Philosoph Julian Nida-Rümelin

Statt offener Grenzen - ein Marshall-Plan für Afrika!

Rettungsaktion von der Hilfsorganisation Sea-Watch, Location: 22 Meilen von Sabrata Donnerstag 06.04.2017, Mittelmeer Rescue operation from the Relief Organization Sea Watch Location 22 Miles from Sabrata Thursday 06 04 2017 Mediterranean
Rettungsaktion für Flüchtende auf dem Mittelmeer - der Philosoph Julian Nida-Rümelin fordert eine Bekämpfung von Fluchtursachen statt offener Grenzen © Imago | Rene Traut
Moderation: Susanne Führer |
Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, Tausende sterben jedes Jahr beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Ein politisches Großproblem, eine menschliche Tragödie, aber auch eine Herausforderung an das philosophische Denken.
Deutschlandfunk Kultur: Unser Thema in Tacheles heute sind Grenzen, und zwar die Grenzen zwischen Staaten, die verhindern sollen, dass Menschen aus dem Senegal oder aus Syrien einfach nach Deutschland oder Schweden zum Beispiel ziehen können in der Hoffnung auf Arbeit, auf Sicherheit und eine Zukunft. Es geht also um Migration und um Flüchtlinge und um die Frage, welche Verantwortung wir, die wir in Wohlstand und in Frieden leben, für diejenigen tragen, die dieses Glück nicht haben.
Damit tut sich ein Feld auf, das von der Politik bis zur Philosophie reicht, von Fragen nach Recht und Gesetz bis zu Fragen der Ethik. Und einer, der sich seit Jahren virtuos auf der Grenze von Philosophie und Politik bewegt, ist Julian Nida-Rümelin. Er ist Philosoph, lehrt auch als Universitätsprofessor in München und er war einmal Politiker, unter anderem Bundeskulturminister. Erstmal herzlich willkommen, Herr Nida-Rümelin.
Julian Nida-Rümelin: Guten Tag, Frau Führer.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben vor kurzem ein Buch veröffentlicht, "Über Grenzen denken" heißt es, in dem Sie eine "Ethik der Migration" entwerfen, so lautet also auch der Untertitel. Haben Sie eigentlich beim Schreiben dieses Buches jemals gedacht, Mensch, was habe ich für ein Glück, dass ich zu dieser Zeit in diesem Land geboren wurde und nicht im Irak, in Syrien oder Afghanistan?

Julian Nida-Rümelin: Also, nicht nur beim Schreiben dieses Buches, sondern ich habe mich vor Jahrzehnten schon engagiert für eine andere Weltpolitik, für gerechtere Verhältnisse. Das knüpft also da unmittelbar an, dieses Buch. Ich hatte den Eindruck, dass die gesamte Debatte entgleist ist.
Nachdem sich die Welt jahrzehntelang nicht mehr um das Elend und die Not gekümmert hat und stattdessen Welthandelsverträge beraten hat, glauben wir nun, mit offenen Grenzen das Weltelend mindern zu können. – Das ist eine völlige Fehleinschätzung auch der Größenordnung und der Herausforderung, vor der diese Welt steht.
Deutschlandfunk Kultur: Aber ich will erstmal auf den Punkt hinaus: Sie und ich, wir können doch dankbar sein für die Verhältnisse, in denen wir leben.

