Köln

Die Folgen einer Silvesternacht

Hauptbahnhof Köln
Nach den Übergriffen in der Silvesternacht 2015/2016 am Hauptbahnhof Köln hatte die Polizei ihre Präsenz verstärkt © imago/Ralph Peters
Von MoritzKüpper |
Mehr als 1200 Strafanzeigen wurden nach der Silvesternacht mit sexuellen Übergriffen am Kölner Hauptbahnhof bei der Polizei gestellt. Es folgten Debatten über Gewalt an Frauen, die deutsche Willkommenskultur und ein Untersuchungsausschuss. Abgehakt ist das Thema damit aber noch lange nicht.
"…bis das Köpfchen schwer…"
Köln, Ende September, "Loss mer singe". So heißen die kölschen Mitsingkonzerte, die über das ganze Jahr verteilt, stattfinden – und die wie fast keine andere Veranstaltung, den Charme der Domstadt aufzeigen: fröhlich, gemeinsam, heimatverbunden und weltoffen.
"…sulang loss mer noch jet blieve…""Schön mitgesungen, wunderbar."
Franz Martin Willizil sitzt auf einer Bühne im Domforum. Das Besucherzentrum grenzt direkt an die Domplatte, durch die bodentiefe Glasfront lassen sich Menschen dabei beobachten, wie sie an diesem lauen Herbstabend zur Kathedrale flanieren. Vor Willizil, einst Mitglied der bekannte Kölner Karnevals-Band "de Höhner" und Autor des legendären Liedes "Hey Kölle, do bes e jeföhl", sitzen rund 80 Menschen.

"Es ist mir ein besonderes Bedürfnis nach den ganzen Vorkommnissen jetzt im letzten Silvester, die genau da stattgefunden haben."
Willizil zeigt auf die Domplatte. Betretene Stille im bislang so fröhlichen Raum.
"Und auf einmal war Kölle, nicht mehr Kölle, wie man es kannte. Sondern Kölle war jeden Tag in den Nachrichten, jeden Tag als Synonym für sexuelle Gewalt, öffentlichen Diebstahl, Randale."
Franz Martin Willizil
Franz Martin Willizil, Musiker und ehemaliges Mitglied der Kölner Band "de Höhner"© Deutschlandradio / Moritz Küpper

Köln wurde zum Synonym

Die Kölner Silvesternacht. Sie liegt in diesem Moment zwar schon Monate zurück, doch vergessen werden, wird dieses Ereignis so schnell nicht. Über 1200 Strafanzeigen gab es, über 650 mutmaßliche Opfer sexueller Gewalt.
"Man musste sich wirklich mit Körpereinsatz, ja, wehren, oder auch daraus befreien."

"Also, ich zittere gerade noch, weil ich davon erzähle. Ich könnte gerade losheulen. Ja, Angst, richtig Angst hatte ich."
Bis heute verunsicherte Frauen, deren Aussagen in diesen Tagen in Fernsehsendern wie beispielsweise dem ZDF immer wieder über den Bildschirm laufen, ein mittlerweile gewählter US-Präsident Donald Trump…
"By the way, when I left today, Cologne, Germany, which is one of the most peaceful places ..."
… der im Wahlkampf vom eigentlich friedlichen Köln berichtete, wo nun Menschen geschlagen und Frauen vergewaltigt würden.
"...women have been raped. What's going on in Germany? It is just unbelievable."
Zwar gab es auch in Hamburg, Düsseldorf oder Stuttgart in dieser Nacht Übergriffe, doch Köln wurde zu einem Synonym – und zwar weltweit: Für das Scheitern der vielbeachteten deutschen Flüchtlingspolitik. Für das Versagen des Staates, der seine Bürger nicht mehr schützen konnte. Es war ein starker Kontrast zu der eigentlich als weltoffen geltende Stadt am Rhein – was nicht nur Musiker Willizil stört:
"Und jedem, der ein Herz für die wunderschöne Stadt hat, dem tut das in der Seele weh. Und deswegen kommt jetzt die folgende Strophe."
Erstmals nun singt er die eigens gedichteten Zeilen:
"Dat, wat Silvester affjing he, ne Albdraum för uns Stadt. Us unsrer schöne Domplaat wood en Achterbahn jemaht."
Doch diese Kölner Silvesternacht, sie hat nicht nur das Image und Gefühl einer Stadt berührt – sie hat auch die Gesellschaft verändert: Knapp eine halbe Millionen Deutsche rüsteten sich im Laufe des Jahres mit Schreckschusspistolen, Pfefferspray und Reizgas aus, die Nachfrage nach dem Kleinen Waffenschein für solche Instrumente stieg um 63 Prozent. Aber nicht nur das Sicherheitsempfinden hat sich verändert, auch der Kurs der Politik, die Beurteilung der Justiz, die Berichterstattung der Medien. Köln, Silvester, ein Jahr danach – was hat sich getan? Was hat sich verändert?

