Péter Nádas: "Aufleuchtende Details"

Ein Jahrhundert als Erblast

Buchcover "Aufleuchtende Details" von Péter Nádas, im Hintergrund das Panorama der ungarischen Hauptstadt Budapest
Buchcover "Aufleuchtende Details" von Péter Nádas, im Hintergrund das Panorama der ungarischen Hauptstadt Budapest © Rowohlt Verlag / dpa / Jens Kalaene
Von Jörg Plath |
Anekdoten, Zitate, Reflexionen: Péter Nádas erzählt in "Aufleuchtende Details" von Verwandten und Freunden zwischen zwei Revolutionen. Mühelos ausschweifend und umfangreich schreibt der ungarische Schriftsteller über die Zeit zwischen 1848 und 1956.
"Aufleuchtende Details" von Péter Nádas hebt an mit dem frühen Glück des Erzählers Péter Nádas als Kind auf den Knien des Großvaters. Doch es folgt keine Auto- und keine Familienbiografie, kein Memoir, auch keine historische Schrift. Alle diese und noch viel mehr Gattungen benutzt Nádas jedoch.
Der große ungarische Schriftsteller erzählt ungemein detailliert von Verwandten und deren Freunden zwischen zwei Revolutionen, denen der bürgerlichen von 1848, in deren Gefolge sein Urgroßvater im Budapester Parlament die Gleichberechtigung der Juden durchsetzte, und der ungarischen von 1956. Sie erlebt Nádas als 14-jähriger Waise und beinahe einziger Überlebende einer großbürgerlichen jüdischen Familie, deren Zukunftsgläubigkeit in zwei Kriegen und zwei Massenmorden zuschanden wird. "Aufleuchtende Details" schildert ein Jahrhundert als Pandämonium und Erblast.

Ein Erzählen wie Atmen

Mode, Massenerschießungen, Esssitten, Rezepte, Porträts, der Geruch von Leichen, Exkrementen und Menschen, Musik, Schulfreundschaften, Judesein und Assimilation, Reisebeschreibungen, männliche und weibliche Körper, Lektüren und immer wieder Budapester Wohnungen, Häuser, Straßen, Brücken – fremd ist diesem Erzähler nichts.
Beladen mit Rechercheergebnissen, ausgestattet mit einem überaus präzisen Gedächtnis und gesegnet mit der Fähigkeit zum Erzählen sprengt Nádas die traditionelle Vorstellung eines individuellen Gedächtnisses und bewahrt doch die Person: Er kehrt stets zu sich zurück, es ist ein Erzählen wie Atmen.
Der ungarische Autor Péter Nádas
Der ungarische Autor Péter Nádas© imago/ZUMA Press
Seine Assoziationsketten gleiten aus den 1940er Kindheitsjahren in das vorletzte Jahrhundert und wieder zurück, vom Vorbewussten ins Bewusste, vom Familiären ins Kollektive, vom Privaten ins Öffentliche.
Auf die Spiele des Enkels mit dem Großvater folgen Szenen aus dessen Donaudatscha und der Goldschmiedewerkstatt, der Abschiedsbrief des depressiven Vaters, der sich und seine Kinder umbringen will, die Regeln familiärer Selbstdisziplin und des Sonntagsessens, Erläuterungen zu Halbedelsteinen und Fassungen, die Suche des Erwachsenen nach dem Haus mit Großvaters Werkstatt, die Sprengung der Budapester Brücken durch die abziehenden Deutschen 1944.
Und das ist eine unvollständige Synopsis nur der ersten 22 Seiten von insgesamt 1280. Manche der mühelosen Abschweifungen wächst, durchsetzt von Anekdoten, Geschichten, Zitaten, Reflexionen, auf über 80 Seiten an.

Aus der Schwärze geboren

"Aufleuchtende Details" besteht aus zwei gleich großen Teilen. Viele Fäden verbinden das "Familienlegendarium" ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der zweiten Hälfte, in der Nádas den illegalen kommunistischen Widerstand der Eltern gegen die faschistischen Pfeilkreuzler und deutschen Besatzer schildert und seine eigene Geburt parallel zu Massakern an den Juden von Radzyń, Łuków und Misotsch erzählt.
Auf die Urgeschichte der Familie folgt ihr Untergang. Das Buch handelt vom fortschreitenden Bankrott des Sinns und von der Geburt eines Erzählers aus dieser grundlegenden Schwärze. Die dafür notwendige Selbstüberschreitung schenken die Bücher von Péter Nádas dem Leser auf verschwenderische Weise: als Erfahrung der Befreiung und Freiheit.

Péter Nádas: Aufleuchtende Details. Memoiren eines Erzählers
Aus dem Ungarischen von Christina Viragh
Rowohlt Verlag, Reinbek 2017
1278 Seiten, 39,95 Euro

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