Die Rückkehr der Klappentexte
Musik kommt heutzutage aus perfekt zusammengestellten, gestreamten Playlists und rauscht an uns vorbei. Musik als Tapete. Die App TunesMap will das ändern und versucht etwas zu retten, das immer mehr in Vergessenheit gerät: Liner Notes. Auf deutsch: Klappentexte.
So beginnt Johnny Cashs legendäres Live-Album "At Folsom Prison". 1968. Cashs Performance vor Häftlingen in Kalifornien – grandios. Erklärbar erst durch die besonderen Umstände. Im Begleittext zur Platte schreibt Cash über seine eigene Gefängniserfahrung.
Hinter Gitterstäben
"Hinter den Gitterstäben bist du von der Gesellschaft ausgeschlossen. Du bist das Objekt eines groß angelegten Programms aus Isolation, Bestrafung, Maßregelung und so weiter. Du sollst dich für deine Fehler bemitleiden, um irgendwann erleuchtet wieder zurück in die Welt zu kommen. Kann das funktionieren? Natürlich nicht!"
Für die Liner Notes zu "At Folsom Prison" hat Cash einen Grammy gewonnen. Den Grammy für den besten Begleittext? Ja, den gibt es bis heute. Liner Notes sind ein elementarer Teil von Popmusik, meint Ole Petras, Pop- und Literaturwissenschaftler an der Uni Kiel:
"Die Liner Notes sind daran beteiligt, wie wir die Musik auffassen, wie wir die Musik einordnen, was wir damit verbinden. Und diese Informationen versuchen eben unser Hörerleben in gewisser Weise zu steuern."
Intensiver eintauchen
Cashs persönlicher Text ermöglicht, intensiver einzutauchen in den Kontext seiner Platte. Alben, die über Streamingdienste oder YouTube gehört werden, liefern diese zusätzlichen Informationen nicht mehr automatisch. Etwas geht verloren.
"Ja, das ist so eine Ansicht, die kursiert, ich bin mir gar nicht sicher, ob das der Fall ist. Im Gegenteil würde ich sagen, dass die Digitalität eben viele Informationskanäle auch eröffnet, wo man sich sehr niedrigschwellig eigentlich über den betreffenden Song, das betreffende Album, den Künstler informieren kann."
Begleittext auf Facebook
Zum Beispiel Björk. Ist ihr Facebook-Live-Video zum neuen Album "Utopia" nicht auch eine Art Begleittext?
"I think, it’s going to be called ‘Utopia’. It’s a proposal how we can live in the future with nature and technology in the most optimistic way possible."
Ein Vorschlag, wie wir in Zukunft mit Natur und Technik bestmöglich zusammenleben können, sei ihr Album, sagt Björk. Generell könnten digitale Veröffentlichungen viel mehr Kontext liefern als ein einfacher Text wie bei Johnny Cash. Und manchmal tun sie das auch.
Wer etwa "Time", das neue Album der japanischen Elektronik-Musikerin Sapphire Slows, kauft, bekommt nicht nur die Lyrics dazu, sondern auch Fotos, Gif-Dateien und Videos. Aus ihrem Studio ... oder von tanzenden Menschen auf einem Fest.
Liner Notes ändern ihre Form
Liner Notes scheinen also nicht zu verschwinden, sondern sie ändern eher ihre Form.
Trotzdem meint TunesMap, ein Start-up aus Kalifornien, die Liner Notes müssen gerettet werden! Die App, die im November in den USA startet, zeigt Videos, Fotos und Texte zu Musik, die man gerade hört. Ole Petras findet die Idee gut. Dass einem alles einfach so vorgesetzt wird, aber auch ein bisschen langweilig.
"Ist nicht das Sammeln, die Recherche, das Klicken, ist das nicht Teil des Spiels? Also, macht es nicht Spaß, sich das selber zusammen zu suchen und steigt nicht auch die Identifikation mit einer Band, wenn man selber über Informationen verfügt, die man eben nicht auf dem Silbertablett präsentiert bekommt?"
TunesMap sammelt Daten
Und TunesMap sammelt Daten. Man müsse sich fragen ...
"... ob da nicht einfach eine weitere Werbeplattform eröffnet wird, man sieht das ja auch auf der Seite von TunesMap, dass unten eben die ganzen Firmen ihre Logos aufgelistet haben. Das widerspricht so ein bisschen dem Geist der Popmusik, würde ich sagen, die eben auch auf Diversität gründet."
Sowieso fällt es schwer, algorithmisch erzeugte Pseudo-Liner Notes als ästhetische Erweiterung einer künstlerischen Idee zu sehen.
TunesMap kuratiert Information. Künstler haben keinen Einfluss auf das, was gezeigt wird. Der vermeintliche Vorteil der App, einfacher in einen künstlerischen Kosmos einzutauchen, führt eher dazu, dass Pophörer noch mehr zu unmündigen, passiven Konsumenten werden.