Politische Dimension der Vorfälle

"Ich sage ganz einfach: Deutschland ist ein starkes Land."
Die Sommerpressekonferenz von Bundeskanzlerin Angela Merkel im August 2015.
"Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!"
Es ist die Rhetorik der Willkommenskultur – und der Modus, der in Deutschland gesetzt war. Laut ZDF-Politbarometer war im Herbst 2015 zwar bereits mehr als die Hälfte der Deutschen der Meinung, dass der Flüchtlings-Andrang nicht mehr zu verkraften sei, doch der Großteil der Bevölkerung schwankte zwischen Hilfsbereitschaft und Ablehnung. Wann kippt die Stimmung? Das war die Frage, die vieldiskutiert wurde – bis eben zur Silvesternacht.


"Es war ein Initial-Ereignis, was in Köln passiert ist, das die Politik komplett verändert hat."
Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte ist Direktor der NRW School of Governance. Anfang Dezember ist Korte in die Essener Grugahalle gekommen, zum Bundesparteitag der CDU. Strengere Regeln in der Asylpolitik, für ein Teilverbot der Vollverschleierung, gegen die doppelte Staatsbürgerschaft – so lauten die CDU-Beschlüsse von Essen. Ein eindeutiger Schwenk nach rechts, lautet das Urteil nach dem Parteitag:
"In der Beschlusslage der Parteien hat sich das im Laufe der Monate so herausgebildet und jetzt im Dezember ist die CDU eben angekommen an dem Punkt, dass sie die Wirklichkeit über ihre Beschlusslage so versucht zu verändern, dass es, ja, als Reaktion auf die Silvesternacht zu interpretieren ist."
Das betrifft vor allem die konservative Regierungs-Partei, aber eben auch die Kanzlerin – was sich im Laufe dieses Jahres nachvollziehen ließ. "Merkels Sätze", heißt ein kleiner Drei-Minuten-Clip des Multimedia-Teams des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", der bei "Wir schaffen das" begann und dann die Kanzlerin, musikalisch untermalt, am 8. Januar – eben wenige Tage nach der Silvesternacht – bei einem Neujahrsempfang zeigt:
"Und wenn wir bis jetzt gesagt haben nach zwei oder drei Jahren Freiheitsstrafe. Und feststellen, dass solche Verurteilungen bei Delikten, wie sie jetzt in Köln passiert sind, nicht möglich sind, dann muss man doch darüber nachdenken: Verwirkt man sein Gastrecht nicht früher? Und ich muss einfach sagen: Ja, man verwirkt sein Gastrecht früher."
"Die Silvesternacht von Köln war ein Moment, der viele auch Anhänger von Merkel und ihrer Flüchtlingspolitik sehr schockiert hat und es war klar, sie muss irgendwie einen Punkt machen, wie bewertet sie selber diese Ereignisse."
Analysiert "Spiegel"-Redakteurin Melania Amann, die für das Magazin die CDU-begleitet, die rhetorische Entwicklung der Kanzlerin. Eine richtige Distanzierung zu ihrer Flüchtlingspolitik sei es jedoch nicht gewesen, so Amann. Dennoch: Im Laufe des Jahres erfolgte eine Verschärfung des Ausweisungsrechts, bei der bereits geplanten Reform des Sexualstrafrechts lässt sich die Einführung eines ganzen Paragraphen auf die Silvesterereignisse zurückführen. Und auf dem Parteitag in Essen im Dezember gab auch Merkel dann ihren Delegierten endlich zu verstehen: Ja, sie habe verstanden:
"Eine Situation, wie die des Spätsommers 2015 kann, soll und darf sich nicht wiederholen. Das war und ist unser und mein erklärtes politisches Ziel."
Für Politikwissenschaftler Korte eine logische Entwicklung: Solche Ereignisse würden zwar nicht die Realität grundlegend ändern, …
"…aber doch ändern sich die Bezüge, die Beispiele, die Verweise, die Argumente, in vielerlei Hinsicht auch die Geschichte. Also, aus der Willkommenskultur, die Geschichte konnte man nicht nach der Silvesternacht genauso erzählen, wie nachher, auch wenn sich faktisch, dadurch erst mal nichts verändert hat. Durch die Sprache, auch die durch diese Nacht sich entwickelt hat, haben sich die Handlungen und die Machtgefüge eindeutig verändert."
Man sieht viele Menschen am Kölner Hauptbahnhof in der Silvesternacht, im Hintergrund die Freitreppe zum Dom.
In der Silvesternacht sind am Kölner Hauptbahnhof hunderte Frauen sexuell belästigt worden.© picture-alliance / dpa / Markus Boehm

