Neunte Sinfonie

Wie Beethovens Neunte zum politischen Welthit wurde

04:59 Minuten
Gemaltes Porträt von Ludwig van Beethoven beim Komponieren. Der Komponist schaut grimmig, sein Haar liegt wild, er trägt einen leuchtend roten Schal.
Ludwig van Beethoven hat seine Neunte Sinfonie selbst nie gehört. Bei der Uraufführung am 7. Mai 1824 war der Komponist bereits komplett taub. © picture alliance / Heritage Images / Fine Art Images
06.05.2024
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Vor 200 Jahren wurde Ludwig van Beethovens Neunte Sinfonie uraufgeführt. Vor allem ihr Schluss ist berühmt, in dem der Komponist Schillers Ode an die Freude vertonte. Das Werk, das heute für Europa steht, wurde immer wieder politisch vereinnahmt.
74 Minuten Musik kann eine Standard-CD wiedergeben – angeblich, damit Ludwig van Beethovens Neunte Sinfonie in Gänze darauf passt. Unabhängig davon, ob diese Legende stimmt, sie würde dem Status von Beethovens letzter vollendeter Sinfonie gerecht.
Vor 200 Jahren uraufgeführt, ist Beethovens Neunte bis heute eines der populärsten Werke klassischer Musik. Einen Ausschnitt – das Vorspiel zur Ode an die Freude im vierten Satz der Sinfonie – erklärte der Europarat 1972 zur Europahymne. 2001 nahm die UNESCO die Originalpartitur von Beethovens Werk ins Weltdokumentenerbe auf. Die Neunte hat die Musikwelt nachhaltig geprägt und wird bis heute immer wieder gecovert und gesamplet. Stanley Kubrick gab der Sinfonie in seinem Kultfilm „A Clockwork Orange“ eine zentrale Rolle. In Japan singen sie jedes Jahr Zehntausende auf Deutsch.

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Doch einer hat dieses Meisterwerk nie gehört: Ludwig van Beethoven selbst. Bei der Uraufführung am 7. Mai 1824 war der Komponist bereits komplett taub. Er schuf die Sinfonie vollständig in seinem Kopf, ohne überprüfen zu können, ob seine musikalischen Ideen so funktionieren, wie er sich das vorstellte.

Beethovens Plan: Schillers Ode an die Freude vertonen

Die Neunte Sinfonie hätte es so, wie wir sie kennen, nicht ohne Friedrich Schillers Gedicht „An die Freude“ gegeben. Die Idee, basierend auf Schillers Ode ein Musikwerk zu komponieren, trug Beethoven über Jahrzehnte mit sich herum. 1812 – sieben Jahre nach Schillers Tod – notierte der Komponist in seinem Skizzenbuch einige Notenzeilen und diese Satzfragmente:

„Freude schöner Götterfunken – Ouvertüre ausarbeiten […] abgerissene Sätze wie Fürsten sind Bettler u.s.w. – nicht das Ganze“

Doch erst 1824 vollendete er die Neunte Sinfonie, in der er seinen Plan realisierte. Zuvor hatte er einen Kompositionsauftrag von der Philharmonischen Gesellschaft in London bekommen: eigentlich für zwei Sinfonien, die innerhalb eines Jahres in London uraufgeführt werden sollten. Es kam dann anders: Beethoven komponierte nur noch eine vollständige Sinfonie, die zum ersten Mal in Wien zur Aufführung kam, nachdem er insgesamt neun Jahre lang an ihr gearbeitet hatte.
Beethoven war sogar doppelt spät dran: Schon 1800 war eine erste Sammlung von Vertonungen von Schillers Ode an die Freude erschienen. Das 1785 entstandene Gedicht war „wie eine Bombe“ eingeschlagen, seine Zeilen waren „wie ein toller Rap der damaligen Zeit“, sagt Dieter Hildebrandt, Autor des Buches „Die Neunte – Schiller, Beethoven und die Geschichte eines musikalischen Welterfolges“. „Beethoven war eigentlich einer der allerletzten oder überhaupt der Letzte, der sagte, da ist doch noch dieses alte Schiller-Lied, das mir seit meiner Jugend vorschwebt.“

Die Premiere war eine musikhistorische Zäsur

Doch nach jahrelangem Feilen an der Sinfonie war Beethoven so von Selbstzweifeln geplagt, dass er zur Uraufführung seines Werks regelrecht überredet werden musste. Als er die Neunte Sinfonie im Wiener Theater am Kärntnertor präsentierte, saßen neben seinen Freunden, Gönnern und Verehrern auch einfach nur neugierige Leute im Saal: Denn der menschenscheue Beethoven trat seit mehr als zehn Jahren nur noch ganz selten öffentlich auf.
Das Publikum wohnte an diesem Abend vor 200 Jahren einer musikhistorischen Zäsur bei: Sie hörten die allererste Sinfonie, eigentlich eine instrumentale Gattung, bei der neben dem Orchester auch ein Chor und Solosänger mitwirkten. Die Zuhörer reagierten auf Beethovens Coup zunächst irritiert, dann begeistert – und spendeten tosenden Applaus.

