Die Erben des Louis Braille
Die von Louis Braille vor fast 200 Jahren entwickelte Punktschrift erlaubt das Lesen und Schreiben ohne Augenlicht. Heute können sich Blinde und Sehbehinderte dank neuer Entwicklungen auch in ungewohnter Umgebung sicher orientieren, im Internet surfen und eine gedruckte Zeitung lesen.
Vorsichtig steigt Hans-Peter Mai die Treppe in seinen Garten hinunter.
"So, wenn ich vor mir schau, ist das Dunkel von der Garage, das Loch, wo die Einfahrt ist. Und schau ich jetzt nach oben, dann ist, Moment, ab hier, das dürfte die Grenze sein. Das ist jetzt der Himmel."
Dass der 59-Jährige sich überhaupt im Garten umblicken kann, hat er einem Wunder der Technik zu verdanken. Er ist nämlich blind: Retinitis pigmentosa, eine unheilbare Erbkrankheit. Die Sinneszellen im Inneren seines Auges sind langsam abgestorben. Zuerst die Stäbchen, sie sind für die Graustufen-Erkennung im Dämmerlicht zuständig, dann auch die letzten Zapfen, die für das scharfe und farbige Sehen sorgen. Vor fünf Jahren war das. Doch vor einem Jahr hat sich Hans-Peter Mai ein winziges Ersatzteil für die abgestorbenen Sehzellen unter die Netzhaut des linken Auges implantieren lassen.
"Das war unter Vollnarkose, bei mir hat das sehr lang gedauert, das waren neun Stunden. Einen Monat nach der OP wurde der Chip dann zum ersten Mal aktiviert. Hat prompt funktioniert, ich hab meinen ersten Lichtblitz gekriegt, war natürlich voller Freude erstmal weil es geheißen hat: das Ding funktioniert."
"Das Ding" ist ein vier mal drei Millimeter kleiner Chip. Ähnlich wie in einer Digitalkamera ist er mit Photodioden bestückt. Sie wandeln die optischen Reize in elektrische Impulse um, die verstärkt und dann direkt auf die Netzhaut weitergeleitet werden. Von dort fließen sie an den Sehnerv, so als kämen sie von den natürlichen Stäbchen und Zapfen. Für die Stromversorgung braucht Hans-Peter Mai ein kleines Steuergerät.
"Sind Batterien drin, da hinten. So. Und das ist das Transponderkabel, da ist hier ne kleine Spule drin mit dem Überträger und einem Magnet und die setze ich hier hinten hinters Ohr auf die Spule, die im Kopf drin ist, magnetisch bleibt der kleben. So, stecke ich das Ding hier ein, so, jetzt krieg ich den ersten Impuls schon."
Abtasten ohne Stock
Den Übergang zwischen dunklen Dächern und hellem Himmel kann Hans-Peter Mai recht gut wahrnehmen, ebenso die weiße Wand hinter der schwarzen Teerstraße vor seinem Haus. Doch ein parkendes Auto, das ähnlich dunkel ist wie die Straße, erkennt er nicht, da hilft auch die Feinjustierung von Helligkeit und Kontrast an dem Steuergerät in seiner Hand nicht mehr. Das künstliche Sichtfeld hat in Armlänge ungefähr Postkartengröße. Es besteht aus 1600 einzelnen Bildpunkten. Farben werden nicht unterschieden und zu einem Gesamtbild fügen sich die Bildpunkte auch nicht zusammen.
"Das hat mit Sehen im wortwörtlichen Sinne eigentlich nichts zu tun. Es ist ein Abtasten ohne Stock. Das kommt ziemlich genau hin. Das ist schwarz-weiß und verschiedene Graustufen, bis zu sechs Graustufen sind unterscheidbar. Natürlich: die Erwartungen, die waren von mir schon höher geschraubt. Ich hätte schon gern mal wieder ein vollständiges Bild gesehen."
