Wie die Digitalisierung die Vernunft tötet
Der Philosoph und Historiker Achille Mbembe sieht die Menschheit in einer paradoxen Situation: Noch nie habe es dank digitaler Technik so viele Wissensquellen wie heute gegeben. Und doch herrsche überall das blanke Unwissen. Ein Trost: Mbembe kennt die Lösung.
Mbembes Diagnose der Gegenwart klingt düster: Wir hätten den Bereich verlassen, in dem Vernunft und Fakten die entscheidenden Größen gewesen seien. Statt dessen herrsche eine affektgesteuerte Atmosphäre, in der Fiktionen und Fakten zunehmend miteinander vermischt würden: "In einer solchen Atmosphäre gibt es keine Verantwortlichkeit, keine Rechenschaftspflicht mehr - und ohne eine solche Rechenschaftspflicht kann es keine Demokratie geben."
Schuld sind nach Überzeugung des Kameruners, der im südafrikanischen Johannesburg lehrt, die neuen Medien. Sie hätten zu einer "Zerstörung der Öffentlichkeit" geführt. An deren Stelle seien "Empörungsgemeinschaften von Menschen" getreten: "Argumente, rationales Für und Wider, Abwägen dergleichen, das alles verschwindet und wird preisgegeben zugunsten von Gefühlsräumen, wo wir alle nur das suchen, was wir alle ohnehin schon kennen."
"Wir brauchen eine Fortsetzung des Projekts der Aufklärung"
Heute tue eine grundlegende Kritik der Technik not:
"Wir treten ja in ein neues Technikzeitalter ein, wo Technik zunehmend automatisierte Lösungsansätze schafft - und das führt tatsächlich zu einer Art Tod der Vernunft. Wir haben diese paradoxe Situation, dass die Erkenntnismöglichkeiten und auch die Wissensquellen so umfangreich sind wie nie zuvor, dass aber andererseits das blanke Unwissen fast überall die Oberhand zu gewinnen droht."
Mbembe sieht einen Ausweg: eine "Neubelebung des kritischen Geistes", wie er es nennt. Die humanistischen Fächer müssten wieder gestärkt werden: "Wir brauchen eine Fortsetzung des Projekts der Aufklärung. Dieses ist geradezu grundlegend für unsere Überlebensmöglichkeiten." Ein Zurück ins vorelektronische Zeitalter werde es jedenfalls nicht geben.
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Der Philosoph und Historiker Achille Mbembe wurde 1957 in Kamerun, in Westafrika geboren. Er hat jahrelang an renommierten amerikanischen Universitäten gelehrt und arbeitet jetzt am Institute for Social and Economic Research in Johannesburg. Gestern hat Mbembe die Eröffnungsrede beim Festival "Theater der Welt" in Hamburg gehalten und kurz danach hatte ich Gelegenheit, mich mit ihm am Telefon zu unterhalten, und ich habe zunächst mit ihm noch mal kurz über den Terroranschlag von Manchester gesprochen. Wo doch jetzt mehr Menschen als je zuvor daran glauben, dass Religion, dass religiöser Extremismus die größte Bedrohung für freie demokratische Gesellschaften ist, habe ich ihn gefragt, ob er dieser These eigentlich grundsätzlich zustimmt.
Achille Mbembe: Dies ist eine der Bedrohungen für die freiheitlich-demokratische Ordnung, nicht die einzige. Viele andere kommen noch hinzu. Sie alle wirken dann in Kombination. Ich meine aber, eine der wesentlichen Bedrohungen für diese freiheitlich-demokratische Ordnung ist die Transformation des Kapitalismus insgesamt. Wir waren gewohnt anzunehmen, dass Demokratie und Kapitalismus miteinander verbunden seien. Nunmehr bin ich mir dessen nicht mehr so gewiss, weil wir eben sehen, wie der Finanzkapitalismus und die freiheitliche Demokratie auseinanderklaffen. Das halte ich für die größte Bedrohung der heutigen freiheitlich-demokratischen Ordnung. Dazu kommt noch die wachsende Ungleichheit, die wir über das letzte Jahrhundert sich haben entwickeln sehen.
Kassel: Wenn man das noch ein bisschen zuspitzen kann – kann man das noch ein bisschen zuspitzen?, das wäre die Frage –, würden Sie wirklich sagen, dass jetzt und gerade auch in Zukunft Kapitalismus und Demokratie eigentlich nicht mehr zusammenpassen?
Mbembe: Nicht der Kapitalismus im Allgemeinen, sondern der Finanzkapitalismus. Der hat dazu geführt, dass Produktion und Akkumulation von Reichtum sich abgekoppelt haben vom Wohlergehen und der Wohlfahrt der Menschen insgesamt. Reichtum wird abgezogen aus den allgemeinen Ressourcen und bedroht zunehmend fast vollständig die Existenzgrundlage breiter Bevölkerungskreise, insbesondere der ärmsten. Ein immer geringerer Anteil von Wohlhabenden beansprucht immer mehr an Reichtum für sich zulasten der Bevölkerung insgesamt.
