"Als Lateinamerikaner gehöre ich zu den Gewinnern"
Max Welch Guerra flieht 1973 als Jugendlicher aus Chile und gelangt über Umwege nach Deutschland. "Paradiesisch" seien die Bedingungen für ihn damals gewesen, sagt der Professor für Raumplanung und Raumforschung rückblickend.
Vor sich die Häuserfluchten und der Verkehr der Großstadt, hinten im Hof des Berliner Altbaus ein Garten mit Buddelkiste, Grillecke und Fußballplatz für die Anwohner. So mag es Max Welch Guerra:
"Das kostet nichts. Das ist Lebensqualität ohne Zugangskosten. Und das erlaubt auch, dass Menschen sich viel schneller heimisch fühlen können."
Heimisch fühlt sich der Stadtplaner und Professor für Raumforschung schon lange in Deutschland. 1973 - er war gerade 17 Jahre alt - musste er seine erste Heimat Chile nach dem Sturz von Salvador Allende verlassen.
"Die bundesdeutsche Botschaft hat mich rausgeschmissen, hat mir kein Asyl geben wollen. Das war keinen Monat nach dem Putsch. Die Botschaften waren alle umzingelt von Militär, aber ich kam in die Kanzlei der deutschen Botschaft und ich dachte, ich sei gerettet. Und dann hab ich sogar noch auf Deutsch dem Kulturattaché gesagt, welches meine Situation ist."
Aber der Beamte hat kein Erbarmen mit dem Schüler des deutschen Gymnasiums in Valparaiso und schickt ihn wieder weg - der Jugendliche ist in Lebensgefahr.
"Dann kam ich nach Italien und es ging darum, was mache ich? Das hört sich heute merkwürdig an, vielleicht schockierend: Werde ich Guerillero? Was wird aus mir? Ich war in der sozialistischen Partei Chiles und ich habe mich mit einem führenden Genossen, der in dem Moment in Rom war, unterhalten. Und der sagte zu mir: nein, companero Welch, Sie sollten die Schule beenden, studieren. Wir werden eines Tages Leute brauchen, die nicht nur wissen, wie man eine Brücke in die Luft sprengt, sondern auch, wie man eine Brücke baut."
Als Kontingentflüchtling kommt Welch Guerra schließlich 1974 doch noch nach Deutschland - und nun geht alles ganz schnell.
"Die Kirchengemeinde, die mich aufgenommen hat, die wussten nur, da ist einer, der braucht Hilfe. Ich hätte Weiß-Gott-Wer sein können, ich glaube, die wussten noch nicht mal, dass ich Deutsch kann."
Schnell bei allen beliebt
Er macht innerhalb von zweieinhalb Jahren Abitur, bekommt Unterstützung, auch finanziell. Die Bedingungen waren - so sagt er heute - paradiesisch. Seinen Status als jemand, der anders ist, der auffällt, der um seine Zugehörigkeit ringt, erlebt Welch Guerra eher als Vorteil denn als Nachteil. Max, der Chilene mit schulterlanger Lockenpracht, die er bis heute trägt, ist bei allen beliebt. Viele Türen stehen ihm offen. Andere Ausländer hatten es schwerer.
"... wie man behandelt wird von Behörden oder von Kollegen oder von unbekannten Leuten in einem Restaurant, da gibt es große Unterschiede, und ich gehöre zu den Gewinnern als Lateinamerikaner."
In Deutschland studiert der chilenische Genosse Politologie, später Stadtplanung, bekommt drei Kinder mit zwei Frauen und lebt heute zwischen Weimar, wo er an der Bauhausuniversität arbeitet, und Berlin.
"Seit vielen Jahren bin ich hier Zuhause. Aber es ist nicht nur die Zeit. Es hat auch damit zu tun, wie ich aufgenommen wurde. Das hat es sehr erleichtert."
Auch dass er als Jugendlicher nach Deutschland kam, war von Vorteil: Der Umgang mit deutschen Gleichaltrigen, die Freiheit, neue Lebensformen auszuprobieren, haben ihn geprägt.
"In Chile wäre es ganz anders verlaufen unter der Diktatur, sodass ich sagen kann, dass ein wichtiger Teil meiner Persönlichkeit das Ergebnis ist einer zunächst einmal westdeutschen Sozialisation in diesem Milieu."
Als Stadtplaner mit einer solchen Lebensgeschichte mischt sich Max Welch Guerra in die derzeitigen Flüchtlingsdebatte ein. Auch in Thüringen, wo er lehrt, kommen täglich Menschen aus Syrien oder Afghanistan an - eine Herausforderung.
