Margriet de Moor: "Von Vögeln und Menschen"
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Verlag Hanser, 268 Seiten, 23,00 Euro
(Erscheint am 19. Februar 2018)
Die Mörderin ist immer die Fußpflegerin
Eine Frau begeht einen Mord. Eine zweite gesteht ihn, ohne ihn begangen zu haben – und eine dritte ermordet aus Rache die wahre Mörderin. Diese finsteren Verstrickungen könnten den Stoff für ein düsteres Schicksalsmelodram abgeben. Nicht so bei Margriet de Moor.
Diese Autorin versteht es, diesen exzessiven Taten alle Monstrosität zu nehmen, indem sie sie psychologisch subtil vorbereitet und sie dann in den bürgerlichen Rahmen des ordentlichen niederländischen Alltags von heute einpasst, als gehörten sie als zwar bedauerliche Optionen eben zum normalen Leben dazu. In ihrer Darstellung wirken die Mordtaten eher wie spontane, missratene Affekthandlungen – Fehlreaktionen, wie sie halt passieren können. Margriet de Moor lässt die abgründige, verstörende, disruptive Aura, die Mordfälle sonst meist umgibt, gar nicht erst entstehen.
"Eine leichte Verzerrung, und die Dinge werden fremd"
Die Niederländerin Margriet de Moor hatte bereits zwei Karrieren hinter sich, als Musikerin, Sängerin und als Filmemacherin, ehe sie sich dem Schreiben zuwandte. Erst 1991, mit 50 Jahren, veröffentlichte sie ihren ersten Roman "Erst grau dann weiß dann blau".
Seither ist sie eine der produktivsten Autorinnen der Niederlande und eine internationale Erfolgsschriftstellerin, die bisher mehr als ein Dutzend Romane und Erzählungsbände veröffentlicht hat.
Als Impuls hinter ihren Erzählwerken steht oft die Grundidee, dass sich ganz in der Nähe des Lebens, in dem man zufällig gelandet ist, ein anderes befindet, das man genauso gut hätte führen können. Sie geht den nicht ergründbaren Rätseln und Geheimnissen im alltäglichen Leben nach und hat ein feines Gespür für unscheinbare, aber folgenreiche Verschiebungen: "Eine leichte Verzerrung, und die Dinge werden fremd."
Mord, Haft und Rückkehr zur Familie
Was dem Leser aus diesem Roman vor allem entgegenglänzt, sind die zutiefst menschenfreundlichen Gepflogenheiten und höflichen Umgangsformen der niederländischen Zivilgesellschaft von heute, die auch für den Strafvollzug in den Haftanstalten gelten, wo nicht das Wegsperren, sondern die Resozialisierung unter Erhalt der sozialen Kontakte der Häftlinge im Zentrum steht. De Moors Hauptheldin Marie Lina verlässt denn auch das Gefängnis nach mehreren Haftjahren unbeschädigt, um in ihr intaktes Familienleben zurückzukehren.
Umso schwerer wiegen die polizeilichen Fehler und Nachlässigkeiten bei der Aufklärung des Mordes an einem Rentner in einem Seniorenheim, die zur Verurteilung einer Unschuldigen führen. Diese Frau, eine Altenpflegerin, wird zu Unrecht beschuldigt, einen Bewohner des Seniorenheims erwürgt und beraubt zu haben. Was Margriet de Moor an dem Fall interessiert: Wie kriegt man einen Menschen so weit, einen Mord zu bekennen, den er nicht begangen hat? Und was geschieht, wenn sie dann ungerechter Weise auch noch verurteilt wird?
Gewalttätige Vergeltungsfantasien
Das lässt die Tochter der Frau nicht ruhen. Marie Lina, eine Krankenschwester, ist die eigentliche Protagonistin des Romans. Sie ist glücklich verheiratet mit einem Vogelvertreiber am Flughafen Schiphol, aber schon als junges Mädchen voll Wut über das Unrecht, das ihrer Mutter angetan wurde und ihre Familie zerstörte. Über all die Jahre hinweg nährt Marie Lina gewalttätige Vergeltungsfantasien: Sie will das zerstörte Leben ihrer Mutter an der wahren Mörderin, einer Fußpflegerin, rächen – und tut es schließlich.
Erzählt wird das Ganze aus wechselnden Perspektiven und mit wechselnden Stilmitteln, mal in Briefform, mal als Ich-Erzählung, mal aus der Außensicht. Margriet de Moor ist ganz auf der Höhe ihrer raffinierten Erzählkunst. Und es ist Marie Linas Ehemann, der den Grundton des ganzen Romans anschlägt:
"Das einzige Leben, das zählt, ist das normale Leben. Je normaler, umso wunderbarer, je alltäglicher, umso prachtvoller."