Das sogenannte Retina-Implantat ist Ergebnis 20-jähriger Forschungsarbeit. Der Augenarzt Eberhart Zrenner hatte sie an der Tübinger Universitätsklinik begonnen und wird seit 2003 von der Reutlinger Firma Retina Implant fortgesetzt. Dabei gab es auch Rückschläge: Die erste Generation des Implantats, die 40 Patienten eingesetzt worden war, musste schon nach einem halben Jahr wieder entfernt werden. Die hauchdünne Silikonbeschichtung des Siliziumchips hatte den feuchten Salzen und Immunzellen im Augeninneren nicht widerstanden. Jetzt lassen Labortests darauf hoffen, dass die zweite Generation mindestens fünf Jahre durchhalten wird. Weltweit tragen erst 27 Menschen diesen Retina-Chip im Auge. Etwas mehr sind es bei einem amerikanischen Konkurrenzprodukt, das allerdings zusätzlich eine Kamera vor dem Auge benötigt. Der Physiker Alfred Stett ist Technik-Chef bei Retina Implant:
"Wir haben heute die Situation – das gilt jetzt für alle Anbieter von Implantaten –, dass die Erwartungen der Patienten nicht vollumfänglich erfüllt werden. Nicht jeder Patient profitiert am Ende von den Implantaten. Wir haben heute im besten Fall drei Prozent, wünschenswert wären zehn Prozent Sehstärke zurückzubekommen. Das halte ich nicht für ausgeschlossen. Unsere nächste Generation Chip wird auf 10 bis 20 Prozent schon kommen können."
"Wir haben heute die Situation – das gilt jetzt für alle Anbieter von Implantaten –, dass die Erwartungen der Patienten nicht vollumfänglich erfüllt werden. Nicht jeder Patient profitiert am Ende von den Implantaten. Wir haben heute im besten Fall drei Prozent, wünschenswert wären zehn Prozent Sehstärke zurückzubekommen. Das halte ich nicht für ausgeschlossen. Unsere nächste Generation Chip wird auf 10 bis 20 Prozent schon kommen können."
Der Retina-Chip ist das spektakulärste Hilfsmittel, das für Blinde und Sehbehinderte entwickelt worden ist. Aber es ist längst nicht das einzige. Schon seit 1825 erlaubt die von Louis Braille entwickelte Punktschrift das Lesen und Schreiben ohne Augenlicht. Heute können Blinde und Sehbehinderte sich auch in ungewohnter Umgebung sicher orientieren, im Internet surfen, eine gedruckte Zeitung lesen, Farben und Gesichter erkennen und manchmal sogar einen Teil ihrer verlorenen Sehkraft zurückgewinnen. Medizinischer Fortschritt und neue Technik machen es möglich.
Geräte erkennen Texte und lesen sie vor
Im Rahmen der Woche des Sehens finden einmal im Jahr über ganz Deutschland verteilt sogenannte Hilfsmittelbörsen statt. Die Hersteller reisen an und präsentieren ihre Neuheiten. Gerd Schwesig, selber blind, koordiniert die Hilfsmittelberatung beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband. Im Herbst 2017 hat er die zentrale Veranstaltung in Hannover organisiert.
"Menschen mit Einschränkungen, hier eben das Thema Blindheit, Sehbehinderung, da ist es ja so: Wer irgendeinen Bedarf hat, geht ins Kaufhaus und kauft sich etwas. Wer aber Bedarf an Hilfsmitteln hat oder an Informationen, die speziell nur für eine kleine Gruppe da sind, so erfahren Sie das weder in der Tagesschau noch in der Innenstadt. Und deswegen ist es ganz wichtig, dass die Leute gezielt zu uns kommen können und dann ein ganz breites Angebot von den Inhalten finden, die für sie hilfreich sind."
Anders als bei Sehenden geht es hier vor allem darum, die Hilfsmittel tatsächlich in die Hand zu nehmen und zu ertasten. Kein Firmenkatalog und kein Online-Shop kann das ersetzen. Fabian Emiljanow demonstriert an seinem Stand eine sogenannte Orcam. Sie besteht aus einem kleinen Steuergerät und einer Brille. Die Brillengläser spielen keine Rolle, wichtig sind die am rechten Bügel befestigte Kamera und ein sogenannter Knochenleitkopfhörer dahinter.
