Gewaltlosigkeit als Waffe
Der baptistische Pfarrer Martin Luther King jr. hat die Bürgerrechtsbewegung in den USA entscheidend geprägt. Sein Beharren auf gewaltlosem Widerstand war auch von Thoreau und Mahatma Gandhi inspiriert, erklärt die Historikerin Britta Waldschmidt-Nelson.
Anne Françoise Weber: Der wichtigste Anführer der Bürgerrechtsbewegung in den USA, Martin Luther King jr. war von den Schriften Henry Thoreaus beeinflusst. Wie dieser Einfluss genau aussah und warum King sich anders als sein Vorbild Thoreau an die Spitze einer ganzen Bewegung setzte, darüber spreche ich mit Britta Waldschmidt-Nelson. Sie ist Professorin für die Geschichte des europäisch-transatlantischen Kulturraums an der Universität Augsburg und war zuvor stellvertretende Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Washington, D.C. Sie hat unter anderem zu Martin Luther King und seinem Gegenspieler Malcolm X geforscht und publiziert. Frau Waldschmidt-Nelson, lässt sich denn aus Martin Luther Kings eigenen Schriften erfahren, wie wichtig Henry David Thoreaus Denken für ihn war?
Widerstand mit friedlichen Mitteln
Britta Waldschmidt-Nelson: Er hat eigentlich in seinen Schriften jetzt nicht sehr ausführlich über den Einfluss Thoreaus gesprochen, außer dass er eben schon während seines Studiums Thoreaus berühmten Aufsatz über "Civil Disobedience" gelesen hat – das heißt, der hieß ja ursprünglich "Resistance to Civil Government", das war dieser Aufsatz, den Thoreau 1849 publiziert hatte, nachdem er ins Gefängnis gegangen war 1846 aufgrund der Weigerung, Steuern zu zahlen für den Krieg gegen Mexiko, den er als einen Krieg ansah, der die Sklaverei weiter unterstützen und verbreiten würde.
Und diesen Aufsatz, der hat Martin Luther King sowie unzählige andere Amerikaner und Menschen in der ganzen Welt, unter anderem ja auch Mahatma Gandhi inspiriert, weil er darin aufrief, mit friedlichen Mitteln der staatlichen Gewalt sich zu widersetzen, wenn diese staatliche Gewalt Ziele verfolgt, die man moralisch einfach nicht mittragen und mitverantworten kann. Martin Luther King hat also diese Aussage, dass eben ein ungerechtes Gesetz kein Gesetz ist, dem man folgen darf, die Thoreau sozusagen als Erster in der amerikanischen Geschichte wirklich ausformuliert hat, immer wieder aufgegriffen. Und es gibt ja diese ganz berühmte Aussage von ihm, die auch in ganz vielen Predigten vorkommt, wo er immer wieder sagt: "An unjust law is no law at all."
Weber: Also, ein ungerechtes Gesetz ist einfach überhaupt kein Gesetz, nach dem man sich richten müsste.
Waldschmidt-Nelson: Genau.
Weber: Nun ist ja ein Unterschied, dass es für Martin Luther King als Prediger, als Pfarrer natürlich ein göttliches Gesetz gab, während bei Thoreau also da keine wirklichen Anklänge eines Christentums zu spüren sind. Er hat sich sogar gewehrt gegen eine automatische Mitgliedschaft in der Kirche. Also, da war doch ein großer Unterschied.
Widerstand gegen autoritäre Zwangsgesellschaften
Waldschmidt-Nelson: Richtig. Das lag aber natürlich auch daran, dass Thoreau ähnlich wie sein guter Freund und Förderer Emerson halt der transzendentalistischen Bewegung nahestand. Und diese Bewegung war jetzt nicht grundsätzlich eine atheistische Bewegung, aber eine Bewegung, in der eher das spirituelle Erleben des Göttlichen, auch gerade bei Thoreau das spirituelle Erleben des Göttlichen in der Natur betont wurde und die sich eigentlich lossagte von kirchlichen Strukturen, insbesondere wenn diese Strukturen dann oppressive Züge annahmen.
