Eine Ehrenrettung des Skandals
"Ich klage an…!" – so löste der Schriftsteller Émile Zola vor 120 Jahren in der Dreyfus-Affäre einen Skandal in Frankreich aus. Ein beispielgebender Akt, sagt Soziologe Nils Markwardt, gerade aus heutiger Sicht – in Zeiten von Trump und AfD.
Zolas wütende Intervention, die ihm selbst zunächst eine Verurteilung wegen Verleumdung einbrachte, war im Nachhinein mehr als nur ein publizistischer Weckruf: Sie bildete die Geburtsstunde des engagierten Intellektuellen. Prägte sie doch das Selbstverständnis unzähliger Schriftsteller, Künstler und Philosophen als Stichwortgeber öffentlicher Debatten. Von Kurt Tucholsky über Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir bis zu Jürgen Habermas und Noam Chomsky: Seit Zola galten Intellektuelle immer auch als einflussreiche Agenten des öffentlichen Aufschreis.
Heute sieht die Situation anders aus. Zum einen haben engagierte Intellektuelle in der digital vernetzten Gesellschaft enorm an Einfluss eingebüßt. Oder anders gesagt: Öffentliche Debatten haben sich in den letzten 20 Jahren demokratisiert und dezentralisiert. Zum anderen steht aber auch die Empörung selbst zunehmend unter Verdacht. Diente sie einst als Anstoß zur Aufklärung, fungiere sie in der daueralarmierten Mediendemokratie oft nur noch als aufmerksamkeitsökonomischer Treibstoff von Populisten.
Gezielte Grenzüberschreitungen
Und tatsächlich: Nicht nur scheint die politische Debatte von Skandal zu Skandal zu hecheln, sondern Politiker wie Donald Trump oder Beatrix von Storch nutzen durch gezielte Grenzüberschreitungen die reflexhafte Empörung für ihre Zwecke. Muss die Devise nunmehr also lauten: Empört euch nicht? Die Antwort lautet: Ja und nein.
Einerseits stimmt es: Wer über jedes Stöckchen springt und alles skandalisiert, spielt nicht nur das Spiel der Populisten, sondern lässt auch wenig Raum für tiefer gehende Debatten. Andererseits wohnt der Skandalisierung aber auch eine wichtige soziale Funktion inne. Indem die Empörung, so bemerkte der Soziologe Karl Otto Hondrich. Zitat, die "fortschreitende Unmoral anprangert, fördert sie den Fortschritt der Moral. Sie ist Bestandteil einer moralischen Regeneration." Richtig verstanden kann Skandalisierung also auch immer eine Form der Herrschaftskontrolle sein, weil sie die Normen und Werte einer Gesellschaft stabilisiert oder gar erneuert. Das wird besonders dann deutlich, wenn sie völlig verschwindet. Denn dort, wo sich keiner mehr aufregt, wo die Niedertracht nur noch Achselzucken erzeugt, regiert am Ende der Zynismus. Und das ist dann jener politische Nährboden, auf dem Politiker wie Silvio Berlusconi groß wurden.
Provokationen vs. berechtigte Skandale
Nicht die Skandalisierung selbst ist also das Problem, sondern ihre Art und Weise. Deshalb könnte man zumindest idealtypisch zwischen produktiven und destruktiven Skandalen unterscheiden. Destruktiv sind sie dort, wo sie lediglich die Beißreflexe gezielter Provokationen bilden. Letztere sollte man deshalb am besten ins Leere laufen lassen. Produktiv sind Skandale hingegen dort, wo sie exemplarisch Strukturen der Gewalt und Ungerechtigkeit offen legen. Und hierbei scheint die Bundesrepublik eher noch unterskandalisiert. Man denke etwa nur an den Pflegenotstand, die Kinderarmut oder die ungleiche Vermögensverteilung.
Wobei produktive Entrüstung nicht nur gezielt und überlegt sein muss. Sie braucht immer auch das, was der Philosoph Michel Foucault "parrhesia" nannte: Ein mutiges Wahrsprechen. Ein Sprechen also, dass sich nicht in persönlichen Interessen erschöpft. Ein Sprechen, dass beharrlich ist und sich gegen die Mächtigen, nicht die Machtlosen richtet. Auch in dieser Hinsicht bleibt die Intervention Émile Zolas beispielgebend. Durch die Hartnäckigkeit des Schriftstellers wurde Alfred Dreyfus 1906 nicht nur aus dem Gefängnis entlassen und rehabilitiert, sondern Zolas Aufschrei avancierte auch zum Startschuss einer gesellschaftliche Bewegung, die Frankreich tiefgreifend liberalisierte. Zolas offener Brief zeigt also vor allem eines: Wie aus Empörung wirkliche Emanzipation wird.