Philippe Soupault: "Die Zeit der Mörder. Erinnerungen aus dem Gefängnis"
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Wunderhorn Verlag, Heidelberg, 2017
416 Seiten, 28 Euro
Reportage mit Ewigkeitswert
In Tunis, um eine antifaschistische Radiostation aufzubauen, gerät der Journalist 1942 in die Fänge des Vichy-Regimes. Monatelang in Haft, schreibt er, um nicht durchzudrehen. Über das System, vor allem aber über das Individuum in Haft.
1942 sitzt der französische Autor und Journalist Philippe Soupault ein halbes Jahr in Tunis im Gefängnis. Er ist macht- und hilflos, beobachtet aber genau, was um ihn herum geschieht, was das Gefängnis mit und aus den Menschen macht.
Seine eindrucksvollen Erinnerungen erschienen 1945 in New York und erst 70 Jahre später in Frankreich. Jetzt ist der umfangreiche Band auch in deutscher Übersetzung herausgekommen, im Heidelberger Verlag Wunderhorn, der sich um das Werk des französischen Surrealisten einmal mehr verdient macht.
Auf Wunsch León Blums in Tunis
Philippe Soupault hatte 1938 von Léon Blum, dem ersten sozialistischen Premierminister Frankreichs, den Auftrag bekommen, in Tunis eine Radiostation aufzubauen. Tunesien war damals französisches Protektorat.
Nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazis wurde Soupault sofort seines Postens enthoben. Das Vichy Regime hatte die Macht übernommen und ging auch in Tunesien gegen die Widerständigen vor. Soupault wurde denunziert und im März 1942 wegen Hochverrats verhaftet. Die Hausdurchsuchung hatte zwar keine verwertbaren Ergebnisse, auch das Verhör nichts Verwertbares zu Tage gefördert. Trotzdem wurde er – gemeinsam mit seinem Denunzianten – ins Gefängnis geworfen. "Dank der vom Vichy-Regime eingeführten Ausnahmegesetze für Verbrechen gegen die Staatssicherheit setzten sich die Militärrichter ab 1940 über alle gesetzlichen Bestimmungen hinweg. Ich saß in strenger Einzelhaft."
Dieser Büchermensch in Anzug und Krawatte, der gerade zum Abendessen bei Freunden aufbrechen wollte, wird von einem Augenblick zum anderen aus seinem Leben gerissen. Er liegt auf der Pritsche und versucht, sich zu beruhigen, nicht durchzudrehen, nicht zu schreien. Er denkt an seine Frau, die nicht weiß, wo er ist und wie es ihm ergeht.
Soupault tut in diesem Augenblick und in den folgenden Wochen etwas ganz und gar Bewundernswertes und Ungewöhnliches. Er versucht über die eigene Lage hinweg zu kommen, in dem er seine Mitgefangenen ins Zentrum des Interesses rückt. Er hört ihnen zu, wenn sie von ihren Taten erzählen und von ihren Träumen.
Er beschreibt, wie eine Flucht erst gelingt und dann scheitert, wie ein junger Mann zu einer absurd hohen und ein anderer, ein dem Regime gegenüber willfähriger, zu einer skandalös geringen Haftstrafe verurteilt wird. Und wie sich die Mitgefangenen darüber empören. "Man gewöhnt sich an alles, außer an die Ungerechtigkeit."
Individuum im Zentrum
Im Zentrum dieser Erinnerungen steht nicht das verachtenswerte Regime oder das System, das er klug analysiert, deren Schergen er durchschaut – im Mittelpunkt steht der einzelne Häftling und die Frage, was die Dunkelheit, die Langeweile, die Unselbständigkeit mit einem Menschen macht. Wie der Charakter sich verändert durch die Demütigungen, die jeder Gefangene aushalten muss.
Das ist es, was dieses – immer wieder auch langatmige – Buch so ungewöhnlich und über die Zeiten hinweg verstörend und wirkungsmächtig macht: Wir, die wir nicht der Freiheit beraubt sind, begreifen, was es bedeutet, eingesperrt zu sein.
Das ist es, was dieses – immer wieder auch langatmige – Buch so ungewöhnlich und über die Zeiten hinweg verstörend und wirkungsmächtig macht: Wir, die wir nicht der Freiheit beraubt sind, begreifen, was es bedeutet, eingesperrt zu sein.