Es dauert einen Moment, dann hält der Vertreter eine Zeitschrift vor die Brille und deutet mit dem Finger auf einen Absatz des Textes.
"Und das Gerät fängt automatisch dann nach der Zeigegeste mit dem Lesen an. Ich kann das auch per Geste stoppen, einfach ausgestreckt ne flache Hand als würde man jemand von sich abweisen, und darüber ist die Bedienung möglich. Ich kann währenddessen die Lautstärke reduzieren, ich kann zeilenweise vorspringen, wenn ich einen Text schon kenne oder schnell ans Ende möchte."
Im Hintergrund arbeitet eine Texterkennungssoftware. Damit die Ohren frei bleiben, überträgt der Kopfhörer die Computerstimme direkt auf den Schädelknochen. Sie kann nicht nur Zeitschriften, Fahrpläne, Speisekarten oder Straßenschilder vorlesen. Sie kann zum Beispiel auch Produkte im Supermarktregal erkennen und benennen. Dafür greift sie auf eine Datenbank mit Millionen von Verpackungen und Barcodes zurück. Und sie gibt dem Blinden Bescheid, wenn ihm auf der Straße ein Bekannter entgegenkommt. Das erledigt eine Gesichtserkennungssoftware. Allerdings muss sie die Bekannten dafür erst einmal fotografieren.
Mit Hightech für eine bessere Sehleistung
"Es werden drei Bilder von einer Person dann erfasst. Ich löse das per Aktionsknopf einmal aus, drücke das über mehrere Sekunden und er erfasst dann die Person, die mir gegenüber steht, dann kommt ein Piepton und ich kann die Person dann halt unter dem Namen dann einspeichern."
Hightech doiniert die Ausstellung, besonders nützlich sind häufig aber auch technisch eher simple Hilfsmittel. Die Optikerin Franziska Mooz steht hinter einem Tisch, der mit Sehstäben und Lupen bedeckt ist.
"Ganz oft ist es tatsächlich so, dass die Kunden oder die älteren Leute immer noch ihre klassische Handlupe haben möchten. Und bis zu einer Sehleistung von 30 bis 40 Prozent macht das auch noch viel Sinn, weil dann haben wir eine dreieinhalbfache Vergrößerung und immer noch einen großen Ausschnitt bei den Gläsern. Sollte dann die Sehleistung schlechter werden und derjenige braucht schon fünf- bis sechsfach, dann geht man auf ne elektronische Lupe über."
Im Nachbarraum präsentiert Christopher Meyer-Wittern Brettspiele, zum Beispiel ein Mensch-Ärger-Dich-Nicht. Auf den ersten Blick sieht es aus wie immer. Doch die Details sind gut durchdacht.
"Wir kriegen also von einer Tischlerei ein schönes Buchenholzbrett geliefert und dann wird bei uns in der Werkstatt das Original-Spielfeld aufgebracht. Darüber kommt eine Klarsichtfolie, die ist tief gezogen. Wenn man da mal rüberfühlt, na ja haben wir hier also taktile Markierungen wo das Spielfeld verläuft, Bohrungen, ganz wichtig, die Spielsteine werden gesteckt, ist ja klar, weil wenn der Blinde drüberfühlt, wo ist jetzt der Gegner, darf man natürlich nichts verschieben können. Die Spielsteine sind dann oben markiert, es gibt einen Stein mit ner glatten Oberfläche, einer hat ne gewölbte Oberfläche, ein Loch in der Oberfläche oder eine Spitze, dass man immer fühlen kann: welche Farbe hab ich da vor mir. Dazu gibt's einen Braille-Würfel, und so ist das ganze also spielbar gemacht."
Auch verschiedene Quiz- und Kartenspiele hat Christopher Meyer-Wittern im Angebot. Er ist selber blind, keines der Spiele erfordert Augenlicht. Doch etwas anderes ist ihm besonders wichtig: Auch Sehende können mitspielen.