Thoreau war immer jemand, der sich autoritären Zwangsgesellschaften oder Ordnungen sehr widersetzt hat. Also, als junger Mensch war er erst mal Lehrer in einer Lehranstalt und er hat sich dann mit dem Direktor total überworfen, weil er eben nicht bereit war, die damals ja allgegenwärtige Prügelstrafe anzuwenden gegen Schüler, das war ihm einfach zuwider. Also, zum einen Gewalt auszuüben und zum anderen hat er das eh als ein oppressives totales System empfunden. Und jedes System, was andere Menschen eben unterdrückte, ausbeutete oder versklavte, war Thoreau sehr zuwider, darum hat er sich so verhalten.
Die Black Baptist Church identifizierte die unterdrückten Schwarzen mit dem Volk Israel
Die Kirche und der Rassismus
Weber: Für Martin Luther King stand nie infrage, dass die Kirche als Institution sich eben auch tatsächlich an die Spitze der Unterdrückten stellen kann? Also, er hatte keine Zweifel an dieser Berufung, zumindest seiner baptistischen Kirche?
Waldschmidt-Nelson: Ja, es war so, dass, sage ich mal, die schwarze Baptist Church in den Vereinigten Staaten sehr früh schon, also schon zu Gründerzeiten sich der Sklaverei entgegengesetzt hat, weil in der Black Church immer wieder die Identifizierung stattfand zwischen den versklavten oder hinterher auch einfach den unterdrückten Schwarzen mit dem verfolgten Volk Israel. Also, es wurde immer gesagt: Wir sind das verfolgte Volk, Gott ist auf unserer Seite, die Verfolgung, die Sklaverei und eben auch Rassismus sind nicht im Sinne Gottes.
Insofern hat also die Kirche, der Martin Luther King angehörte, sich von Anfang an eben dagegen gewandt, dass man im Namen der Bibel, im Namen des Christentums Rassismus, Sklaverei oder eben auch solche Regierungen rechtfertigen kann. Und sie stand damit eben im Gegensatz zu vielen anderen Kirchen, also auch durchaus der weißen Baptist Church, die im Süden der Vereinigten Staaten ja bis in die 1960er-Jahre fest davon überzeugt war, dass eben Rassentrennung im Sinne Gottes sei.
Weber: Und auch sein Namensgeber Martin Luther war ja durchaus der Meinung, dass Christen sich auch unter die Obrigkeit stellen sollten. Aber das war eben dann in der Baptist Church nicht unbedingt die Referenz.
Waldschmidt-Nelson: Richtig. Und außerdem war Martin Luther ja – darf man ja nicht vergessen – jemand, der durchaus in rassischen Kategorien dachte und darum ja die Juden nicht nur als Religionsgruppe, sondern eben auch als Volksgemeinschaft oft relativ schlecht behandelt hat verbal, mal nur gelinde gesagt.
Thoreau - ein Vorbild?
Weber: Gelinde gesagt, genau. Wenn wir noch mal auf Thoreau schauen: Der hat diese eine Nacht im Gefängnis verbracht, weil er sich eben geweigert hat, seine Steuern zu zahlen, das haben Sie vorher erwähnt. Er kam dann raus, weil jemand anders für ihn gezahlt hat. Martin Luther King kam ja unzählige Male ins Gefängnis und eine Zeit lang hatte seine Bewegung auch den Slogan "jail, no bail" – also lieber ins Gefängnis gehen, als sich da irgendwie auf Kaution freikaufen zu lassen. War das auch von Thoreau inspiriert, weil man gemerkt hat, was für eine Wucht das hat, als unschuldiger Mensch im Gefängnis einzusitzen?
Waldschmidt-Nelson: Ja, ich würde da doch noch mal unterscheiden. Also, bei Thoreau war es so, der war gerade mal einen Tag im Gefängnis. Und ich glaube, das lag aber auch an Thoreaus Persönlichkeit. Thoreau war glaube ich ein relativ schwieriger Mensch, der eigentlich lieber so mit einfachen Leuten oder in der Natur zusammen war und der sich ganz bestimmt persönlichkeitstechnisch nicht geeignet hätte als Anführer einer großen Bewegung. Er war auch überhaupt nicht zu vergleichen jetzt von seinen rhetorischen Fähigkeiten her mit Martin Luther King.
