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Das geplagte Genie
Er inspirierte mit seinem unnachahmlichen Stil Orchester und begeisterte das Publikum. Der Dirigent Carlos Kleiber war eine begnadete Jahrhundertbegabung. So rätselhaft, voller Widersprüche, Abgründe und Verheißungen, wie die Musik selbst.
Als Carlos Kleiber 1974 an der Bayerischen Staatsoper Johann Strauss‘ berühmte Operette "Die Fledermaus" dirigierte, war er bereits ein lebender Mythos. "Kleiber sorgt für den Super-Schwips", titelte der Münchner Merkur nach der Premiere. Ganz München schwelgte im Fledermaus-Rausch.
Aber Kleiber, die skrupulös-genialische Jahrhundertbegabung, war auch ein Weltmeister der Verweigerung. Er war als Künstler hyperempfindlich und dirigierte, nach einem Bonmot von Herbert von Karajan, nur "wenn der Kühlschrank leer" war.
Schon auf dem Zenit seiner Laufbahn, von den 1980er-Jahren an, begann er sich rar zu machen, und zog sich, zunehmend enttäuscht vom Musikbetrieb, in den 1990er-Jahren ganz von den Podien zurück.
Der Aufstieg Kleibers
Karl Ludwig Bonifacius Kleiber, bekannt unter seinem späteren Namen Carlos Kleiber, wurde am 3. Juli 1930 in Berlin geboren. Seine Mutter war die jüdische Amerikanerin Ruth Goodrich, sein Vater der damalige Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden, Erich Kleiber.
Der Weg Carlos Kleibers zum mythenumrankten Jahrhundertdirigenten ist kompliziert. Sein Vater Erich Kleiber leitet die Berliner Staatsoper Unter den Linden als engagierter Verfechter der modernen Musik. Er ist ein dezidierter Gegner der Nationalsozialisten. Unter dem Druck des Hitler-Regimes emigriert er 1935 nach Argentinien. Die Familie folgt ihm fünf Jahre später. Die frühe Kindheit des Sohnes ist von zahllosen Umzügen und wechselnden Internatsaufenthalten geprägt. Auf Anraten seines Vaters studiert Carlos zunächst in Zürich Chemie, bevor er sich dann der Musik verschrieb.
Kleiber geht zum Theater im argentinischen La Plata, müht sich als Korrepetitor am Münchner Gärtnerplatztheater und an der Wiener Volksoper und landet schließlich am Hans-Otto-Theater in Potsdam, wo er 1955 endlich sein erstes Bühnenwerk dirigieren darf.
Ein schüchterner Mann am Pult
Das Orchester sträubt sich während der Proben zunächst, dem unerfahrenen Kapellmeister zu folgen. Niemand ahnt zu dieser Zeit, dass es sich bei dem schüchternen Mann am Pult um den Sohn des großen Erich Kleibers handelt, denn Carlos Kleiber tritt unter dem Pseudonym Karl Keller auf.
Auf die erste Kapellmeisterstelle in Düsseldorf, wo Kleiber sich von 1960 an ein reiches Repertoire erarbeitet, folgt ein zweijähriges Engagement am Opernhaus in Zürich. Doch erst mit seiner Verpflichtung an die Württembergische Staatsoper in Stuttgart im Jahr 1966 gelingt ihm der Durchbruch.
Hier feiert er seine ersten Sensationserfolge mit Alban Bergs "Wozzeck" in der Regie von Günther Rennert und mit Carl Maria von Webers "Freischütz" in der Inszenierung von Walter Felsenstein. Mit Bergs "Wozzeck" ist Kleiber vertraut wie kaum ein zweiter. Sein Vater Erich Kleiber hatte das Werk 1925 an der Berliner Staatsoper aus der Taufe gehoben, mit einer Uraufführung, die sich, nach den anerkennenden Worten Alban Bergs, "gewaschen" hatte.
1968 gibt Kleiber mit dem "Rosenkavalier" von Richard Strauss sein Debüt an der Bayerischen Staatsoper. Und wird umjubelt. 1972 folgt unter seiner Leitung die legendäre Neuproduktion in der Regie von Otto Schenk. Brigitte Fassbaender ist Kleibers Octavian.