"Wir sind da komplett frei. Und das ist bei allen unseren Spielen, die wir haben, dass dieser Gemeinsam-Gedanke auch immer dabei ist, dass also egal was für eine Augenerkrankung ich habe, ich mit jedem zusammen spielen kann."
Weltweit sind 39 Millionen Menschen völlig blind
Tatsächlich gibt es einen fließenden Übergang zwischen sehend und blind. Insgesamt gelten nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO fast 300 Millionen Erdbewohner als sehbehindert, 39 Millionen als vollständig blind. Für Deutschland gibt es keine verlässliche Statistik, denn körperliche Behinderungen sind – nach der schrecklichen Erfahrung mit der nationalsozialistischen Euthanasie – nicht meldepflichtig. Neueste Schätzungen gehen von über einer Million Sehbehinderten und 135.000 Vollblinden aus. Der graue Star oder Katarakt, weltweit die häufigste Ursache für Sehbehinderungen, spielt in Deutschland kaum noch eine Rolle. Mit fast einer Million Laser-Operationen im Jahr werden hierzulande inzwischen so gut wie alle alterstrüben Linsen in einer kurzen ambulanten Behandlung durch eine Kunstlinse ersetzt.
"Die Versorgung mit Operateuren ist sehr, sehr gut, wir sind fast vielleicht schon überversorgt, so dass der eine oder andere graue Star vielleicht sogar zu früh operiert wird."
Sagt Martin Spitzer, Chefarzt der Augenklinik am Hamburger Universitätskrankenhaus UKE. Den Einsatz neuer Technik, den Privatkliniken derzeit für teures Geld anbieten, hält Martin Spitzer für reinen Luxus.
"Es gibt neuere Ansätze mit Femtosekunden-Lasern einen Teil der Operation automatisiert durchzuführen. Der Laser ist hochinteressant, weil er tatsächlich einen Teil der Operationsschritte übernimmt und hat sicherlich Zukunft, aber in einer wirklich signifikanten Verbesserung für den Patienten resultiert diese Lasertechnologie eigentlich nicht. Bei der Katarakt-Chirurgie ist das Niveau eigentlich inzwischen so hoch, dass nicht mehr so viel Luft nach oben ist hinsichtlich Vermeidung von Sehbehinderungen oder Verbesserung von Lebensqualität."
Auch für die drei anderen Volkskrankheiten des Auges – altersabhängige Makula-Degeneration, kurz AMD, diabetische Retinopathie und Glaukom beziehungsweise grüner Star – gibt es gute medizinische Behandlungsmöglichkeiten. Eine Sehbehinderung oder Erblindung können sie bisher allerdings nur verzögern, nicht verhindern. Die Zahl der Betroffenen ist in den vergangenen Jahren durch die immer höhere Lebenserwartung sogar leicht gestiegen.
Hoffen auf die Gentechnik
Retinitis pigmentosa, das langsame Absterben der Sehzellen, kommt dagegen vergleichsweise selten vor. In Deutschland sind zwischen 30.000 und 40.000 Menschen von dieser Erbkrankheit betroffen. Doch auch bei der viel weiter verbreiteten AMD sterben die Zapfen in der Netzhaut ab. Für beide Erkrankungen zeichnen sich zwei Behandlungswege ab: auf der einen Seite weitere Verbesserungen des elektronischen Retina-Implantats, auf der anderen Seite das Fortschreiten der Gentechnik.
"Stammzelltherapie, das ist der Ansatz, der noch am meisten Zukunftsmusik darstellt. Da geht’s darum, Stammzellen so umzuprogrammieren, dass sie Netzhaut komplett nachbilden. Das steckt aber noch ziemlich in den Kinderschuhen. Das ist im Moment noch Grundlagenforschung, noch weit davon entfernt, dass es einen sicheren Ansatz für den Patienten darstellt. Und ich denke, das wird noch Jahrzehnte dauern bis Stammzelltherapie – wenn überhaupt, sie hat ja auch ihre Risiken – für Patienten von Nutzen sein wird zumindest im Bereich der Netzhaut."