Mehr Engagement für die Entwicklung der ärmeren Regionen

Julian Nida-Rümelin: Ja, ich weiß gar nicht, ob man so dankbar sein sollte. Wir haben natürlich Glück, aber es ist nicht gerecht. Ich bin nicht dankbar, dass es so ungerecht zugeht.
Ich glaube, wir müssten uns ganz anders engagieren, für eine andere Entwicklung in den Regionen, die eben nicht zu den Reichtumsregionen der Welt gehören. Das tun wir nicht. Wir bauen auch nicht den entsprechenden öffentlichen Druck auf, wie das notwendig wäre, in den reichen Ländern dieses Globus – im Gegenteil: Es gibt gegenwärtig eine starke Rückwendung zu nationalen Interessen. Also, das alles macht mich nicht glücklich.
Im Gespräch: Der Philosoph Julian Nida-Rümelin
Im Gespräch: Der Philosoph Julian Nida-Rümelin© picture alliance / dpa / Matthias Balk
Deutschlandfunk Kultur: Nicht gerecht. Damit spielen Sie darauf an, dass es ja der Zufall ist oder – sagen wir es mal anders herum – dass wir wissen, es gibt viele Menschen, die mindestens genauso klug und begabt sind wie Sie und ich, die nicht die Chance haben, Abitur zu machen, zu studieren und in Frieden und Wohlstand zu leben.
Jetzt ist ja die spannende Frage: Wenn man jetzt sagt, das ist ungerecht, was schließt man daraus? Zu welchen Schlüssen kommt man? Der Schweizer Philosoph Andreas Cassee sagt ja: "Der Zufall der Geburt darf nicht über meine Chancen im Leben entscheiden." – Also: Grenzen auf. Sie haben es gerade erwähnt. Und Sie haben ja in der vergangenen Woche auf der phil.cologne ein Streitgespräch mit Andreas Cassee geführt. Ich war nicht dabei, aber nach dem, was ich gehört habe, konnte er Sie nicht überzeugen. – Warum nicht?
Julian Nida-Rümelin: Ja, ich ihn auch nicht. Wir haben gar nicht so unterschiedliche philosophische Orientierungen, das ist nicht so weit auseinander. Nun muss man wissen, das Buch von Cassee ist eine Doktorarbeit, was in der Philosophie diese Debatte sehr gut aufbereitet. Alle Argumente für Grenzen werden in diesem Buch vorgestellt und jeweils zurückgewiesen. Man hat ein bisschen den Eindruck, die Meinung steht vorab schon fest. Das ist eine ganz andere Literatur als das, was ich mir vorgenommen habe.

Die Debatte der letzten Jahre ist entgleist

Ich wollte keine innerphilosophische Debatte führen, sondern mit philosophischen und ethischen Argumenten Orientierung bieten für eine völlig entgleiste Debatte, die wir jetzt besonders in den letzten Jahren, aber auch schon mal in den 90er Jahren hatten – auf beiden Seiten ein hohes Maß an Ideologie und an Weigerung, überhaupt Fakten anzuerkennen und die eigenen Strategien zu Ende zu denken. Das ist der Versuch. Ich habe sogar das Gefühl, er ist insofern erfolgreich, als diejenigen, die sich damit auseinandersetzen, jedenfalls nachdenklich werden und sagen: Hoppla, so habe ich das ja noch gar nicht gesehen und jetzt wird das erstmal ein bisschen verständlicher, wie die Situation in Wirklichkeit ist. – Wir dürfen uns einfach keine Illusionen machen.
Deutschlandfunk Kultur: Okay. Aber dann kommen wir jetzt mal zurück zu dem Punkt: Es ist ungerecht, dass es Ihnen und mir so gut geht, und ungerecht, dass es zwei anderen vergleichbaren Personen, gleiches Lebensalter, was auch immer, im Senegal, in Afghanistan, in Syrien wesentlich schlechter geht.
Andreas Cassee sagt: Grenzen auf! Weil das ungerecht ist, soll jeder dahin gehen können, wo er möchte. Sie sagen: Nein!

Offene Grenzen nützen nur den Bessergestellten unter den Armen

Julian Nida-Rümelin: Ja, das ist die ganz falsche Reaktion darauf. Grenzen auf nützt denjenigen, denen es in diesen Regionen, in den Herkunftsregionen, in den ärmeren Ländern der Welt vergleichsweise gut geht. Wer 9.000 US-Dollar aufbringen kann, um von Ägypten nach Lampedusa zu kommen, übrigens auch unter hoher Gefahr für Leben und Gesundheit, der will natürlich ein anderes Leben als das, was er in Ägypten hat, auch oft von den Schleuser-Interessen befeuertes Weltbild, was den Realitäten in Europa nicht mehr gerecht wird bei 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Italien und Spanien und noch mehr in Griechenland. Da ist die Chance auf ein solches Leben nicht sehr gut.
Aber mal unabhängig davon: Wer 9.000 US-Dollar aufbringt, der gehört nicht zur unteren Milliarde der Weltbevölkerung, die von weniger als 1,25 US-Dollar Kaufkraft am Tag, das sind ja im Laufe des Jahres nur etwas über 400 Euro an Kaufkraft, die zur Verfügung steht – kann man sich vorstellen, dass irgendjemand aus dieser unteren Milliarde 10.000 Euro oder 7.000 Euro oder US-Dollar aufbringt, um einen solchen Transfer zu finanzieren? Das ist völlig illusorisch.
Das heißt, die auch nur vorübergehende, zeitweise oder stärkere Öffnung von Grenzen würde nicht denjenigen zugutekommen, die nun wirklich darauf angewiesen sind, dass geholfen wird, dass wir eine Weltsozialpolitik und Weltinnenpolitik betreiben, eine Welthandelspolitik, die dieser unteren Milliarde auf die Beine hilft.