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Die Kritiker wiederum zeigten sich weniger euphorisch. „Es ist uns vorgekommen, als ob die Musik auf dem Kopf gehen sollte, und nicht auf den Füßen“, lautete eine Kritik. In einer anderen hieß es: „Die Behandlung des Schillerschen Textes zieht das hohe, schwungvolle Gedicht tief herab und misshandelt die Poesie auf eine unbegreifliche Weise.“
Doch auch wenn die Kritiker sie nicht so würdigten wie das Premierenpublikum, stand der Sinfonie nun eine Weltkarriere bevor.

Die Neunte verbindet Avantgarde mit Pop

Als eingängiges und melodisches, aber zugleich verstörendes Werk, hat Beethovens Neunte Musikgeschichte geschrieben. Letzteres war es zumindest für seine Zeitgenossen. Dabei passiert in den ersten drei Sätzen der Sinfonie nichts wahnsinnig Spektakuläres. Sie sind, abgesehen von der Satzreihenfolge, eher konventionell. Es ist der finale Satz, in dem Beethoven avantgardistisch wird.
Dieser vierte Satz beginnt mit einer Ballung dissonanter Klänge, mit einer für die damalige Zeit unvorstellbaren Kakophonie. Der Komponist und Beethoven-Verehrer Richard Wagner bezeichnete sie einmal als „Schreckensfanfare“. Was für heutige Ohren nicht extrem klingt, muss für das zeitgenössische Publikum ein Schock gewesen sein. Und dann setzt plötzlich der Chor ein und singt die „Ode an die Freude“: Beethoven verabreicht dem Publikum damit eine Art Trostpflaster nach dem verstörenden Satzbeginn.
Faksimile der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven
Faksimile der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven: Die Originalpartitur der Sinfonie wurde von der UNESCO in das Weltdokumentenerbe aufgenommen.© picture-alliance / dpa / Andreas Altwein
Die Melodie, die der Komponist für Schillers populären Text geschrieben hat, ist relativ banal – und wird genau deshalb so erfolgreich: Nachdem man sie einmal gehört hat, kann man sie sofort mitsingen, bekommt sie nicht mehr aus dem Ohr. Die Ode funktioniert wie gute Popmusik. Bis heute verbinden wir vor allem diese Passage mit Beethovens Sinfonie und nicht die 45 Minuten davor.

Siegeszug und Vereinnahmung der Neunten

Drei Jahre nach der Uraufführung der Neunten Sinfonie starb Beethoven. Doch durch diese Komposition wurde er endgültig unsterblich. Die Neunte etablierte sich als sinfonisches Werk, wurde viel aufgeführt. Chöre und Gesangsvereine nahmen die „Ode an die Freude“ in ihr Repertoire auf. Fast das ganze 19. Jahrhundert und auch das 20. Jahrhundert hindurch war die Neunte außerdem die Festmusik schlechthin – auch für totalitäre Herrscher, etwa zum Geburtstag von Adolf Hitler.
Zur deutschen Revolution 1848/49 hatte bereits das Bürgertum, das sich vom Adel emanzipieren wollte, einen politischen Sinn in der Neunten entdeckt: Ein Chor, der Schillers Zeilen „Alle Menschen werden Brüder“ sang, war ein Politikum. Während des Ersten Weltkriegs wiederum störten sich nationalistisch gesinnte Sänger des Leipziger Gewandhauschors so sehr an den völkerverbindenden Zeilen, dass sie das Werk nicht aufführen wollten. Nach dem Zweiten Weltkrieg diente die Sinfonie wiederum eine Weile als Olympia-Hymne für die gemeinsam antretenden Teams aus dem geteilten Deutschland. Und als Leonard Bernstein 1989 in Berlin, kurz nach dem Mauerfall, die Neunte Sinfonie dirigierte, änderte er Schillers Zeilen „Freude schöne Götterfunken“ in „Freiheit schöner Götterfunken“.
Die Musikwissenschaftlerin Christine Stahl findet es „absurd“, für welche Ideologien und Gedanken Beethoven alles einstehen musste: Es könne doch nicht sein, dass Beethoven mit allem einverstanden gewesen wäre, was wir ihm andichteten.

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Heute ist Beethovens Komposition ein mächtiges Symbol für Europa. Als sich der Europarat Anfang der 1970er Jahre fürs Vorspiel zur „Ode an die Freude“ als europäische Hymne entschied, wurde ganz bewusst auf Schillers Text verzichtet. Ein Grund sei die Skepsis gewesen, zur damaligen Zeit deutsche Verse zur Hymne für ganz Europa beziehungsweise damals ganz Westeuropa zu machen, sagt der Musikjournalist Rainer Pöllmann. Herbert von Karajan wurde daher beauftragt, eine rein instrumentale Fassung einzuspielen.
Die Kombination aus Beethovens Musik und Schillers Text hat derweil nichts von ihrer politischen Anziehungskraft verloren: 2022, am Tag, nachdem Russland die Ukraine angriff, protestierten Menschen in Berlin am Brandenburger Tor und sangen dabei die „Ode an die Freude“. Und mal wieder wurde dabei leicht umgedichtet: Aus „Freude“ wurde bei ihnen „Frieden“.

jfr
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