Untersuchungsausschuss in Wahlkampfzeiten

Die Politik, sie ist also eine andere, nach dieser Nacht. Und das vor dem Jahr 2017 mit der Bundestags-, aber eben auch mit der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen.
In Raum E3D 01 wird aufgeräumt. Hier, im SPD-Fraktionssaal im Düsseldorfer Landtag mit Blick auf den Rhein, hätte in diesen Minuten Mitte Dezember die letzte Zeugenbefragung des Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Kölner Silvesternacht stattfinden sollen. Doch weil es Unklarheiten darüber gab, was öffentlich besprochen werden darf oder nicht, wurde dieser letzte Termin nun auf Ende Januar verschoben. Das Landtagspersonal räumt stattdessen das Geschirr ab.
"Der Untersuchungsausschuss soll sich ein Gesamtbild verschaffen über die Geschehnisse in der Silvesternacht im und vor dem Kölner Hauptbahnhof."
So lautet der erste Satz des Untersuchungsauftrages in der Drucksache 16/10798 des "Parlamentarischen Untersuchungsausschusses Silvesternacht 2015".
"Sowohl von Seiten der Landes-, als auch der Bundespolizei und auch der Stadt Köln gab es Fehler und Versäumnisse."
Marc Lürbke ist Obmann der FDP im Ausschuss, zugleich auch innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Lürbke gehört – neben der Piratin Simone Brand – der einzigen Partei an, die im Ausschuss wirklich Opposition ist: Denn die Landespolizei – zuständig für Bahnhofsvorplatz und Dom-Umgebung – liegt im Verantwortungsbereich der rot-grünen NRW-Landesregierung, die Bundespolizei, die sich um die Sicherheit im Hauptbahnhof kümmern muss, untersteht letztendlich dem CDU-geführten Bundesinnenministerium. Und diese politische Trennlinie zog sich damit auch durch die Aufarbeitung – und die bislang 59. Ausschusssitzungen.
Insgesamt 176 Zeugen wurden bislang befragt: Bundesinnenminister Thomas de Maiziere, NRW-Ministerpräsidenten Hannelore Kraft, Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker genauso wie NRW-Innenminister Ralf Jäger oder auch der damals entlassene Kölner Polizeipräsident Wolfgang Albers. Dass die Landesregierung frühzeitig von den Ereignissen wusste oder es gar Vertuschungsabsichten gab, konnte der Ausschuss nicht nachweisen. Doch Monate vor der Landtagswahl im kommenden Mai, entwickelte er sich mitunter zur Wahlkampfbühne, woran alle Mitglieder, auch FDP-Mann Lürbke, beteiligt waren. Auch wenn er selbst sagt:
"Ich hoffe sehr, dass nicht der Eindruck entstanden ist, dass man sich zu sehr in einem Klein-Klein hier verrannt hat, denn es muss ja darum gehen wirklich die strukturellen Defizite aufzudecken. Und ich glaub, das ist auch tatsächlich erfolgt."

