Nationaltheater Reinickendorf
Von Vegard Vinge und Ida Müller
Premiere am 6.7.2017 in der Reihe "Immersion" der Berliner Festspiele
Im Berliner Außenbezirk revoltieren Castorfs Kinder
Eine hochtechnisierte Bretterbude im Nordosten Berlins: In ihrem Nationaltheater Reinickendorf träumen die Performer um das Künstlerduo Vegard Vinge und Ida Müller von 150 Jahren europäischer Popkultur - mit Masken, viel Livevideo und noch mehr toten Männern.
Reinickendorf liegt in Berlins Nordwesten und hat außer Reichtum fast alles: ein paar raue Viertel, viele ruhige Viertel, Wald und auch Wiesen für Pferde und eins der schönsten Freibädern der Stadt in der Nähe, das die Amerikaner den eingemauerten Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik bauten. In einer ehemaligen Munitionsfabrik auf einem großen Industriegelände haben die Extremregisseure Vegard Vinge und Ida Müller mit ihrem Team ein halbes Jahr lang ihr Nationaltheater Reinickendorf aufgebaut, wie es heißt.
Es ist ein Bretterbau mit vielen wunderschön gemalten und detailreichen Wimmelbildern, mit Bühnenprospekten wie aus dem Dorftheater, nur viel aufwendiger. Der Saal selbst ist einem Variété-Theater nachempfunden, mit ein paar Tischchen in den ersten Reihen. Aber ganz oft sehen wir auf eine Leinwand, die Live-Videos zeigt.
Kanon der westlichen Popkultur abgearbeitet
Die Westanbindung ist wichtig für das Projekt, das innerhalb der Reihe "Immersion" der Berliner Festspiele stattfindet. Nicht nur weil es offensichtlich viel Geld gekostet hat. Auch die Themen arbeiten sich noch einmal am Kanon der westlichen Popkultur ab. Die zehn Aufführungen sollen immer anders aussehen, aber was ich gesehen habe, schlägt folgende Figuren als Referenzen vor: Ibsen, Wagner, Puccini, Verdi für das ausgehende 19. Jahrhundert, Popmusik wie Madonna, Joy Division, Depeche Mode für die 80er-Jahre, die für die Regisseure prägend gewesen sein müssen.
Und: viel Frank Castorf und seine Volksbühne, von der sich das norwegisch-deutsche Duo nicht nur im Guten getrennt haben, aber dennoch von dieser Ära stark geprägt wurden.
Als hätte Richard Wagner LSD genommen
Eigentlich wäre der Volksbühnenverweis auf Übervater Frank egal. Aber dieses Totaltheater, das den Zuschauer durch einen langen Ritus des Einlasses schon mal auf Geistertemperatur bringt, das mit Masken, Autotune in der Stimme und quälenden Wiederholungen die Kunstreligion ausruft und quasi katholisch das Publikum als Gemeinde von Büssern betrachtet, die nun endlich von ihrem sündigen Weg der Unterhaltung abgebracht werden müssen. Diese Messe will selbst tief in psychoanalytische Regionen vordringen.
Dort sind die Bilder gewaltig, die Ikonografie pornografisch, die Effekte groß und der Pegel zu laut, der Kunstwille also beeindruckend. Der Inhalt dann: Papi Patriarch frisst Scheiße, weil er alles kontrollieren will, Mami säugt ein Skelett, weil sie die toten Kinder nicht vergessen kann. Es sind Motive aus Ibsens "Baumeister Solness", die diesen Abend durchziehen, als hätte Richard Wagner LSD genommen und mit einem Smartphone einen Mash-Up dirigiert.
Kein Abend für Bildungsmuffel
Wie bei Wagner muss man die Motive auch kennen (lernen), dieses Theater ist bei aller Anarchie nichts für Bildungsmuffel. Im Kern ist die Dramaturgie aber nicht einmal so wild: Es geht fast immer um das Problem, dass das Neue das Alte verdeckt, es geht um Verdrängung von Gewalt durch neue Schaffenskraft, es geht immer um Kunst.
Solness als Künstlerdrama, Verdi und Wagner als Komponisten der ersten europäischen Nationalstaaten, der späte Wagner und Puccini und Ibsen, die den Furor des Neuen bereits wieder als Gewalt verstehen. Das sieht, zum Beispiel, so aus: Wir sehen und hören Oper, während ein Mann, der wie ein greiser Hitler aussieht, mit einer Staffelei Panini-Bilder malt von der Fußballweltmeisterschaft 1982 in Spanien.
Die Nation, die Gewalt, der Spaß, die Unterhaltung. Wir müssen durch dieses Fegefeuer durch, als Zuschauer. Und wir müssen überleben, um es erzählen zu können: "Live to tell" von Madonna, einer der großen Momente.
Geruchsimmersiv dank Kohl und Kartoffeln
Allmählich nimmt der Abend Fahrt auf. Und doch bleibt nach erst einmal fünf Stunden auch geruchsimmersivem Theater samt Kohl und Kartoffeln auf meinem Tischchen die Frage: Kann man die Idee des männlichen, sexistischen und strukturell gewaltverherrlichenden Geniekünstler auch mal kurz auf den Müllhaufen der Geschichte werfen? Oder ist das wirklich gerade das Topthema, an dem wir uns einen halben Tag lang abarbeiten müssen? Ich gehe formal beeindruckt, froher als meistens im Theater, inhaltlich aber etwas schulterzuckend vom Gelände. Ende.