"Es gibt im ländlichen Raum in Thüringen Gebiete, wo man es gar nicht gelernt hat, mit Leuten umzugehen, die anders aussehen. Das ist eine kollektive soziale Erfahrung, die fehlt. Und das ändert sich langsam und ich denke, das ist etwas, das wir begleiten müssen."
"Ein Land, das mich ausgespuckt hat"
In seine erste Heimat Chile reist Welch Guerra einmal im Jahr. Er ist ihr genauso verbunden wie Deutschland, allerdings mit zwiespältigen Gefühlen.
"Es ist ein Land, das mich ausgespuckt hat, als ich 17 war. Ich habe noch nicht mal einen Stein geworfen. Aus Feigheit allein hab ich schon keine Steine geworfen. Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen, aber ich musste weg. Verpfiffen durch Nachbarn."
Gegenüber der Bitterkeit der Jugend setzt sich zunehmend die Milde des Alters durch. Bis vor einigen Jahren wollte Welch Guerra sich auf jeden Fall in Chile begraben lassen.
"Dazu gehört auch, dass man - natürlich nur metaphorisch - im Nachhinein den Generälen die Zunge raussteckt und sagt: Hey, ich komme jetzt zurück, ich werde in Chile begraben!"
Die Zeiten sind vorbei. Rache, das war gestern. Max Welch Guerra wird in Berlin bleiben. Wo er hingehört.
Max Welch Guerra, 59 Jahre, Professor für Raumplanung und Raumforschung an der Bauhaus-Universität Weimar, seit 41 Jahren in Deutschland
Fühlen Sie sich inzwischen in Deutschland zu Hause?
"Ja, seit vielen Jahren fühle ich mich hier zu Hause. Selbstverständlich. Aber es ist nicht nur die Zeit, sondern es hat auch damit zu tun, wie ich aufgenommen wurde, und das hat es sehr erleichtert. Die Kirchengemeinde, die mich aufgenommen hat, die wusste nur, da ist einer der braucht Hilfe."
Wie lange hat es gedauert anzukommen?
"Ich war im Exil! Das kann man sich schwer vorstellen. Der Zustand im Exil zu sein ist ganz komplex: weil man denkt an die Heimat, man will zurück, man darf nicht zurück. Und alle assoziieren dich auch mit dem Exil: ich war Max, der Chilene, oder der chilenische Genosse. Und nach zehn Jahren durfte ich endlich zurück, mein Name stand auf einer Liste. Ich hatte Angst. Und viele haben mich gefragt: Na Max, bleibst du hier oder kehrst du zurück? Dann habe ich mich entschieden, und spätestens dann bin ich richtig angekommen. Dann hab ich mich auch ganz darauf eingelassen und habe nicht immer gesagt: eigentlich gehöre ich woanders hin."
Hat die neue Heimat Sie verändert?
"Selbstverständlich. Allein schon deshalb, weil ich mit 17 hier ankam. Ich war noch in einem Entwicklungsprozess. Ich wusste sehr viel über Deutschland, aber natürlich - die ganzen Gleichaltrigen: wie man sich verhält als Jugendlicher, wie man Mädchen anspricht, wie man sich als Schüler verhält. Und das habe ich hier alles mitgemacht. In Chile wäre es ganz anders verlaufen unter der Diktatur, sodass ich sagen kann, dass ein wichtiger Teil meiner Persönlichkeit das Ergebnis ist einer zunächst einmal westdeutschen Sozialisation in diesem Milieu."
Was ist ihr Lieblingsort? Wo ist der?
"Ich arbeite in Weimar, ich darf das sagen: zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust! Aber es ist eben nicht Weimar und Berlin, sondern Berlin und Valparaiso. Unser Friedhof! Der Fußballverein, wo mein Onkel gespielt hat! Und der hat es geschafft, in die Nationalmannschaft zu kommen! Das werde ich natürlich nicht los."
Wollen Sie hier alt werden?
"Ja, natürlich, und zwar auch hier in Schöneberg. Mitten in der Großstadt. Mittendrin. Ja. Was anderes kommt für mich nicht infrage. Es ist sogar so weit, dass ich mir überlege, dass ich nicht in Chile begraben werden möchte, sondern in unserem schönen Matthäus-Kirchhof, wo zum Beispiel die Gebrüder Grimm begraben sind."