Analyse der Silvesternacht

Viele tausend Seiten Akten sind in diesem Untersuchungsausschuss nunmehr aufgelaufen, darunter auch das 51-seitige Gutachten des Kriminologen Rudolf Egg, in denen er die Strafanzeigen aus der Nacht analysiert hat. Neben zu wenigen Beamten vor Ort, unterlassenen Verstärkungsanforderungen und chaotischer Kommunikation, führt er das Entstehen dieser Nacht auf die "Broken-Window-Theorie" zurück. Die Hemmschwelle sinke, wenn Straftaten ohne Konsequenzen blieben:
"Damit so etwas passiert, muss es Menschen geben, die damit angefangen haben. Die müssen also schon mit einer gewissen Absicht hergekommen sein, hier Menschen zu beklauen oder Frauen zu belästigen. Zum zweiten muss es Personen geben, die zunächst dabei stehen, die das irgendwie staunend, vielleicht bewundert oder irritiert betrachten, die dann aber drittens einen gewissen Reiz darin sehen müssen, so etwas ähnliches auch zu machen. Und diese Dinge sind wohl zusammengekommen und zusätzlich die Wahrnehmung: Es passiert mir nichts."
Im Frühjahr soll der Abschlussbericht vorgelegt werden, doch laut Gutachter Egg steht fest: Die Vorkommnisse hätten verhindert werden können, wenn rasch eingeschritten worden wäre, die Täter hätten den Bereich um den Kölner Dom stundenlang als rechtsfreien Raum erlebt. In seinem Bericht finden sich viele erschütternde Aussagen der fast ausschließlich weiblichen Opfer:
"Auf der Domplatte angekommen, wurden wir wirklich an allen Körperöffnungen unzählige Male berührt. Die Männer griffen uns zwischen den Schritt, an den Po und an die Brüste."
"Im Bereich des Kreisverkehrs standen an der Ecke zwei Polizisten. Beide Beamte sahen uns und auch klar und deutlich diese Täter. Wir sprachen die Beamten an, dass wir Hilfe benötigten und versuchten alles in der Hektik zu schildern. Der eine Polizist ließ uns nicht ausreden, der andere drehte sich in Richtung Rheinufer und tat so, als ob er da etwas Wichtiges zu schauen hätte."

Gravierende Missstände bei der Polizei

"Wir haben hier zum Beispiel eine Dienststelle, an der wir tagtäglich unsere Arbeit verrichtet haben, die eigentlich gar nicht als solche Dienststelle vorgesehen war. Das sind eigentlich Lagerräume von der deutschen Bahn, die man uns so zur Verfügung gestellt hat."
Nick Hein steht vor jener Stahltür im Kölner Hauptbahnhof, in der sich in jener Nacht die Menschen drängten.
"Dementsprechend ist es da auch nicht besonders vom Flächenverhältnis ausreichend und es reicht halt gerade so für den alltäglichen Dienst. Wenn man dann Großveranstaltungen hat, wie zum Beispiel Fußball, Demonstrationen oder an diesem Abend Silvester, dann ist man dieser Sache einfach nicht mehr gewappnet."