Eine vollständige Heilung oder die künstliche Wiederherstellung des Sehens liegt für die meisten Augenerkrankungen in weiter Ferne. Umso wichtiger sind all die Hilfsmittel für den Alltag von Blinden und Sehbehinderten. Dazu gehören viele kleine elektronische Geräte. Zum Beispiel zur Erkennung von Farben und Helligkeit. Auch Blinde sind gerne gut angezogen, und bevor sie die Wohnung verlassen, wollen sie sicher gehen, dass niemand Licht angelassen hat.
Für die Orientierung in ungewohnter Umgebung sind Navis besonders hilfreich. Seit zehn Jahren sind für diese Aufgaben keine getrennten Geräte mehr nötig. All das und noch viel mehr kann mit einem einzigen Hilfsmittel erledigt werden, dem Smartphone.
Das Smartphone macht's möglich
"iPhone und Apple, die haben wirklich gute Sachen für uns rausgebracht, mehr als für Sehende."
Sagt Coriena Skoropa. Sie ist stark sehbehindert und so kurzsichtig, dass sie sich das Smartphone direkt vor die Nase halten muss. Mit schnellen Wischbewegungen ruft sie die Apps auf, zum Beispiel eine Farberkennung, eine elektronische Lupe oder die Fahrplan-Auskunft der Bahn.
"Da muss man nur einen Ort eingeben und dann spricht der zu einem. Bleekstraße, wollen wir mal gucken, 14:23 Uhr fährt der 123er von der Bleekstraße ab. Das geht alles wunderbar damit. Mittlerweile ist es auch so, dass die Apps sich an den Zoom anpassen und dann hat er hier einen Kalender z.B., da sehen Sie wie groß die Schrift ist. Dann hat man die Möglichkeit, über einen Kopfhörer im Ohr, und man hat noch ein anderes Ohr zum Hören auf der Straße. Und das alles drahtlos über Bluetooth, das ist ne tolle Geschichte."
Als das Smartphone ab 2007 die klassischen Handys vom Markt verdrängte, war das für viele Blinde und Sehbehinderte zunächst ein Problem. Denn auf dem glatten Smartphone-Bildschirm fehlten die Tasten und damit jede Orientierung für die Finger. Doch schnell zeigte sich, dass die Vorteile der unzähligen Apps aller Smartphone-Betriebssysteme den kleinen Nachteil in der Bedienung bei weitem überwiegen.
Robbie Sandberg hat sich schon immer für die neueste Technik interessiert. Inzwischen arbeitet der 47-jährige Hamburger als IT-Trainer für Blinde. Wenn er in neuer Umgebung unterwegs ist, informiert er sich vorab im Internet über den Weg. Kaum aus der S-Bahn ausgestiegen, steuert er zielstrebig auf die Treppe zum Ausgang zu – obwohl die gerade zur Hälfte von einer Baustelle abgesperrt ist. Dann lässt er sich vom Navigationssystem in seinem Smartphone bis zur richtigen Adresse leiten.
"Meistens kommt man bis auf 10 bis 15 Meter an den Eingang heran. Die App legt Dir nicht die Hand auf die Klinke, die bringt Dich bis zum Haus und Du musst dann mit Deinen eigenen Mitteln noch die Tür finden."
"Meistens kommt man bis auf 10 bis 15 Meter an den Eingang heran. Die App legt Dir nicht die Hand auf die Klinke, die bringt Dich bis zum Haus und Du musst dann mit Deinen eigenen Mitteln noch die Tür finden."
Sind Menschen in der Nähe, fragt Robbie Sandberg sie um Hilfe, ansonsten ruft er kurz dort an, wo er erwartet wird. Wenn er dann einen Türsummer hört, weiß er, wo es lang geht. Einige Apps für die Fußgängernavigation sind inzwischen so präzise, dass man sich damit sogar durch die Wildnis lotsen lassen kann.
