Paul Nizon: Sehblitz.
Almanach der modernen Kunst
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
302 Seiten, 20 Euro
Es dehnt, wuchert und schwillt
Engagiert und sprachgewaltig: Der heute 88-jährige Paul Nizon hat neben seinen Büchern Kunstkritiken geschrieben. Sie zeigen den Kunsthistoriker als genauen Beobachter und scharfen Analytiker. In einem Auswahlband sind Essays und Porträts aus 60 Jahren versammelt.
Als das Spätwerk von Henri Matisse 1959 in der Kunsthalle Bern ausgestellt wurde, geriet Paul Nizon ins Schwärmen. Über viele Zeilen hinweg näherte sich der damals noch als Kunstkritiker für die "Neue Zürcher Zeitung" arbeitende Schriftsteller dem großen französischen Meister.
Die Klebebilder, die "Gouache découpée", hatten es ihm angetan, und noch heute, fast 60 Jahre später, ist spannend zu lesen, wie Nizon das Werk zu fassen versuchte und schließlich überwältigt konstatierte, diese Kunst zeige die "Fähigkeit zu einer ungebrochenen Lebensfreude ... und eine aus lebenslanger Bemühung um eine Sache erworbene Freiheit".
200 Besprechungen und ein Dutzend Bücher über Kunst
Die lebenslange Bemühung um eine Sache – das gilt auch für Nizons Schaffen. Über 200 Besprechungen und ein knappes Dutzend Bücher allein zu Künstlern und Kunstthemen hat der heute 88-jährige verfasst.
Damit hat der Schweizer ein vom Umfang her mit seinen Romanen und Erzählungen vergleichbares Werk geschaffen. Dass es sich auch stilistisch auf gleicher Höhe zeigt, lässt sich nun in "Sehblitz" studieren; einer subjektiven Auswahl seiner Kunstkritiken von 1956 bis 2016.
Nizon hat Kunstwerke lebendig gemacht
Die Klassische Moderne, die Avantgarde der Nachkriegszeit und die Kunst aus dem Schweizer Freundeskreis bilden die Schwerpunkte dieses "Almanachs der Modernen Kunst". Nizon, der Kunstgeschichte studiert und 1957 zu van Gogh promoviert hat, schreibt darin über Größen wie Goya und Turner, Picasso und Giacometti, Mark Rothko und Jackson Pollock, aber auch über weniger bekannte wie Karl Jakob Wegmann oder Friedrich Kuhn.
Bereits in seinen frühesten Artikeln zeigt sich Nizons Fähigkeit, Kunstwerke lebendig werden zu lassen, ihnen schreibend auf den Grund zu gehen und seinen Leserinnen und Lesern damit, einen Zugang auch zu sperrigen Bildern zu ermöglichen. Meisterhaft etwa zeigt er Malewitschs Weg ins Ungegenständliche, spürt Rothkos abstrakter Farbfeldmalerei nach oder erfasst die Radikalität von Pollocks action painting.
Lesenswert, nicht nur für Fans
Diese Texte haben noch heute Gültigkeit. Zudem sind sie von beeindruckender Sprachkraft und bewegen sich stets jenseits gängiger Formulierungen. In Nizons Bildbeschreibungen "dehnt, wuchert und schwillt es" (über Otto Tschumi), es tauchen "strahlende Nebel und schwingende Partikel" auf (über Pollock), und es gibt "Fädchengekribbel kosmischer Strahlung" (über Mark Tobey). Hier wird buchstäblich spürbar, wie sehr die Kunst den Autor im Innersten anging, und wie er sein Schreiben durchs Sehen ausbildete.
Darüberhinaus sind diese Kunstkritiken auch zeitgeschichtlich aufschlussreich. Etwa wenn sie von den legendären Zeiten der Kunsthalle Bern unter der Direktion Harald Szeemanns zeugen oder Großereignisse wie die Biennale von Venedig (1968) oder die Art Basel (1971) aufscheinen lassen. Nizon urteilt sie beide ab als "Geschäftsmeeting herumstolzierender Händler, Manager, Sammler und Mäzene".
So also kann Kunstkritik sein: engagiert, eigen, sprachgewaltig und doch auch immer eine Brücke zu den Lesern schlagend. Sehr lesenswert, nicht nur für Nizon-Fans.