Martin Luther King war in dieser Beziehung auch sehr stark - und ich würde vielleicht sagen: sogar mehr als von Thoreau - durch Gandhi inspiriert, der gezeigt hatte: Man kann nicht nur dieses Prinzip des gewaltlosen Widerstands predigen oder einmal selber anwenden, sondern muss das organisieren auf einer breiten Ebene und eine große Menge der Bevölkerung hinter sich bringen, um sozusagen die Ungerechtigkeit der beanstandeten Gesetze der breiten Gesellschaft, sogar vielleicht der Weltgesellschaft klarzumachen und zu verdeutlichen. Und dann wird der moralische Druck, also auf die Machthaber, auf die Regierung so groß, dass sie eben diese ungerechten Gesetze ändern müssen.
Und da gehörte eben auch eine Strategie dazu und das geht eben darüber hinaus, was also Civil Disobedience im Sinne von Thoreau war, praktisch: Ich tu jetzt etwas nicht. Bei Martin Luther King ging das weiter, das war eben Mass Civil Disobedience und eben Active Protest. Also, das ging ja auch wirklich bis dahin, dass man eben nicht nur gesagt hat, wir zahlen jetzt keine Steuern oder wir machen hier einen Boykott oder eine Demonstration, sondern es wurden zum Teil ja gerade in Birmingham zum Beispiel 1963 Kampagnen so geplant, dass klar war, dass es zu einem Zusammenstoß mit der ja sehr im Süden gewalttätigen weißen Polizei kommen würde.
Und Martin Luther King war sich ausgesprochen der Rolle der Medien bewusst. Er wusste, dass diese Bilder von gewaltlosen, unbewaffneten, zum Teil ja auch noch jugendlichen Demonstranten-Schwarzen, die brutal zusammengeschlagen wurden, von Polizeischäferhunden gebissen wurden oder von Wasserwerfern wirklich über den Asphalt geschleudert wurden, dass diese Bilder nicht nur im ganzen Amerika, sondern in der ganzen Welt dann tiefsten Protest und tiefstes Unverständnis für diese Misshandlung der Schwarzen hervorrufen würden.
Der Rassismus ist eine Sünde Amerikas
Weber: Das klingt mehr nach politischem Kalkül als nach christlicher Liebe-deine-Feinde-Einstellung.
Waldschmidt-Nelson: Ja, ich würde sagen, das kann man nicht ganz trennen. Also, sicherlich politisches Kalkül und Berechnung, aber zugleich war Martin Luther King schon davon überzeugt: Sein Gott war ein Gott der Liebe, der alle Menschen gleich liebte. Er hat das also auch wirklich immer wieder gepredigt und gesagt: "We are all brothers and sisters in Christ." Und er sagte: "I love the white segregationist, but it doesn’t mean I have to like what he does."
Martin Luther King hat es wirklich so verstanden, und viele andere der Schwarzen ja auch, dass eben dieser Rassismus praktisch eine Sünde Amerikas war, von der man Amerika befreien musste. Und da musste man die weißen Rassisten halt irgendwie im Zweifelsfall auch mit Provokation von Gewalt dazu bringen, diesen ungerechten Pfad zu verlassen, weil das letztendlich ja auch für sie gut sein würde.
Weber: Diese Einstellung wurde aber Martin Luther King von seinen Gegenspielern durchaus auch zum Vorwurf gemacht, dass er eben doch zu konziliant oder zu freundlich gegenüber den Weißen eingestellt war und nicht grundsätzlich da einen Interessensunterschied festgestellt hat?
Die Skepsis der Liberalen
Waldschmidt-Nelson: Ja, sicher. King hatte schon oft diese unglückliche Situation oder die sehr schwierige Situation, in der Mitte quasi dieser gewaltlosen, aber aktiven, provokativen Bewegung zu stehen. Weil, er hatte seine Kritiker auf der rechten Seite des Spektrums, in den konservativeren Bürgerrechtsbewegungen wie zum Beispiel der NAACP, die dann immer gesagt hat: Um Gottes Willen, doch nicht so viel Provokation, und wir müssen das in Ruhe und langsam machen, sonst vergrätzen wir unsere weißen liberalen Verbündeten.