Einst war es seine Dienststelle: Elf Jahre war der heute 32-Jährige Beamter, drei davon als Bundespolizist im Hauptbahnhof von Köln. Ende 2014 quittiert er seinen Dienst, weil der Polizeiführung sein Hobby als Kampfsportler missfiel. Mittlerweile ist Hein Profi, wird im Januar in die USA ziehen: Doch in diesen Tagen erscheint noch ein Buch von ihm, "Polizei am Limit", heißt es. Es ist die Bestandsaufnahme eines überforderten und vernachlässigten Berufsstandes – und Hein ist noch einmal in den Hauptbahnhof zurückgekehrt, um darüber zu berichten.
"Ich kann mich erinnern, wir stehen jetzt hier vor dem Haupteingang. Wenn wir durch dieses Tor geschritten sind, sind wir eigentlich unmittelbar mit Raketen beschossen worden. Ich habe das immer damals mit dem Wort Bürgerkrieg verglichen. Du bist rausgegangen und es hat gebrannt."
Die Kölner Silvesternacht verbrachte er im Ausland, las im Internet von den Vorfällen und von Schuldzuweisungen gegenüber der Polizei.
"Da wusste ich schon, dass das nicht stimmt, weil ich die Jahre zuvor erlebt hatte, weil ich meine Kollegen kenne. Dann habe ich mich mit meinen Kollegen unterhalten und einfach gesagt: Es hat zwar jetzt jeder schon seine Meinung dazu geäußert, aber eine mehr oder weniger kann auch nicht schaden. Und dann habe ich meine Sicht der Dinge dazu geschrieben."
Innerhalb einer Stunde wurde der Text auf seiner Facebook-Seite 20.000 Mal gelikt, Verlage meldeten sich, ein Buch entstand, in dem ein frustrierender Alltag mit schlechter Ausrüstung, unterbesetzten Schichten, respektlosen, aggressiven Personen, wenig Konsequenzen und einer ignoranten Politik beschrieben werden. Für Hein war die Silvesternacht das Ergebnis eines Prozesses:
"Wie so viele Missstände bei der Polizei hat man sich irgendwann daran gewöhnt. Wenn dann Kollegen mit Raketen abgeschossen wurden oder wenn dann die Böller auf die Streifenwagen eingeprasselt sind, dann hat man das halt so hingenommen. Ist halt Silvester."
Der ehemalige Polizist Nick Hein vor dem Kölner Hauptbahnhof.
Der ehemalige Polizist Nick Hein.© Deutschlandradio / Moritz Küpper

Fakten wurden offen angesprochen

Die Hemmschwelle sinke, wenn Straftaten ohne Konsequenzen bleiben, hat Gutachter Egg als Ursache genannt. Und wer Hein reden hört, bekommt eine Idee davon, was es heißen könnte. Nicht nur am Jahreswechsel, sondern auch an den restlichen 364 Tagen im Jahr. Aber:
"Und jetzt spricht man über mögliche Fakten, die man vorher vielleicht zensiert hat. Dass es hier halt hauptsächlich nordafrikanische Intensivtäter waren."
Die bislang verurteilten Täter aus der Nacht kamen fast ausschließlich aus dem Ausland, vor allem aus Algerien und Marokko, aber auch aus dem Irak, Libyen, Tunesien und Afghanistan. Ein Punkt, der auch im Untersuchungsausschuss Silvesternacht zur Sprache kam und der ebenfalls für FDP-Politiker Lürbke von Bedeutung ist:
"Ohne Zweifel war die Silvesternacht ein Wendepunkt in der Debatte, die wir führen, auch über Menschen, die zu uns kommen, beispielsweise aus Nordafrika. Ich erinnere mich gut an Diskussionen, die wir auch im Innenausschuss des Landtages vor einigen Jahren geführt haben, wo diese Probleme eben nicht offen benannt worden sind, wo Probleme ja fast schön geredet worden sind. Diese Debatte ist durch die Silvesternacht nicht nur angefeuert worden, sondern sie ist auch ein stückweit… hat sich gewandelt. Es ist richtig nun, die Dinge beim Namen zu nennen."
Eine Debatte, die auch die Medien erreichte. Dabei ging es natürlich um die Berichterstattung im Allgemeinen, um Neuigkeiten, also um die Frage: Was war los in dieser Nacht? Denn die umfangreiche Berichterstattung – auch im "Deutschlandradio" – setzte erst mit dem 4. Januar ein – und schuf so ein großes Misstrauen und einen Vertrauensverlust. Peter Pauls, Chefredakteur des "Kölner Stadt-Anzeigers", brachte die Wünsche seiner Leserinnen und Leser nach den Ereignissen auf den Punkt:
"Ich möchte wissen, was ist los gewesen, was habt ihr herausbekommen. Es war im Grunde das: ´Wir möchten wissen, was ist da passiert? Und wir möchten nicht, dass irgendein Filter dazwischen geschaltet ist. Wir können uns selber unser Urteil bilden.`"
Viele Anzeigen, wenig Urteile