Mit der App durch die Wildnis
"Ich bin im Juni mit zwei Blinden zelten gefahren in die Hohenlohe und dann haben wir da diese App ausprobiert. Und das war tatsächlich so, dass er uns richtig mitten durch einen Wald geführt hat und über Trampelpfade, wo man denkt: Wie kann diese App diesen Weg kennen, hinter irgend nem Kuhstall längs? Das war schon echt erstaunlich. Und die App gibt dann ziemlich genaue Anweisungen per Sprachausgabe, dass man jetzt scharf links abbiegen soll oder wenn man die Route verlassen hat, dass die App dann wirklich sagt: Die Route liegt jetzt 30 Meter hinter Dir. Das hat uns richtig befreit, weil wir echt gemerkt haben: Wir sind dadurch in der Lage, alleine auch tatsächlich zu wandern."
Aus seinen IT-Kursen weiß er allerdings, dass nicht jeder gleichermaßen von der modernen Technik profitiert.
"Viele Blinde meiner Generation, die jüngeren sowieso, sind sehr technikverliebt und verspielt. Aber es gibt welche, für die das nicht zugänglich ist, weil sie entweder später erblindet sind oder weil sie noch eine körperliche Behinderung dazu haben, durch die sie motorisch eingeschränkt sind oder weil man vielleicht auch einfach kein Smartphone haben möchte. Soll’s ja geben. Die Erschließung des iPhones wurde damals sogar von einigen mit der Erfindung der Braille-Schrift verglichen, weil das so eine revolutionäre Entwicklung ist."
Die sechs Punkte der Brailleschrift reichen aus, um 64 verschiedene Zeichen darzustellen – genug für alle Buchstaben des Alphabets, die Zahlen und Satzzeichen. Dazu kommen auf sogenannten Braillezeilen zum Schreiben und Lesen am Computer zwei weitere Punkte für Groß- und Kleinschreibung, Sonderzeichen und die Navigation am Bildschirm.
Auch Smartphone, Texterkennung und Screenreader können das Lesen und Schreiben der Punktschrift nicht ersetzen. Davon ist Robbie Sandberg überzeugt.
"Es war vor einigen Jahren mal eine Situation, wo man sagte: Die Blinden lesen kaum noch Braille, es besteht die Gefahr, dass Braille ausstirbt, weil es gibt ja die ganzen Sprachausgaben und keiner hat mehr Lust zu lesen. Dann stellte sich aber heraus, dass es Schulabgänger gibt, die ne schlechte Rechtschreibung haben, weil die halt nie tatsächlich etwas gelesen haben, die haben immer nur gehört, die haben sich den Text vorlesen lassen, aber nicht selbst gelesen. Und da hat man in Blindenschulen wieder mehr Gewicht auf die Brailleschrift gelegt. Und in letzter Zeit ist die Braillezeile ja richtig am boomen, es gibt etliche Geräte für blinde Kinder, für Studenten, die mobil sind, die außer der Braille-Zeile auch noch einen Note-Taker enthalten oder einen richtigen Minicomputer drin haben mit Wlan-Anbindung und Office-Lösungen, es gibt Tablets mit integrierter Braille-Zeile. Also das freut mich auch sehr, dass das eine richtige Renaissance erlebt."
Blinde gehen selten zum Augenarzt
Billig sind all diese Gerätschaften nicht. Eine Braillezeile oder eine Orcam für die Text- und Gesichtserkennung kosten mehrere Tausend Euro. Der Grund: Die Entwicklungs- und Zulassungskosten sind hoch, der Markt, um sie zu refinanzieren, ist dann aber sehr klein. Nicht immer helfen die Krankenkassen. Manchmal zahlen sie nur einen Zuschuss, und das oft auch erst nach einem mühseligen Widerspruchsverfahren. Ein Retina-Implantat schlägt sogar mit Hunderttausend Euro zu Buche, in Deutschland gibt es nur einige Hundert Patienten, für die es prinzipiell geeignet wäre. Die Kassen haben die Kosten bisher im Rahmen des sogenannten NUB-Programms für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden übernommen.
