jetzt nicht Ausdruck dessen, dass wir grundsätzlich mehr Verständnis füreinander hätten. Die Atmosphäre ist im Ganzen auf Freundlichkeit bestimmt; was jetzt das Verhältnis zu den anderen Religionen angeht, so würde ich sagen, hat das Reformationsjubiläum sehr wenig gebracht, weil es wenig an Reflexion über die in jeder Religion vorhandenen Gewaltpotenziale gegeben hat.
"Zu wenig Gesprächsfähigkeit in Deutschland"
Man kann natürlich auch die Geschichte des Christentums seit dem 16. Jahrhundert als eine Geschichte der permanenten Selbstkorrekturen und der Transformation in Richtung auf ein friedliches Miteinander lesen. Es ist keiner der Christentumsformationen an der Wiege gesungen worden, dass sie besonders tolerant ist.
Durak: Wie erklären Sie sich, dass es doch nicht zu diesem entspannteren Verhalten zueinander gekommen ist?
Kaufmann: Es hat relativ wenig an kritisch-analytischer offener Diskussion gegeben. Es hat sehr viel an symbolischen Inszenierungen gegeben. Es hat große Inanspruchnahme von Toleranzfähigkeit gegeben, aber keine wirkliche Erprobung im Dialog, und was, glaube ich, nach wie vor das entscheidende Problem des Umgangs der Religionen in Deutschland ist, dass es wenig an Gesprächsmöglichkeiten und wenig auch an Gesprächsfähigkeit gibt.
Durak: Haben Sie gemerkt, dass wir jetzt drei, vier Minuten lang kaum das Wort Luther in den Mund genommen haben?
Kaufmann: Es gibt ganze Tage, an denen ich das Wort Luther nicht in den Mund nehme!
"Luther ist ein theologischer Anreger"
Durak: Wir haben heute den 31. Oktober. Lassen Sie mich dies noch fragen: Kritik an Luther gab es, auch in Wittenberg und überall, an seinem Antisemitismus zum Beispiel, wie auch der Pfarrer Friedrich Schorlemmer immer wieder beklagt hat. Andere halten Luther seine Bindung zu Herrschaft, Vorsprechen von Frauenfeindlichkeit oder dass er damals die Bauern verraten habe, dass er dem einfachen Volk zwar die Bibel auf Deutsch gegeben hat, ihnen aber die Freiheit ausgeredet hat. Kann Luther irgendwie noch ein Vorbild sein?
Kaufmann: Nein, ein Vorbild ist er für mich in keiner Weise. Luther ist ein theologischer Anreger, Luther ist jemand, der in einer besonderen Intensität einen Zugang zum christlichen Glauben formuliert hat. Als sittliche Person ist er uns fremd. Er ist hineingebunden in eine fremde Welt, und die Chance, die sich in der Auseinandersetzung mit ihm bietet, ist in der Tat auch an Fremdem zu lernen. Er gehört in gewisser Weise untrennbar zu unserer Geschichte hinzu, aber auch gerade seine Fremdartigkeit eröffnet Möglichkeiten, an Fremdem zu lernen und im Umgang mit Fremdem zu lernen. Insofern, nein, Vorbild nicht, aber Herausforderung.
Durak: Wunderbar, besten Dank! Besten Dank, Professor Thomas Kaufmann, Kirchenhistoriker, Reformationsexperte aus Göttingen. Ihnen einen schönen Tag noch!
Kaufmann: Gleichfalls, tschüss!
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