Viele Anzeigen, wenig Urteile

"Meine Damen und Herren, ich darf sie ganz herzlich …"

Die altehrwürdige Bibliothek des Oberlandesgerichts Köln im Oktober. Einmal im Jahr bitten die Präsidenten von Oberlandesgericht, Land- und Amtsgericht Köln zu einem Jahresgespräch. Eigentlich ein wenig schlagzeilenträchtiger Termin, doch dieses Mal ist es anders: Denn natürlich ist auch die Kölner Silvesternacht Thema:
"Der Eindruck, den ich habe, ist, dass diese Verfahren sehr gut aufbereitet worden waren. Dass wir diese, allerdings sehr wenigen Verfahren, wenn man die mit der Zahl der Anklagen vergleicht, gut abgearbeitet haben."
Henning Banke, der Kölner Amtsgerichtspräsident wirkt zufrieden an diesem Nachmittag. "1200 Anzeigen, 19 Urteile", wird "Spiegel Online" zwar wenig später titeln, doch diese Diskrepanz zeigt, dass das eigentlich Problem der juristischen Aufarbeitung der Silvesternacht nicht bei den Richtern, sondern vielmehr bei den Ermittlern lag, weiß auch Banke:
"Die standen vor teilweise wirklich unlösbaren Aufgaben. Es war nicht alles videoüberwacht. Es war dunkel, die Videoaufnahmen im Hauptbahnhof kann man für eine Ermittlungsarbeit fast völlig vergessen."
Zwar bekam auch die Kölner Justiz nach der Silvesternacht mehr als 30 zusätzliche Richterstellen zugesprochen, doch diese wurden für die Ahndung der Silvesterübergriffe gar nicht gebraucht. Denn: Letztendlich wurde bis heute in nur 36 Fällen Anklage erhoben. Ein Anteil von gut zwei Prozent. Aber:
"Immerhin ist es so gewesen, dass man zunächst einmal, im Vergleich zu den Strafanzeigen, die erstattet worden sind, in knapp zehn Prozent der Fälle, einen Täter auch hat ermitteln können. In zwei Drittel dieser Fälle hat sich dieser erste Verdacht, den man dort hatte, allerdings nicht erhärten können, so dass man diese Verfahren wieder hat einstellen müssen bei der Staatsanwaltschaft."
Nikolaos Gazeas, Rechtsanwalt aus Köln, Strafrechts-Experte, hat verschiedene Vorträge rund um die juristische Aufarbeitung der Silvesternacht gehalten. Er hat sich die bislang 25 abgeschlossenen Verfahren gegen die insgesamt 29 Angeklagten angeschaut. Zwei Beschuldigte wurden wegen Sexualdelikten verurteilt, einer freigesprochen, ansonsten wurden Diebstahl und Hehlerei geahndet. Gazeas hat dabei auch einen Silvester-Effekt festgestellt: Die Strafen seien natürlich im gesetzlich vorgegeben Rahmen ausgesprochen worden, aber deutlich härter, so der Jurist:
"In dem Großteil der Fälle haben wir hier Freiheitsstrafen, die ausgesprochen worden sind. Sehr oft auch Freiheitsstrafen ohne Bewährung, teilweise sogar bei Straftätern, die nur sehr gering vorbelastet waren. Das war vor den Silvesternachts-Vorfällen in Köln in diesem Kriminalitätsbereich absolut unüblich, also da hat eine ganz erhebliche, ja, Wandelung stattgefunden und zwar – und das ist auch wichtig – nicht nur in Silvesternachts-Fällen, sondern auch darüber hinaus."