Mehr als 700 Millionen Menschen sind unterernährt

Das sind doch unglaubliche Zustände. Das muss man sich mal vorstellen: Diese reiche Welt, die viel mehr Nahrungsmittel produziert als sie braucht, findet sich damit ab, dass mehr als 700 Millionen Menschen weltweit chronisch unterernährt sind. Das kann doch nicht wirklich akzeptiert werden. Wir können doch da nicht die Augen schließen und sagen: Ach, wir erlauben jetzt einigen Bessergestellten die Einwanderung und dann fühlen wir uns wieder gut und haben kein schlechtes Gewissen mehr.
Deutschlandfunk Kultur: Ja, wenn es nur um einige ginge, dann wäre ja die Debatte in den vergangenen Jahren, wie Sie vorhin richtig anmerkten, nicht so entgleist. Es geht ja doch um ziemlich viele.
Unterernährung ist ein globales Problem - offene Grenzen helfen jedoch nur den Bessergestellten unter den Armen, sagt Nida-Rümelin.
Unterernährung ist ein globales Problem - offene Grenzen helfen jedoch nur den Bessergestellten unter den Armen, sagt Nida-Rümelin.© picture alliance / dpa / Nic Bothma
Julian Nida-Rümelin: Nein, aus der Sicht der Welt geht es um winzige Bruchteile. Wir reden von einer, zwei, drei Milliarden. Das sind 3.000 Millionen Menschen, denen es elendig geht, die von zwei, drei oder dreieinhalb US-Dollar am Tag leben müssen, die natürlich sich ein besseres Leben auf der Welt vorstellen. Vergleichen Sie das mal mit der einen Million – Entschuldigung, das ist ja viel weniger als ein Tausendstel, 0,1 Prozent Einwanderung, die Deutschland zum Beispiel hatte im Jahr 2015. Wenn überhaupt man da von Tropfen auf den heißen Stein reden will, es ist noch weniger als ein Tropfen, es ist so gut wie nichts.
Das heißt, man muss einfach mal die quantitativen Dimensionen des Weltelends zur Kenntnis nehmen, bevor man solche absurden Vorstellungen hat, dass durch die Öffnung von Grenzen etwas Wesentliches dazu beigetragen werden könnte, dass das Weltelend vermindert wird.
Deutschlandfunk Kultur: Aber dieses Argument läuft doch darauf hinaus, dass Sie sagen: Offene Grenzen kommen nicht den Allerärmsten zugute, sondern nur den Armen. Deswegen sind sie nicht zu vertreten?