Auch die Kennedy-Regierung stand King sehr, sehr skeptisch gegenüber und die Johnson-Regierung später. Am Ende seines Lebens war ja auch King selbst bei Präsident Johnson eine Persona non grata. Auf der anderen Seite waren natürlich auch die Kritiker von links, Leute wie Malcolm X eben, sein großer Gegenspieler, die gesagt haben: Wie kann man sagen, halt die andere Wange hin, wie feige kann man denn sein? Also, ein echter Mann schickt doch nicht Kinder auf die Straße, um zu demonstrieren, ein echter Mann ergreift selber die Waffe und verteidigt sich!
Also, insofern stand King immer in der Mitte und das war auch so, er war derjenige, der sehr viel Verständnis hatte eben für die jungen Radikalen. Als zum Beispiel eben dann 1966 das Black Power Movement aufkam, da haben fast alle konservativeren Bürgerrechtsbewegungen eine große Anzeige in der "New York Times" unterschrieben, in der diese Black-Power-Bewegung verurteilt wurde. King hat sich geweigert, das zu unterschreiben, und hat immer gesagt: Nein, man muss Verständnis haben!
Black Power hat ja durchaus auch eine positive, konstruktive Note. Und er hat lange Zeit versucht, eben diese beiden auseinanderdriftenden Flügel der Bürgerrechtsbewegung, also den gemäßigteren, konservativen Let’s-go-slow-Flügel und eben die jungen Radikalen, die sagten, es reicht jetzt, "we want freedom now", die noch zusammenzuhalten. Und darum war es auch wirklich ein tragischer Moment, als King ermordet wurde, denn dieses Jahr 1968 kennzeichnet dann auch wirklich das Auseinanderbrechen der Bürgerrechtsbewegung.
Protest gegen einen grausamen Krieg
Weber: Unbeliebt hat er sich ja auch gemacht in seinem Eintreten gegen den Vietnam-Krieg. War da irgendwie eine Referenz zu Thoreau und dessen Eintreten gegen den Krieg gegen Mexiko?
Waldschmidt-Nelson: Ja, absolut. Es ging eben darum: Kann man einen Krieg, also Krieg ohnehin als Pazifist – und King war im Grunde seines Herzens natürlich genauso ein überzeugter Pazifist wie eben auch Thoreau – kann man einen Krieg eigentlich grundsätzlich nicht gutheißen. Aber insbesondere, wenn man dann diesen Krieg als etwas zutiefst Unfaires empfindet.
King hat zum Beispiel nicht groß Kritik geübt gegen den Zweiten Weltkrieg, da war er auch noch ziemlich klein, aber dieser Krieg gegen Vietnam, das war ein Krieg, in dem ja praktisch die zwei Weltmächte auf dem Rücken eines kleinen Volkes, was versucht, irgendwie seine Unabhängigkeit zu erreichen, derartig furchtbar misshandelt wurde, also durch Massenbombardements und durch Agent Orange, also diese ganzen Giftbomben, die geworfen wurden, diese totalen, menschenverachtenden Attacken auf die Zivilbevölkerung in Vietnam.
Und King hat dann entschieden und das ist auch etwas, vor dem, finde ich, man wirklich den Hut ziehen muss, er hat gesagt: Ich kann nicht länger schweigen! Er hat ja dann eben auch 1967 diese berühmte Rede in der Riverside Church in New York gehalten, "time to break silence". Also, es ist Zeit, mein Schweigen zu brechen. Und er tat das, obwohl fast alle seine Berater ihm dringendst davon abgeraten hatten, gegen den Vietnam-Krieg zu sprechen, denn es war klar, dass dann eben die Johnson-Administration und auch viele andere liberale Weiße, die bis dahin King unterstützt hatten, jetzt natürlich in das Lager der Kritiker fielen und sagten: Also, mein Gott, der ist ja hier kein Patriot und wie kann man nur jetzt unserem Land so verbal in den Rücken fallen, das geht gar nicht!
Weber: Vielen Dank, Britta Waldschmidt-Nelson, Professorin für die Geschichte des europäisch-transatlantischen Kulturraums an der Universität Augsburg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.