Christian Kohlross ist Kulturwissenschaftler an der Universität Mannheim und als Dozent in der Psychotherapeuten-Fortbildung sowie als Psychotherapeut mit eigener Praxis in Berlin tätig.
Lieber Komfortzone als Daueralarm
Die Komfortzone hat nicht den besten Ruf. Sie ist der Bereich, in dem sich die Veränderungsunwilligen einrichten. Doch so schlecht sei diese Zone gar nicht, meint der Kulturwissenschaftler und Psychotherapeut Christian Kohlross. Denn die Alternative dazu - der Alarm als gesellschaftlicher Dauerzustand - sei nicht gesund.
Wie wir alle verwenden auch Gesellschaften einen Großteil ihrer Kraft und Energie darauf, Gefühle im Raum des Erträglichen und sich selbst in der Komfortzone zu halten. Nicht das Erreichen eines großen Ziels, nicht der Überschwang des Gefühls im Augenblick vollkommenen Glücks ist der eigentliche Zweck ihres Handelns, sondern die Vermeidung des mit Kontrollverlust verbundenen emotionalen Ausnahmezustands.
Ziel der Politik ist Erhalt der Komfortzone
Eines der vornehmsten Ziele der Politik ist es daher, die ihr schutzbefohlenen Massen in dieser Komfortzone zu halten, vor hysterischem oder gar traumatischem Erleben zu bewahren.
Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs haben, verständlich genug, die traumatisierten westlichen Gesellschaften eine Politikerklasse hervorgebracht, die mit Amtserhalt und Wiederwahl immer dann rechnen durfte, wenn es ihr gelang, ihre Wählerschaft in dieser Komfortzone zu halten, sie vor einem erneuten emotionalen Ausnahmezustand zu bewahren.
Der Alarmzustand ist jetzt der Normalzustand
Dazu jedoch ist die Politik in diesen von globalisierten Kriegen sowie Klima-, Finanz- und Flüchtlingskrisen gezeichneten Zeiten mittlerweile weniger denn je in der Lage.
Der Alarmzustand ist längst zum Normalzustand geworden, Angst zum bestimmenden Gefühl kollektiven Erlebens. Eine Rückkehr in die Komfortzone, bis auf weiteres, ist sie nicht zu erwarten.
Denn längst gibt es auch in der Sphäre des Politischen nichts mehr, woran man sich halten kann, im postfaktischen Zeitalter nicht einmal mehr die normative Kraft des Faktischen. So wird einem Gefühl der Hilflosigkeit, Verunsicherung und Angst Vorschub geleistet, und das gerade in Zeiten, die Selbstdistanz, Urteilskraft, Mut fordern.
Frank Walter Steinmeier, der Außenminister, hat dabei erst jüngst wieder versucht, dieser kollektiven Regression im Zeichen der Angst durch ein vehementes Plädoyer für die aufklärerischen Tugenden der Vernunft und des Verstandes entgegenzutreten.
Angst ist nicht die Ursache, sondern das Sympton
Vermutlich und bedauerlich genug: mit wenig Aussicht auf Erfolg.
Denn Angst ist gar nicht die Ursache der Störung des derzeitigen kollektiven Erlebens, sondern deren Symptom. Als Symptom verbirgt Angst eine Seelenlage, die so konfliktreich, so unerträglich ist, dass, gerade um sie nicht erleben zu müssen, Angst erlebt wird.
Dabei ist nicht die begründbare, sogenannte Realangst - etwa des Mittelstands vor sozialem Abstieg oder der Weltgemeinschaft vor der Zerstörung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen - das Problem, sondern die neurotische Angst, zum Beispiel die, entgegen jeder Wahrscheinlichkeit durch Fremde, Flüchtlinge oder gar Terroristen bedroht zu sein. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Attentats zu werden, heute in der BRD um vieles geringer als in den 70er Jahren.
Das gemeinsame Thema der Ängste – Gewalt – gibt dabei einen untrüglichen Hinweis auf ihren verborgenen Kern. Es ist die eigene, es ist die kollektiv verdrängte Gewalt, die in Gestalt des Terroristen, des Flüchtlings, des Fremden wiederkehrt und als Angst fühlbar wird.
Konkurrenzgesellschaften sind Gewaltgesellschaften
Denn eine auf Konkurrenz, Wettbewerb und den Kampf um Lebenschancen beruhende Gesellschaft ist entgegen ihrer eigenen Selbsteinschätzung durchaus eine gewalttätige Gesellschaft. Und sie ist sogar so gewalttätig, dass sie fortwährend Opfer, Verlierer, Ausgeschlossene produziert, und das weltweit. Die daraus resultierende Schuld aber fühlt sie nicht, sondern an ihrer Statt etwas anders: Angst.
Wollen wir dennoch die Hoffnung nicht aufgeben, irgendwann einmal in die Komfortzone zurückkehren zu können, so werden wir erst einmal den Mut aufbringen müssen, uns dem von uns notorisch Verdrängten zu stellen – der eigenen Gewalt, der eigenen Schuld.