Die quantitativen Dimensionen des globalen Elends

Julian Nida-Rümelin: Es kommt auch den Armen nicht wirklich zugute. Es kommt den relativ besser Gestellten in dem subsaharischen Afrika zugute. Wir reden jetzt nicht von Bürgerkriegsflüchtlingen, nicht von Asylsuchenden, sondern von denjenigen, die sich ein besseres Leben in Reichtumsregionen erwarten. Man muss die Realitäten zur Kenntnis nehmen. Wir haben 800 Millionen Menschen in den Reichtumsregionen Nordamerikas und Europas. Das ist sehr üppig gerechnet. Da rechne ich jetzt Griechenland, Bulgarien, Süditalien ein in diese Reichtumsregion, darüber könnte man ja noch streiten. 800 Millionen!
Mal angenommen, wir bekommen es hin, dass die Menschen in diesen Regionen sagen: Okay, wir können 10 Prozent Zugang integrieren. Das ist zu machen. 10 Prozent ist viel mehr als die Einwanderung in Deutschland. Das war 1 Million von 80 Millionen. Das ist also etwas mehr als 1 Prozent. 10 Prozent ist gewaltig. Das wären also in Deutschland 8 Millionen Menschen.
Gerettete Flüchtlinge aus der Subsahara in Spanien - mit offenen Grenzen lässt sich das Problem der globalen Armut nicht lösen, sagt Julian Nida-Rümelin
Gerettete Flüchtlinge aus der Subsahara in Spanien - mit offenen Grenzen lässt sich das Problem der globalen Armut nicht lösen, sagt Julian Nida-Rümelin© EFE, Ricardo Garcia, dpa
Dann hätten wir in den Reichtumsregionen der Welt 80 Millionen, denen wir eine bessere Zukunft geben, indem sie migrieren, konfrontiert mit einem Weltelend von Milliarden! 80 Millionen, das ist ja ein winziger Bruchteil. Und selbst das würde vermutlich mit einer politischen Entwicklung in Deutschland einhergehen und in Frankreich und in Spanien und in England und in den USA einhergehen, die nicht mehr steuerbar ist. Wir würden wahrscheinlich stracks in eine zweite Phase mehr oder weniger faschistischer, rechtspopulistischer mindestens, faschistischer Regierungen hineingeraten. Vor dieser Strategie kann man nur warnen.
Deutschlandfunk Kultur: Nur, um das klarzustellen: Das eine ist, aus Sorge vor Rassisten dürfen wir uns nicht humanitär verhalten. Das können Sie, glaube ich, nicht wirklich meinen.
Julian Nida-Rümelin: Im Gegenteil.
Deutschlandfunk Kultur: Das zweite ist: Ich lebe ja in Berlin. Da gibt es sehr viele Obdachlose. Und wenn ich mir jetzt immer überlegen würde, ist das jetzt wirklich der Obdachlose, der am bedürftigsten von allen Obdachlosen ist, dann gebe ich ihm keinen Euro.
Julian Nida-Rümelin: Nein, nein, nein, nein. Verdrehen Sie jetzt nicht die Tatsachen. Es geht darum, dass wir…
Deutschlandfunk Kultur: Das war jetzt diese Geschichte: Dürfen wir 80 Millionen helfen, wenn wir den 2 Milliarden nicht helfen?

Offene Grenzen lindern das Weltelend nicht

Julian Nida-Rümelin: Nein, sondern es geht darum: Ist das eine vernünftige Strategie der Linderung des Weltelends? Die Europäische Union rechnet mit 250 000 Euro Integrationskosten pro Kopf. Deutschland hat einen Haushaltsüberschuss in der Höhe von mehreren zig Milliarden Euro. Wir geben mehr als 20 Milliarden auch für die Integrationskosten aus. Das ist auch sinnvoll. – Aber ich bitte Sie, das mal zu vergleichen. Wir sind nicht bereit gegenwärtig, 0,5 Prozent des Sozialprodukts zu investieren, um 700 Millionen Menschen, die chronisch unterernährt sind, zu Nahrungsmitteln zu verhelfen. Und dann reden wir über dieses Luxusproblem.
Verstehen Sie? Das ist die völlig falsche Strategie. Das grenzt geradezu an Realitätsverweigerung. Das ist sozusagen ein Teil der Ideologie geworden, zu sagen: Grenzen auf hilft. De facto hilft es nicht, weil es dem Weltelend nicht wirklich hilft. Im Gegensatz, es führt zum Beispiel auch dazu, dass in den Herkunftsregionen die Stärksten, die ökonomisch so wichtig sind, verloren gehen. Das heißt, wir haben dann noch das Problem des Brain-Drain. Die besser Ausgebildeten gehen dann mit ihrer Ausbildung nach Amerika oder nach Westeuropa.
Deutschlandfunk Kultur: Aber bleiben wir nochmal kurz bei dem ersten Argument. Das läuft dann darauf hinaus, dass Sie sagen: Dieses viele gute Geld ist woanders viel sinnvoller und segensreicher eingesetzt. – Habe ich Sie richtig verstanden?

