Michela Marzano: Alles, was ich über die Liebe weiß. Philosophie eines Gefühls
C. Bertelsmann, München 2018
224 Seiten, 14 Euro
Die mühsamen Lernprozesse in der Liebe
In ihrer "Philosophie eines Gefühls" hat Michela Marzano viele schonungslose Fragen an ein schöpferisch multiples Ich gestellt. Die Italienierin präsentiert ein Ideengewimmel im Selbstgespräch und findet darin zu überraschenden Einsichten über die Liebe.
Die "Philosophie eines Gefühls" verspricht die in Paris lehrende Philosophin Michela Marzano, die bis vor kurzem auch italienische Parlamentsabgeordnete war. Was zu einem bestimmten Grad falsche Erwartungen weckt, denn tatsächlich ist der preisgekrönte Text "Alles, was ich über die Liebe weiß" weniger eine systematische philosophische Arbeit als ein tagebuchartiges Potpourri von Selbstgesprächen, Spekulationen und Szenen ihrer eigenen Ehe.
Über die Liebe sei schon alles gesagt, nur hatte es bislang keinerlei Folgen, sinnierte Adorno einst: Regale voller Ratgeber, therapeutische Handbücher, soziologische und psychologische Traktate, und fast jeder bekannte Philosoph hatte eine Meinung – oder mehrere – zum Thema. Da ist der private Erfahrungsbericht einer Philosophin mit Durchblick willkommen, zum Beispiel ihre mühsamen Lernprozesse nach inneren Widerständen, wenn ihr Erleben all die anerzogenen Glaubensinhalte über Mann-Frau-Beziehungen auszuhebeln scheint – und ganz neue Fragen aufwirft.
"Die Liebe sieht nur das Wesentliche"
Wie kann ihr Mann denn ihr gespaltenes Ich, mit all der Willkür ihrer Stimmungsschwankungen so lachend und gelassen akzeptieren – liebt er sie wirklich? Wen von den vielen Ichs? Oder ist es bloß Resignation, Ruhebedürfnis, womöglich nur nachsichtige Nächstenliebe – meint seine Liebe also gar nicht sie persönlich?
"Die Liebe sieht nur das Wesentliche", ruft sie sich zu – und bleibt, als Philosophin, die Erklärung schuldig, was das denn sei, das wahre, wesentliche Selbst, dem unabhängig von konkreten Handlungen die wahre unerschütterliche Liebe gelte; im Grunde sogar unabhängig von allen Eigenschaften der Person. Lieben wir nur die Liebe selber, jenes Gefühl der unerschütterlichen Geborgenheit, das sogar andere Liebschaften vertragen würde? Denn diese Art Verlässlichkeit gestattet auch die Freiheit, die im goldenen Käfig risikobehaftet wäre. "So ist die Liebe Liebenden ein Halt", hätte Brecht gesagt.
Angst vor Selbstverlust in der totalen Hingabe
Und doch bleibt eine Angst vor Selbstverlust in der totalen Hingabe an solche ideale Partnerschaft. "Hinter der Liebe versteckt sich ein unbekanntes Land. In dem ein reges Kommen und Gehen herrscht – die Gesichter Abwesender, Bruchstücke der Vergangenheit, Splitter der Gegenwart ... die Angst, der Spiegel könnte zerbrechen und wir selbst in tausend Scherben zerspringen; die Angst, ein anderer zu sein als man selbst. … Aber wenn "Ich ist ein anderer" gilt, wer bin ich dann wirklich?"
Dass Identität eine kulturspezifische Obsession ist, müsste der Philosophin vertraut sein. Dass sie ihr Gegenüber als Geburtshelfer ihres Selbst begreift, könnte ein genialer Schachzug sein, ein strukturierendes Leitmotiv für diesen Text, wenn sie nicht unaufhörlich dem Wahren, Wesentlichen, Eigentlichen hinter all den flüchtigen und oft auch unerklärlichen Erscheinungsformen und Äußerungen der Liebe nachjagen würde, den Fels in der Brandung suchen müsste im unverlierbaren Ich ebenso wie in der (fast im Wortsinn) absoluten Liebe. Doch ihre Zweifel bleiben hartnäckig: "Wer liebt wen?"
Marzanos eigene Frage ans schöpferisch multiple Ich hätte ein Leitfaden werden können, das – zwischen überraschenden Einsichten und Gemeinplätzen oszillierende – Ideengewimmel zu einer "Philosophie der Liebe" zu straffen.