Die Auswahl des richtigen Hilfsmittels und die Finanzierung sind kompliziert. Rat finden Blinde und Sehbehinderte eher in Selbsthilfegruppen als in der normalen medizinischen Versorgung. Der Hamburger Chefarzt Martin Spitzer:
"Leute, die komplett blind sind, gehen in der Regel nicht zum Augenarzt. Ab dem Punkt, wo gar nichts mehr getan werden kann, klinken sich die Ärzte häufig mal aus oder wird auch seitens der Patienten ein Arztbesuch gar nicht mehr als erforderlich gesehen, weil er ja eh nichts helfen kann. Da ist es tatsächlich so, dass Selbsthilfegruppen entscheidend sind, die, wenn z.B. neue Therapiemöglichkeiten aufkommen oder Hilfsmittel, dann die Betroffenen informieren. Das läuft überwiegend auf ehrenamtlicher Basis. Die Daten sind teilweise schon erschreckend wie viele unerkannt Sehbehinderte in Pflegeheimen leben. Das ist eine Versorgungslücke in unserem Gesundheits- und Sozialsystem, die wir uns mehr bewusst machen müssen."
Diese Versorgungslücke hat auch damit zu tun, dass Sehbehinderte kaum eine Lobby haben. Detlev Fischer kennt das Thema gut. Er arbeitet für die Hamburger Dias GmbH, die mit Projektmitteln des Bundessozialministeriums neue Technik und Software für Blinde und Sehbehinderte testet.
"Die politischen Köpfe in der Szene sind häufig die Vollblinden, weil die eben am stärksten darauf angewiesen sind, dass Dinge funktionieren. Während die Gruppe der Sehbehinderten ganz häufig Menschen sind, die mit dem Älterwerden dann Seheinschränkungen erleiden und langsam aber sicher schlechter gucken bis erblinden, und die das dann häufig noch als eigenes Defizit empfinden. Sehbehinderte sind traditionell weniger politisch sichtbar als Blinde."
Die Vielfalt der Hilfsmittel und Behandlungsmethoden kann verwirrend sein. Und nicht alles, was technisch möglich ist, bewährt sich in der Praxis. Und nicht alles, was für den einen praxistauglich ist, nützt auch dem anderen.
Joachim Steinbrück kennt das Thema aus eigener Erfahrung, er ist im Schulalter vollständig erblindet. Und er ist qua Amt für das Thema zuständig, als Bremer Landesbehindertenbeauftragter. In der Vielfalt neuer Hilfsmittel und Behandlungsmethoden sieht er auch eine Gefahr.
"Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass eine Beeinträchtigung zu haben immer noch als ein Makel angesehen wird, als ein Problem, das unbedingt beseitigt werden muss. Und für mich stellt sich gerade bei diesen Netzhaut-Implantaten die Frage: Werden die Menschen nicht später darauf verwiesen: Wieso willst Du Barrierefreiheit, Du kannst Dich doch behandeln lassen. Also ein Zwang, diesen angeblichen medizinischen Fortschritt mitzumachen. Das halte ich für sehr problematisch. Ich befürchte, dass die technische, medizinische Entwicklung viel schneller ist als wir in der Identifikation solcher ethischen Probleme und dem gesellschaftlichen Diskurs darüber."
"Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass eine Beeinträchtigung zu haben immer noch als ein Makel angesehen wird, als ein Problem, das unbedingt beseitigt werden muss. Und für mich stellt sich gerade bei diesen Netzhaut-Implantaten die Frage: Werden die Menschen nicht später darauf verwiesen: Wieso willst Du Barrierefreiheit, Du kannst Dich doch behandeln lassen. Also ein Zwang, diesen angeblichen medizinischen Fortschritt mitzumachen. Das halte ich für sehr problematisch. Ich befürchte, dass die technische, medizinische Entwicklung viel schneller ist als wir in der Identifikation solcher ethischen Probleme und dem gesellschaftlichen Diskurs darüber."
Neue Methoden - neue Probleme?
Seine eigene Blindheit hat Joachim Steinbrück sogar als Befreiung erlebt. Als er im Jugendalter den letzten Sehrest verlor, musste er sich nicht mehr mit immer weiter zunehmenden Einschränkungen herumplagen, sondern konnte an einer Blindenschule ein neues Leben starten.