Wir brauchen faire Welthandelsstrukturen

Julian Nida-Rümelin: Ja, das Geld auch. Ich gehe gar nicht so sehr, das ist in dem Buch ausführlich behandelt, auf Transfers ein, sondern auf eine Welthandels- und Weltsozialpolitik, eine faire Struktur des Welthandels. Die UNCTAD-Konferenzen hatten das zum Ziel. Das ist dann gestoppt worden durch den Wahlsieg von Thatcher und dann Reagan in den USA. Wir haben seitdem nur noch Welthandelsverträge zwischen den Reichtumsländern im Wesentlichen gehabt. Was wir wirklich brauchen, ist eine faire Entwicklungszusammenarbeit und faire Welthandelsstrukturen.
Welthandelsorganisation in Genf - es braucht einen faireren Welthandel, sagt Julian Nida-Rümelin
Welthandelsorganisation in Genf - es braucht einen faireren Welthandel, sagt Julian Nida-Rümelin© dpa/picture-alliance/Laurent Gillieron
Es gibt einen Vorschlag. Der ist konkret durchgerechnet. Das sind nicht philosophische Ideen, sondern das konkret von Sozialwissenschaftlern und Ökonomen alles durchgerechnet. Wenn wir 1 Prozent Rohstoffdividende zum Beispiel etablieren würden, wären wir schon bei über 300 Milliarden, die wir für die Entwicklungszusammenarbeit einsetzen könnten.
Dazu sind die reichen Länder nicht bereit. 1 Prozent ist ihnen schon zu viel. Und dann reden wir über Linderung des Weltelends auf einem Weg, der überhaupt nicht funktioniert? Das ist doch an Absurdität kaum zu überbieten.
Deutschlandfunk Kultur: Auf jeden Fall stellen Sie in diesem Buch für einen Philosophen ungewöhnlich viele Rechnungen an und kommen eben zu dem Schluss: Massenhafte Migration ist kein Weg, um die weltweite Armut zu bekämpfen. Und um das kurz zu ergänzen: Da sind Sie dann vollkommen d’accord auch mit dem britischen Ökonomen und Migrationsexperten Paul Collier, der ja die Bundesregierung, namentlich Angela Merkel, sehr kritisiert hat für ihre Grenzöffnung 2015, und jetzt daraufhin zum Berater der Bundesregierung ernannt worden ist.
Herr Nida-Rümelin, wir machen nochmal einen kurzen Exkurs zu den Flüchtlingen, also zu Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Da ist die Lage ja anders, wenn ich da richtig informiert bin. Da sind wir ja verpflichtet, diesen Menschen zu helfen.

Ethisch zur Hilfe verpflichtet

Julian Nida-Rümelin: Also, ich argumentiere dafür, dass wir verpflichtet sind. Natürlich kann auch Deutschland aus völkerrechtlichen Verträgen aussteigen. Es gibt die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951. Mir geht’s jetzt nicht um ein rechtliches Argument, sondern ein ethisches und moralisches. Ich bin der Auffassung, das ist ein vernünftiger Rahmen, nur ein Rahmen, der ausgefüllt werden muss. Da geht es um den Schutz, den die Weltgemeinschaft denjenigen bieten muss, die vor Krieg und Bürgerkrieg fliehen.
Die Logik dieser Genfer Flüchtlingskonvention besagt, dass die Weltgemeinschaft als Ganze die entsprechenden Lasten übernehmen sollte, und dass die Menschen für die Zeit dieses Konfliktes anständig, menschenwürdig – dazu gehören Schulen und Krankenhäuser – versorgt werden müssen, um dann, wenn der Bürgerkrieg oder der Krieg vorbei ist, wieder in ihre Ursprungsregionen zurückzukönnen und am Wiederaufbau mitzuarbeiten.

Hören Sie hier auch das Gespräch, das wir mit Julian Nida-Rümelin auf der Leipziger Buchmesse geführt haben:

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Es ist eigentlich unvernünftig, wenn auch als Notlösung vertretbar, dass Bürgerkriegs- und Kriegsflüchtlinge, zehntausende von Kilometern nach Nordamerika oder auch nach Schweden oder Deutschland transportiert werden. Übrigens auch noch mit Schleuserbanden das Ganze noch organisiert, was hochgefährlich ist und mit unwürdigen Zuständen auf der Flucht. Da hätten wir ganz anders reagieren sollen, nicht erst reagieren, wenn vor unserer Grenze etwas passiert, sondern vorher reagieren – nämlich einmal, wenn es um die Hilfe geht der Länder, die aufnehmen in der Region, Türkei, Libanon, Jordanien, eigentlich auch die Golfstaaten, und vor allem, wenn wir dann aufnehmen, auch die Flucht organisieren. Warum organisiert dann nicht Deutschland einen entsprechend menschenwürdigen Weg nach Deutschland? Wir haben das versäumt.
Deutschlandfunk Kultur: Das war dann aber eben auch extrem unvernünftig von Deutschland, Libanon und Jordanien im ausreichenden Maße zu unterstützen, oder?
Julian Nida-Rümelin: Sie nicht zu unterstützen, war sehr unvernünftig.
Deutschlandfunk Kultur: Ja, sie nicht zu unterstützen.

