Im Internet und auf eigene Faust sendet sie weiter
Wer Machenschaften der Mächtigen aufdeckt, gerät in Mexiko schnell in Lebensgefahr. Mehr als hundert Reporter und Reporterinnen sind in den vergangenen Jahren getötet worden. Hörfunkmoderatorin Carmen Aristegui wurde "nur" vom Sender genommen. Doch um sie mundtot zu machen, ist sie einfach zu bekannt.
Wenn Carmen Aristegui morgens um 8 Uhr auf Sendung geht, dann hören ihr Millionen Mexikanerinnen und Mexikaner im In- und Ausland zu. Allerdings – über Monate hinweg herrschte Funkstille, denn ihre Sendung wurde eingestellt – man könnte auch sagen: verboten. Ihr Vergehen: Sie hatte zusammen mit ihrem investigativen Team einen spektakulären Korruptionsskandal aufgedeckt. Der Präsident Enrique Pena Nieto und seine Gattin höchst persönlich waren die Protagonisten. Es ging um das dubiose Geschäftsgebaren beim Bau ihrer eigenen Villa.
Dass der Präsident auch höchst persönlich gegen die beliebte Journalistin interveniert hat, gibt er nicht zu. Liegt aber auf der Hand, meint Carmen Aristegui:
"Es ist ja völlig unlogisch, dass ein privates Medienunternehmen das Programm abschafft, das die meisten Zuhörer hat, also auch das meiste Geld bringt. Man müsste ja schön blöd sein, so etwas zu tun - es sei denn es mischt sich da noch jemand von oben ein."
Ein klarer Fall von Zensur, aber nicht nur das. Aristegui wurde mit Strafanzeigen wegen Verleumdung überzogen, obwohl alle Recherchen bis heute wasserdicht sind und der Präsident sich öffentlich wegen der Korruptionsaffäre entschuldigen musste. Aber das Ziel bleibt: Aristegui soll mürbe gemacht und finanziell ruiniert werden.
Das erste von fünf Urteilen ist kürzlich gefallen:
"Der Richter hat das Urteil begründet mit folgenden Worten – das zitiere ich jetzt aus dem Text – sie ist schuldig, weil sie 'exzessiven Gebrauch von der Redefreiheit' gemacht hat - ich weiß gar nicht: Soll das ein Urteil sein oder ein Lob?"
Kritische Journalisten werden in Mexiko kaltblütig ermordet
Dabei hat Carmen Aristegui Glück – sie ist zu bekannt, um sie einfach aus dem Weg zu räumen. Weniger populäre, kritische Journalisten werden in Mexiko kaltblütig ermordet oder kommen – offiziell – bei einem Autounfall ums Leben.
Nachdem Aristeguis Radiosendung abgeschafft wurde, macht sie sich 2016 mit ihrem investigativen Team selbstständig. Kaum eingezogen, werden die neuen Redaktionsräume filmreif verwüstet: Der Pförtner wird betäubt und gefangen genommen, Türen und Fenster gewaltsam zerstört. Die Täter hinterlassen jede Menge Fingerabdrücke. Neun Überwachungskameras filmen die Gesichter der Eindringlinge detailgenau.
"Das ist natürlich ein klarer Einschüchterungsversuch seitens der Regierung, es besteht kein Zweifel. Wir haben das gemacht, was jeder Bürger in so einem Fall tun sollte, wir haben Anzeige erstattet. Aber es passiert überhaupt nichts."
Die Polizei sieht sich außer Stande, die Täter zu ermitteln. So wie immer – 99 Prozent der Straftaten in Mexiko bleiben ungesühnt. Das gilt auch für die mehr als 100 Morde an Journalisten in den letzten Jahren.
Die Gäste fühlen sich bei Carmen Aristeguí wie auf dem Wohnzimmersofa
Carmen Aristeguí, 53 Jahre alt, zählt heute zu den einflussreichsten Frauen in Mexiko. Sie war immer ein kritischer Geist: Als Tochter spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge wuchs sie mit sechs Geschwistern in Mexiko-Stadt auf. Neugierde, Mut und Beharrlichkeit führten sie zum Journalismus. Mit außergewöhnlichem Redetalent lädt sie die Hörer ihrer Sendung ein, sich wie Gäste auf dem Wohnzimmersofa zu fühlen.
Carmen Aristegui ist inzwischen wieder auf Sendung – jeden Morgen live. Die meisten kennen sie als Radiojournalistin und hören zu. Aber nun gibt es Aristegui auch im Bild: energisch, hellwach, voller Power und immer freundlich und zugewandt. Ein Banner läuft in Dauerschleife am unteren Rand im Bildschirm: "Habt ihr wirklich geglaubt, ihr könnt uns zum Schweigen bringen?"
Das digitale Nachrichtenprogramm, das sie täglich mit ihrem Team produziert, macht sie unabhängig – das World Wide Web zensiert nicht. Aber es diffamiert und beleidigt. Carmen Aristegui muss damit leben.
"In Mexiko gibt es eine wahre Industrie dieser Bots, dieser Cyber-Roboter. Wer also das Geld und die Möglichkeiten hat, kann diese Maschinerie anwerfen und kann eine Journalistin oder einen Menschenrechtsaktivisten fertig machen. Das ist ein sehr machtvolles Instrument, weil hier eingeschüchtert und diffamiert wird und auf diesem Weg jede Menge Anfeindungen verbreitet werden, die von nicht existenten, falschen Absendern kommen."
Dennoch. Carmen Aristegui ist mehr als zufrieden mit ihrem neuen Programm.
Es gibt nur noch einen, der ihr die Arbeit streitig machen kann. Der Hörer – denn das Programm finanziert sich über Klicks:
"Wir können unsere Arbeit machen, weil wir einen sehr guten Traffic haben, sehr, sehr viele Hörer. Wir finanzieren uns über die Klickzahlen, und das läuft gut, wir haben sogar unsere Redaktion erweitert und konnten neue Ausrüstung kaufen für unsere Live-Sendung. Und ich vertraue einfach darauf, dass das Publikum und unsere Hörerschaft uns treu bleiben."