Konsequenzen aus der Silvesternacht

In den Urteilsbegründungen fanden sich oft auch deutliche Worte:
"Ich habe etwa Ausführungen gelesen, wie: Dieses Verhalten zeigt ein Frauenbild des Angeklagten, das dringend durch deutliche Maßnahmen korrigiert werden muss."
Aber auch in anderen juristischen Abläufen stellte Gazeas Veränderungen fest. Es sei bei den Silvesternachts-Fällen zu beobachten,…
"…, dass in fast allen Fällen Untersuchungshaft angeordnet worden ist. Das ist sehr ungewöhnlich. Da haben sich sogar einige Richter überrascht gezeigt. Die Staatsanwaltschaft hat hier sehr hart durchgegriffen. Und seitdem ist es in Köln auch so, dass man, dass ist mein Eindruck, einen Haftbefehl auch schneller bekommt, als das früher der Fall war."
Die kölsche Justitia galt einst als lasch, so hörte es Gazeas aus der Richterschaft:
"In Köln haben es Dauer-Kleinkriminelle mehr oder weniger gut, weil sie im Großen und Ganzen nicht wirklich viel zu befürchten haben. Aber damit ist seit den Silvesternachts-Vorfällen Schluss."
Aktuell sind es noch sechs Strafverfahren, die aus der Silvesternacht anhängig sind.
Der Kölner Bahnhofsvorplatz, Mitte Dezember. Als Medientermin deklariert, wird im Schatten des Domes eine Kamera angebracht. Zwölf Standorte wurden ausgewählt, insgesamt 25 Kameras werden angebracht, Polizeisprecher Dirk Weber:
"Die Videoüberwachung, diese Signal werden ins Präsidium übermittelt. Dort werden beamte die Bilder beobachten und haben dann einen direkten Draht zur Leitstelle und könnten dann die Kollegen der Leitstelle informieren, wenn ihnen was Verdächtiges auffällt."