Kleibers besonderer Stil
1970 nimmt Kleiber für die SDR-Fernsehreihe "Bei der Arbeit beobachtet" in der Stuttgarter Villa Berg mit dem Südfunk-Sinfonieorchester die Ouvertüren zur "Fledermaus" und "Freischütz" auf.
Diese auf DVD erhältlichen Probenmitschnitte erhalten später Kultstatus, weil sie auf einzigartige Weise erlebbar machen, wie es Kleiber mit scharfem Witz, jungenhaftem Charme und unbändiger Fantasie gelingt, die anfangs stocksteif wirkenden Musiker schließlich ungeahnt über ihre eigenen Fähigkeiten hinauswachsen zu lassen.
Bis heute versuchen angehende Dirigenten immer wieder, Kleibers ungewöhnlichen Probenstil zu imitieren.
Die Probenarbeit von Carlos Kleiber ist Legende. Rudolf Watzel, der ehemalige Orchestervorstand der Berliner Philharmoniker erinnert sich: "Ich habe wirklich keinen einzigen Dirigenten erlebt, der so viele Bilder erfinden konnte in der Probenarbeit. Der hatte zu jedem Takt Musik ein Bild. Und mit den Bildern hat er uns natürlich genau dahin gebracht, wo er uns haben wollte."
Yoel Gamzou beurteilt Kleiber weniger von den Fähigkeiten der Orchesterführung her, als vom rein musikalischen Resultat. Von Kindheit an haben ihn Kleibers hoch expressive, intensiv sprechende Interpretationen tief beeindruckt.
"Kleiber ist jemand, der unglaublich grundsätzlich mit Zeit arbeitet, das ist sein Material, die Elastizität der Zeit", sagt er. "Und er geht mit Musikern in ganz viele Situationen, wo sie nicht wissen wie es weitergeht und dieser Moment der Ungewissheit ist der Moment, wo Musik entsteht."
Kleiber auf dem Gipfel seiner Karriere
Carlos Kleiber ist auf dem Gipfel seiner Karriere. Die 1970er-Jahre machen ihn zu einer heiß umworbenen Rätselfigur am Pult. München schätzt sich glücklich, den als Sensation gefeierten Dirigenten für einige Jahre, wenn schon nicht mit einer festen Position, so doch immerhin als regelmäßigen Gast an sein Haus binden zu können.
Auch wenn Carlos Kleiber schon bald beginnt, sich rar zu machen, steht er doch bis 1988 insgesamt mehr als 250 Male am Pult des Bayerischen Staatsorchesters - Akademiekonzerte und Tourneen mitgerechnet. An der Bayerischen Staatsoper versetzt Kleiber Publikum und Kritiker in diesen Jahren nicht nur mit seinen Lieblingsstücken "Rosenkavalier" und "Fledermaus" in enthusiastischen Taumel. Zu Sensationserfolgen geraten auch die Premieren von Bergs "Wozzeck", Verdis "Otello" und der "Traviata".
Wichtige Debüts fallen in diese Münchner Zeit.
Carlos Kleiber bei den Wiener Philharmonikern:
Kleiber erobert Wien, die Heimatstadt seines Vaters: An der Staatsoper dirigiert er 1973 Wagners "Tristan und Isolde" und gibt mit den Wiener Philharmonikern im Jahr darauf auch Konzerte in Bratislava und Göteborg. Das Royal Opera House Covent Garden kommt in den Genuss seines "Rosenkavaliers". Auch an der Mailänder Scala debütiert Kleiber 1976 mit einem "Rosenkavalier" sowie mit einem sensationellen "Otello".
In Mailand freundet er sich mit Plácido Domingo, Claudio Abbado und Mauricio Pollini an. Nachdem sich die Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth schon 1969 vergeblich um ihn bemüht hatten, übernimmt Kleiber in den Festspielsommern 1974, 1975 und 1976 den Bayreuther "Tristan".
Seine Empfindlichkeiten sind berüchtigt
Ein legendärer Streit: Mit dem Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli und dem Berliner RIAS-Orchester soll es 1975 zu einer Einspielung des 5. Klavierkonzerts von Beethoven kommen. Beide Künstler hatten das Werk einige Jahre zuvor im Konzert aufgeführt. Die Orchesterproben laufen sehr gut.