"Blindheit ist ja erstmal kein Grund, unglücklich sein zu müssen oder zur Inaktivität verurteilt zu sein, sondern es ist einfach eine Form des menschlichen Seins, die auch Probleme mit sich bringt, keine Frage. Und ich glaube, wovor wir uns erstmal hüten müssen, ist vor Heilsversprechen."
Denn nicht nur das Erblinden, auch das Zurückgewinnen des Augenlichts kann mit Problemen verbunden sein.
"Die Identität ist eine andere, die Menschen reagieren anders auf mich wie sie das getan haben als ich blind war. Das muss ich neu lernen, also im Sozialverhalten. Und ich glaube, das Wichtige ist erstmal, dass man Menschen, die vor dieser Frage stehen, solch eine Behandlung zu machen, nicht irgendwie das Glück auf Erden verspricht, sondern ihnen realistisch verdeutlicht, dass es dadurch vielleicht neue Probleme auch gibt, mit denen sie dann auch fertig werden müssen. Und dass nicht auf einmal der Schalter umgelegt wird, und die Welt ist wieder gut."
Für die Hersteller der Netzhaut-Implantate ist das eine schwierige Gratwanderung. Einerseits suchen sie ständig neue Patienten, die sich der komplizierten Augenoperation unterziehen wollen, andererseits dürfen sie, um schwere Enttäuschungen zu vermeiden, keine unrealistischen Hoffnungen wecken.
Auch Hans-Peter Mai hat sich die Entscheidung für das Retina-Implantat nicht leicht gemacht. Denn eigentlich hatte er sich schon damit arrangiert, den Rest des Lebens als Blinder zu verbringen.
"Ich hab das Ganze seit über 40 Jahren jetzt, man wächst in seine Situation natürlich rein. Ich könnte jetzt nicht sagen, dass mir das egal ist, wirklich nicht. Aber das ist auch nicht so, dass mich das großartig aufwühlt. Es gibt so viele Möglichkeiten, eine Umgebung zu erfahren und zu ergründen und sich zu merken, das kann ein Sehender gar nicht ermessen wie das ist."
"Ich versuch das jetzt mal"
Doch dann hat ein Gedanke den Ausschlag gegeben, der ihm nicht mehr aus dem Kopf ging.
"Das war für mich eigentlich das letzte Aufbäumen gegen diese Erkrankung, dass ich sagen kann: Ich versuch das jetzt mal. Nicht dass ich irgendwann mal rumhäng und sag: Da hätte ich die Möglichkeit gehabt und hab sie nicht genutzt. Ich hab das, was ich dazu tun kann, dass hab ich gemacht. Mehr kann ich von mir aus nicht tun."
Eine Begleitperson ersetzt das Retina-Implantat nicht, und auch zum Lesen reichen die wenigen Lichtblitze, die Hans-Peter Mai damit sieht, nicht aus. Deshalb hat er jetzt begonnen, Braille-Schrift zu lernen. Und er reist nach wie vor gern.
"Im September waren wir im Urlaub, hab eine Kreuzfahrt gemacht mit Hurtigruten zum Nordkap und da konnte ich durchaus mit meinem Gerät auf dem Schiff rumlaufen und hab dann schon gerade die Hell-Dunkel-Kontraste mit dem Chip abgetastet. Es war recht interessant, da konnte ich wenn man durch einen Fjord fährt immer abtasten: Hier ist Himmel, hier fängt Fels an, ist also unterschiedliche Hell-Dunkel-Konstellation da. Und konnte also ganz genau den Verlauf vom Fjord nachvollziehen."
Und plötzlich hat sich die Kontur mit Farben gefüllt – ganz ohne Augenlicht.
"Ein Rest, der ist ja schon im Gehirn gespeichert, die Farben und wie das auszusehen hat, das weiß man ja. Ich zumindest weiß das. Wahrscheinlich ist es sogar so, dass das Bild, das in meinem Kopf entsteht, viel schöner ist als in der Realität. Das ist durchaus möglich. Und so läuft das dann."