Wenn es uns nicht gelingt, diese Entwicklungen einzudämmen, dann hat die freiheitliche Demokratie keine Zukunft. Darüber hinaus haben wir den Bereich verlassen, wo Vernunft, tatsachengestützte Überzeugungen und Fakten die entscheidenden Größen waren. Wir haben das aufgegeben zugunsten einer affektgesteuerten, mit Leidenschaften aufgeheizten emotionalen Atmosphäre, in der Fiktionen und Fakten zunehmend miteinander vermischt werden. Nun, in einer solchen Atmosphäre gibt es keine Verantwortlichkeit, keine Rechenschaftsablage mehr. Und ohne eine solche Rechenschaftsablage kann es keine Demokratie geben.
"Verarmung des Wirklichkeitssinnes"
Kassel: Aber wie konnte es so weit kommen, dass, was Sie gerade auch noch mal beschrieben haben, dass Vernunft, dass Fakten inzwischen weniger bedeuten als Gefühle, als Pseudoargumente? Wie konnte es überhaupt so weit kommen, in, wie ich glaube, ja relativ kurzer Zeit?
Mbembe: Das hat zu tun mit der paradoxen Funktionsweise, die die neuen computergestützten Medien und die digitale Technik in unseren Gesellschaften mit sich gebracht haben. Auf der einen Hand haben wir neue technische Möglichkeiten, die geradezu als Inbegriff der Rationalität erscheinen mögen – aber eine Rationalität, die hoch abstrakt ist und die somit an ihre Grenzen herangeführt wird. Dieses hohe Niveau der Abstraktion führt geradezu zur Auslöschung der Beweiskraft des Augenscheins.
Objektive Erkenntnis, objektives Wissen zählen nicht mehr so wie früher. Das führt andererseits zu einer Verarmung des Wirklichkeitssinnes bei vielen. Und deswegen sind so viele Menschen enttäuscht und desillusioniert, was die Macht der Vernunft angeht. Ich würde hinzufügen: Es sind die neuen Medien, die neuen technischen Möglichkeiten, die zu einer Zerstörung der Öffentlichkeit geführt haben. Öffentlichkeit hier verstanden in dem Sinne, wie etwa Habermas und andere das definiert haben.
An die Stelle der Öffentlichkeiten sind mittlerweile Binnengemeinden getreten, Empörungsgemeinschaften von Menschen, die genau dasselbe fühlen und denken; Argumente, rationales Für und Wider, Abwägen dergleichen, das alles verschwindet und wird preisgegeben zugunsten von Gefühlsräumen, wo wir alle nur das suchen, was wir alle ohnehin schon kennen.
Kassel: Aber hätten Sie gedacht vor, sagen wir vielleicht mal, zehn, 15, höchstens 20 Jahren, dass die Entwicklung genau so kommen würde? Viele haben doch geglaubt, dass gerade moderne Technik, dass gerade das Internet, die Zugänglichkeit dieser Technik auch für viele Menschen, dass das dazu beitragen würde, Wissen und Vernunft und Wissenschaft zu verbreiten, weil plötzlich Menschen Zugang zu Wissen haben, die es vorher nicht hatten!
Mbembe: Nein, nicht unbedingt. Wir hatten ja tatsächlich in der Vergangenheit die Hoffnung, dass durch diese technischen Möglichkeiten neue Freiheits- und Teilhabehorizonte sich eröffnen würden. Und zum Teil gehe ich davon aus, dass dieses Potential auch in der Tat vorhanden ist. Denken wir etwa an die Aufstandsbewegungen in den arabischen Ländern. Aber mittlerweile hat doch die vorhin beschriebene Logik der Unterhöhlung der Vernunft die Oberhand gewonnen.
"Eine grundlegende Kritik der Technik tut heute not"
Ich möchte jetzt hier nicht als Technikfeind wahrgenommen werden, aber eine grundlegende Kritik der Technik tut uns heute wirklich not, etwa in dem Sinne, wie das Heidegger Mitte des 20. Jahrhunderts auch gefordert hat. Wir treten ja in ein neues Technikzeitalter ein, wo Technik zunehmend automatisierte Lösungsansätze schafft, und das führt tatsächlich zu einer Art Tod der Vernunft. Die individuellen Entscheidungsspielräume werden eingeschränkt. Technologie beginnt immer mehr Entscheidungsmacht zu haben. Wir leben auf einer Welt und wir haben auch Chancen zu ergreifen, Chancen des Wissens.