Die Probleme beginnen, als Michelangeli dazukommt. Er ist selber ein hyperempfindlicher Perfektionist, der immer mit eigenem Flügel reist. In Berlin macht er, wie einer der RIAS-Musiker sich erinnert, "viel Theater" wegen seines Klaviers. Es kommt zum Eklat und zum Abbruch der Aufnahmen.
Der ehemalige Solo-Oboist Klaus König hat sich die Geschichte der geplatzten Aufnahme von Kleiber so erzählen lassen:
"Beethoven Klavierkonzert. Mit einer ganz langen Orchestereinleitung. Dieser blasierte Michelangeli, der saß da so am Flügel. Und Kleiber beobachtete Menschen auch sehr gern und hat den immer so angeschaut, und hat mir erzählt: Wissen Sie, allein dieses Gesicht! Das geht einem so auf die Nerven, der braucht noch gar nichts machen, immer diese Fleppe da. Dann hat er also diese lange Einleitung und da hat der Michelangeli zu ihm gesagt auf Italienisch: 'Das war jetzt sehr deutsch'. Dann hat der Kleiber gesagt: 'Beethoven war auch ein deutscher Komponist', hat seinen Stecken hingelegt und ist gegangen. Der fand den grauenhaft", erinnert sich Klaus König.
Es gibt noch zahlreiche ähnliche Skandale in Kleibers Laufbahn.
Das Verhältnis zum Vater
"Da sind einfach Abgründe vorhanden. Und es hat sicher mit seinem Vater zu tun. Der wollte ja nicht, dass er Musiker wird. Mit Sicherheit hat der immer gezweifelt, dass er eigentlich was kann", sagt Rudolf Watzel.
Darauf, dass Erich Kleiber die Dirigentenkarriere seines Sohnes nachhaltig verhindern wollte, gebe es allerdings keine Hinweise, meint Jens Malte Fischer.
"Die ganzen Anekdoten, die darauf hinauslaufen, dass der Vater mit allen Mitteln bis zuletzt verhindern wollte, dass der Sohn Dirigent wird, das sind nach meinen Erkenntnissen und Gesprächen und Recherchen, die sind mit Vorsicht zu genießen", sagt er.
Tatsächlich wandelt Carlos Kleiber auch mit seiner Repertoireauswahl konsequent auf den Spuren seines Vaters.
Rückzug von der Musik
Bei einem Künstler, der bereits zu Lebzeiten zum Mythos stilisiert wird, wächst der Druck, mit jedem Konzert gleichsam gegen sich selbst antreten zu müssen. Kleiber zieht sich ab den späten 1980er-Jahren immer mehr zurück.
Christian Thielemann kann Kleibers Haltung sehr gut nachvollziehen: "Ich glaube, es gibt diesen wahren Satz von Ronald Wilford. Er hat über Kleiber gesagt: 'He doesn’t function.' Ich kann mir vorstellen, dass er gesagt hat, ich habe schlichtweg darauf keine Lust. Und das finde ich als Grundhaltung grundsympathisch."
Kleiber lebt so zurückgezogen in seinem Haus in Grünwald, dass im Jahr 2002 eine Falschmeldung die zynische Nachricht verbreitet, er sei bereits gestorben. Der Tod seiner Frau Stanka im Jahr 2003 trifft ihn schwer. Zu der Zeit ist er selbst bereits ernsthaft erkrankt.
Am 11. Juli 2004 fährt Carlos Kleiber mit dem Auto ins slowenische Konjsica, begleitet von den Klängen seiner eigenen Aufnahme der 4. Symphonie von Beethoven mit dem Bayerischen Staatsorchester, die man später im CD-Spieler findet. Zwei Tage danach wird er tot in seinem Ferienhaus aufgefunden.
Carlos Kleiber bleibt die Sphinx unter den großen Dirigenten, eine begnadete Jahrhundertbegabung, so rätselhaft, voller Widersprüche, Abgründe und Verheißungen, wie die Musik selbst. Aus seinen Aufnahmen spricht er bis heute zu uns.