Marlon James: "Eine kurze Geschichte von sieben Morden"
Aus dem Englischen von Guntrud Argo, Robert Brack, Michael Kellner, Stephan Kleiner und Kristian Lutze
Heyne Verlag, München 2017
858 Seiten, 27,99 Euro
Der Tag, an dem Bob Marley fast erschossen wurde
Dreh- und Angelpunkt dieses 850 Seiten starken Romans ist ein missglückter Mord, nämlich der an Reggae-Star Bob Marley. Um diesen Tag herum erzählt Marlon James gekonnt die Gemengelage im Jamaika der 1970er-Jahre - vielstimmig, komisch, ultrabrutal.
Wie kurz lässt sich eigentlich eine Geschichte von gleich sieben Morden erzählen? Diese Frage stellt sich bei diesem Romantitel schnell, und dass diese Kürze eine reine Behauptung ist, zeigen allein die 850 Seiten, die der 1970 in Jamaikas Hauptstadt geborene Schriftsteller Marlon James für seine "kurze Geschichte von sieben Morden" gebraucht hat. Oder die vier Seiten zu Beginn, auf denen die handelnden Personen vorgestellt werden: Es sind knapp über 70 an der Zahl.
Bei fortdauernder Lektüre wiederum fragt man sich, was dieser Titel überhaupt soll, warum er gewählt wurde: Gemordet wird hier ein Vielfaches mehr als sieben Mal, und Dreh- und Angelpunkt des Romans ist kein Mord, sondern ein missglückter Mordversuch, der nie aufgeklärt wurde. Nämlich jener, der am 3. Dezember 1976 auf den Reggae-Sänger Bob Marley verübt wurde.
Sieben unbekannte Männer in Marleys Haus
An diesem Tag dringen sieben unbekannte Männer in dessen eigentlich schwerbewachtes Haus in der Hope Road ein, gelegen in einem Nobelviertel von Kingston. Sie verletzen seine Frau Rita und seinen Manager schwer, Marley selbst wird durch Schüsse in Brust und Arme nur leicht verletzt.
Marley ist zwar in James' Roman im Personenglossar aufgeführt als "der Sänger", und als solcher wird er auch von allen "handelnden Personen" nur bezeichnet, nie mit seinem Namen.
Doch Hauptfiguren sind andere: die Chefs von kriminellen Vereinigungen und Gangs, die sogenannten Dons, die die Stadtviertel von Kingston unter sich aufgeteilt haben, CIA-Agenten, eine Frau namens Nina Burgess, die mit Marley eine Affäre hatte, und schließlich mit Alex Pierce auch ein Reporter vom "Rolling Stone", den der reine Zufall ausgerechnet an dem Tag in Marleys Haus führt, als dieser ermordet werden soll – so jedenfalls will es die Fiktion von Marlon James.
Steter Wechsel der Perspektive
Sie alle erzählen im steten Wechsel aus ihrer jeweiligen Perspektive, was am Tag des Mordversuch, einen Tag zuvor und schließlich viele Jahre danach passiert. Und vor allem: Wie es überhaupt auf Jamaika in den Siebziger-Jahren zugeht. Zu dieser Zeit bekämpfen sich die regierende PNP und die rechtsgerichtete JLP, die Jamaican Labor Party, nicht zuletzt mit Hilfe der Gang-Syndikate aufs Schärfste.
Es herrschen 1976 bürgerkriegsähnliche Verhältnisse, der Ausnahmezustand ist ausgerufen. 1978 wiederum kommt es zu einem legendären Friedenskonzert ("One Love Peace"), auf dem Bob Marley abermals dabei ist und die Führer beider Parteien zu einem Händeschütteln veranlasst.
Mag Marley eine Art Friedensengel gewesen sein: Sein Krebstod 1981 ist ein Fanal. Denn jene, die nicht am Frieden in Jamaika interessiert sind, die Gangster, sie führen ihr Business fort, unter welchen Umständen auch immer. "Etwas Neues liegt in der Luft. Eine Evolution im Rückwärtsgang", so sagt es hier eine Figur aus dem Reich der Toten, ein Duppy, um im Slang zu bleiben, der ermordete jamaikanische Politiker Sir Arthur Jennings, ebenfalls eine fiktive Figur.
Vielstimmig, oft komisch, oft ultrabrutal
So verlegt Marlon James schließlich den Schauplatz seines wilden, vielstimmigen, oft komischen, oft ultrabrutalen Romans in den Jahren 1985 und 1991 nach New York, wo Jamaikaner groß ins Drogengeschäft einsteigen und vor allem den Crack-Handel in New York City kontrollieren - und stets von der Vergangenheit eingeholt werden.
So wie Alex Pierce zum Beispiel, der "Rolling-Stone"-Journalist, den Jamaika nicht loslässt und der von den Drogenkartellen gejagt und gestellt wird. Zum einen, weil er damals einen der Mörder erkannt hat. Zum anderen, weil er auch sonst zu viel weiß und das in einem Buch über die Ereignisse auf Jamaika und in New York City erzählt, einem Buch, das den Titel trägt: "Eine kurze Geschichte von sieben Morden".
So viel Metafiktion muss erlaubt sein beim Schreiben eines Romans, der gleichermaßen Faulkner- wie Tarantinohafte Züge enthält, der nicht zuletzt durchaus einige Lektüreanstrengung und ein Interesse für die komplizierte kulturelle und politische Gemengelage auf Jamaika abverlangt. Der aber in die Tiefe wie in die Breite geht und 2015 verdientermaßen mit dem Man Booker Preis ausgezeichnet wurde.