Niemals war Wissen für uns so leicht verfügbar, ja man glaubt sogar, man könnte alles wissen. Aber das hat keineswegs verhindert, dass vielerorts die Unwissenheit geradezu gezüchtet und gepflegt wird. Wir haben also diese paradoxe Situation, dass die Erkenntnismöglichkeiten und auch die Wissensquellen so umfangreich sind wie nie zuvor, dass aber andererseits das blanke Unwissen fast überall die Oberhand zu gewinnen droht.
Kassel: Manche Menschen glauben, das sei jetzt nur eine Übergangsphase, wir müssten lernen, mit dem Internet und sozialen Medien so umzugehen, wie wir früher gelernt haben, mit Zeitungen und Nachrichten im Fernsehen umzugehen. Ist das eine Übergangsphase oder kann das alles gar nicht mehr gestoppt, gar zurückgedreht werden?
Mbembe: Nein, das muss nicht so schlecht bestellt bleiben, wie es jetzt scheint. Aber wir sind auf einer abschüssigen Bahn, wo sich die Dinge zunehmend beschleunigen. Aber jede Annahme, wir könnten in ein vorelektronisches Zeitalter zurückgehen, ist irreführend und führt sich selbst ad absurdum. Wir können und wir brauchen tatsächlich eine Neubelebung des kritischen Geistes, eine Kritik, die wichtiger ist heute, als sie es je zuvor war, damit wir Vernunft stärken können, die Unterscheidungsgabe. Und aus diesem Grunde müssen die gesamten humanistischen Fächer gestärkt werden.
Das, was von der Aufklärung noch nicht abgegolten ist, muss umgesetzt werden. Wir brauchen eine Fortsetzung des Projekts der Aufklärung. Dieses ist geradezu grundlegend für unsere Überlebensmöglichkeiten. Und deswegen sage ich eben, wir müssen Institutionen und Fächer stärken, die diese kritische Unterscheidungsfähigkeit fördern. Sie sind in unserer Gesellschaft jetzt wichtiger denn je zuvor.
"Das Wissen auf gerechte Weise miteinander teilen"
Kassel: Ein Mann mit Ihrem Lebenslauf kann das nicht nur aus beruflichen gründen beantworten. Sie sind in Kamerun in Westafrika geboren, haben viele, viele Jahre in den USA gelebt und gearbeitet, leben jetzt überwiegend in Südafrika, kennen fast die ganze Welt. Diese Probleme, die Sie beschrieben haben, haben die überall auf der Welt die gleichen Folgen? Und damit verbunden natürlich auch die Frage: Brauchen wir überall auf der Welt die gleichen Lösungen?
Mbembe: Nein, wir leben in einer vielfach gestaffelten, vielfach untergliederten Welt. Gleichwohl ist es eine Welt, ein Planet, so lange man sich nicht dieser Utopie einer Übersiedelung auf andere Planeten hingeben will, gilt Folgendes. Wir müssen das vorhandene Wissen und die vorhandenen Reichtümer auf gerechte Weise miteinander teilen. Auf nachhaltige Weise müssen wir alles, was uns zur Verfügung steht, miteinander gemeinsam gebrauchen. Jeder muss die Chance haben, einen gerechten Anteil zu erlangen. Und wir müssen auch die gewaltigen Umformungsmechanismen, die derzeit am Werke sin, erkennen und steuern, insbesondere die Umformung des Kapitalismus, der wir gerade beiwohnen, diese Beschleunigung der technischen Veränderungen.
Wir müssen die Militarisierung von fast allem, was uns alltäglich umgibt, erkennen. Wir müssen die Wanderungsbewegungen steuern und erkennen. Und wir müssen eben durch unsere Erfahrungen Möglichkeiten schaffen, dass alle Menschen teilhaben an dem, was verfügbar ist. Dabei ist Vielfalt das entscheidende Wort. Eines schickt sich nicht für alle. In der einen Welt gibt es vielfältige Möglichkeiten. Das bedeutet, dass Vielfalt im Grunde der Schlüssel zur Universalität ist. Dabei ist Vielfalt nicht mit Relativismus gleichzusetzen, nein, wir müssen diese Gestaltungsformen von Mal zu Mal neu ausverhandeln. Das ist die entscheidende Grundlage dafür, eine neue Ordnung zu schaffen.
Wir müssen aber unsere Ordnungsbestrebungen nicht nur auf uns Menschen beschränken, sondern wir müssen die nichtmenschliche Natur, die belebte oder unbelebte, mit einbeziehen. So wird Demokratie eine Chance des Fortbestandes, des Überlebens haben, wenn wir eben nicht nur uns Menschen betrachten, sondern auch die Wesen, die übermenschlich sein könnten, und auch das, was eben nicht menschlich ist, in der Vielfalt, in der Unterschiedlichkeit anerkennen.
Kassel: Das Gespräch mit dem Philosophen und Historiker Achille Mbembe habe ich gestern Nachmittag geführt, übersetzt hat es Johannes Hampel.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. DLFKultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.