14 Tage lang soll das Videomaterial zudem gespeichert werden, um gegebenenfalls Beweise zu haben. Die Forderung nach Kameras auf öffentlichen Plätzen ist alt, doch es brauchte erst die Silvesternacht, um diese umzusetzen. Zusätzlich werden alleine rund 1500 Landespolizisten am Jahreswechsel präsent sein, mehr als zehn Mal so viele wie im vergangenen Jahr. Der neue Kölner Polizeipräsident Jürgen Mathies, der als eine Konsequenz aus der Silvesternacht ins Amt gekommen war, bekam im Laufe des Jahres viel Lob: Die Art und Weise, wie unter seiner Führung Großereignisse wie die Kölner Karnevalstage, das Feuerwerk der Kölner Lichter unmittelbar nach den Terroranschlägen von Nizza oder auch politische Demonstrationen mit mehreren zehntausend Beteiligten bewältigt wurden, schaffte Vertrauen. Im Sommer konnten zudem sechs gewalttätige russische Hooligans auf der Domplatte direkt festgenommen werden. Vor einem Jahr wäre dies wohl nicht gelungen. Für seine Arbeit erhielt er zwar bereits einen Preis der Stadtgesellschaft, doch Mathies selbst zieht noch vorsichtig Bilanz:
"Wir haben eine Trendwende im Bereich der Kriminalitätsentwicklung hinbekommen, wir haben erhebliche Rückgänge im Bereich der sehr belastenden Delikte Wohnungseinbruch, Taschendiebstahl. Wir sind sehr präsent, das heißt, die Menschen wissen, wenn sie hier nach Köln kommen, ist Polizei zu sehen."
Das alles war und ist möglich, weil Mathies fast alles bekam, was er forderte: Personal, Material, Kompetenzen. Ein Reflex, der häufig nach großen Vorfällen zu beobachten ist, wie auch nach dem Terroranschlag von Berlin kurz vor Weihnachten. Auch da wurden allerorts Sicherheitsvorkehrungen verschärft. Monsignore Robert Kleine, der Kölner Dom- und Stadtdechant, twitterte unmittelbar danach ein Foto aus seinem Büro, dass den Weihnachtsmarkt neben der Kathedrale zeigte: "Seit gestern Abend in Moll", so sein Kommentar. Als Anwalt der Gemeinden beim Erzbistum, aber auch der Kirche gegenüber der Stadt, hat er einen tiefen Einblick in die Gefühlswelt Kölns – und sah bereits die Silvesternacht als einen Terroranschlag. Denn das bedeute ja Angst und Schrecken zu verbreiten…
"So gesehen war sicherlich auch das, was wir Silvester erlebt haben, so etwas, wo man Sorge hat: Kann auch mir oder meiner Tochter so etwas passieren."
Er selbst war mit seinen Eltern in der Silvesternacht noch im Gottesdienst gewesen, verließ dann aber rasch die Domplatte. Sicherlich sei dieses Jahr danach eine Probe gewesen, so Stadtdechant Kleine:
"Die Menschen vor Ort in den Vereinen oder Stadt haben sich aber davon nicht abbringen lassen, weil sie sehen ja nicht die Flüchtlinge, sondern sie sehen konkrete Menschen und Familien, die angekommen sind."
Demonstration in Köln nach den Übergriffen der Silvesternacht
Demonstration in Köln nach den Übergriffen der Silvesternacht© dpa / picture-alliance / Oliver Berg

Köln und das diesjährige Silvester

Und auch sonst hat die Stadt das Ereignis verarbeitet: Es gab eine sogenannte Kölner Botschaft der Stadtgesellschaft für mehr Toleranz, die Hotelbuchungen steigen wieder an und an Silvester 2016 wird es – neben einer Schutzzone rund um den Dom – auch eine Lichtinstallation des Künstlers Philipp Geist am letztjährigen Tatort geben. Ein positives Zeichen soll von Köln ausgehen.

"Ich hätte mir gewünscht, dass in der Silvesternacht 2016, zehntausende Bürger auf dieser Domplatte sind, weil man etwas findet, was sie gemeinsam dorthin zieht."

Sagt dagegen Peter Pauls, der scheidende Chefredakteur des "Kölner Stadt-Anzeigers".
"Jetzt haben wir Lichtspiele, auch das ist zumindest der Versuch, die Platte auch symbolisch zu reinigen. Wir müssen aber schauen, dass wir die Dinge nicht treiben lassen."
Dabei hat sich im abgelaufenen Jahr viel getan: Parteipositionen haben sich verändert, das Strafmaß verschärft, die Diskussion wurde direkter und Musiker Willizil im Domforum hat eine neue Strophe geschrieben.
"… ävver Kopp huh, Kölle – hey, su bes do doch nit, ding Siel es fründlich, stolz du stark."
Der Refrain seines Liedes, ist aber noch immer gleich:
"Hey Kölle, do ming Stadt am Rhing…"
Darin geht es um Gefühle. Wie eben auch im Jahr 2016, in dem der Begriff "Postfaktisch" zum Wort des Jahres gewählt wurde.
"…he, wo ich jroß gewoode ben…"
Jenes Wort, nach dem Fakten eine immer kleinere, Emotionen aber eine umso größere Rolle spielen.
"…do bes en Stadt met Hätz un Siel…"
Das passt. Auch zum Umgang mit der Kölner Silvesternacht.
"…hey Kölle – do bes e Jeföhl!"
Welches Gefühl, das liegt im Empfinden eines jeden Einzelnen – vor, aber auch eben nach Silvester.
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