Deutschland hat sich europäisch unsolidarisch verhalten

Julian Nida-Rümelin: Sie nicht zu unterstützen, war sehr unvernünftig. Das ist das Vorspiel zu der sogenannten Flüchtlingskrise im September 2015, dass die Hilfszusagen in Milliardenhöhe nicht eingehalten wurden von den Ländern, die diese Hilfszusagen gegeben hatten. Auch Deutschland hatte sich übrigens gar nicht beteiligt an Hilfszusagen. Das ist ja fast noch schlimmer, als eine Hilfszusage zu geben und sie dann nicht einzuhalten. Deutschland hat sich die wirklich unglaubliche europäische Unsolidarität erlaubt, Italien gegenüber zu sagen: Euer Flüchtlingsproblem im Süden aus dem subsaharischen Afrika interessiert uns nicht. Es sind unterdessen über eine halbe Million Menschen, die übrigens fast keine Integrationsperspektive haben, die in Italien leben aus dem subsaharischen Afrika.
Flüchtlinge und Polizisten auf Lampedusa - Deutschland habe sich gegenüber Italien unsolidarisch verhalten, behauptet Julian Nida-Rümelin
Flüchtlinge und Polizisten auf Lampedusa - Deutschland habe sich gegenüber Italien unsolidarisch verhalten, behauptet Julian Nida-Rümelin© imago stock&people
Deutschland hat damals die kalte Schulter gezeigt und gesagt, wir helfen Italien nicht, obwohl Italien ein EU-Land ist und um Hilfe gebeten hat. Und wenige Zeit darauf appellieren wir an Europa, europäische Solidarität walten zu lassen, um unser Flüchtlingsproblem zu lösen. – Das ist schon einigermaßen zynisch.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Nida-Rümelin, lassen Sie uns mal diese Frage von einer anderen Warte betrachten, nämlich von der eines Betroffenen. Also, wir stellen uns vor: Ein junger Mann, ehrgeizig, begabt, voller Tatendrang, sieht, in seinem Land gibt es eine Arbeitslosigkeit von 50 Prozent. Seine Regierung ist korrupt. Die gesamte Elite ist korrupt. Er wird dort niemals etwas werden, weil er eben nur über Talent und Intelligenz verfügt. Ist es da nicht sein gutes Recht, sein Land zu verlassen, um sein Glück woanders zu versuchen?

Lob der strukturellen Rationalität

Julian Nida-Rümelin: Ja, es ist generell, das ist sogar völkerrechtlich anerkannt: Jeder hat das Recht, sein Land zu verlassen. Aber niemand hat das Recht, Einlass zu erzwingen in ein anderes Land. Das ist so ähnlich wie bei anderen Strukturen. Das ist ja der philosophische Hintergrund. Ich vertrete ja eine Theorie struktureller Rationalität. Ich betone die Strukturen, speziell auch die Kooperationsstrukturen, die so wichtig sind für unsere gesamte Praxis. Und da sind immer die Grenzen in der Hinsicht gegeben, dass die Menschen dann entscheiden, mit wem sie kooperieren.
Ich habe das Recht jemanden zu heiraten, aber nur, wenn die Person auch dem zustimmt, von mir geheiratet zu werden. Niemand hat ein Recht, in meiner Wohnung zu leben, außer ich entscheide, dass die Person bei mir wohnen darf. Trotzdem darf jeder natürlich überall wohnen. Das ist also gar kein Sonderfall im Völkerrecht, sondern das ist ganz normale Basis der Ethik und des Rechts, dass es Strukturen, Grenzen, Gemeinschaften gibt. Jeder Kaninchenzüchterverein entscheidet darüber, wer bei ihm beitritt und wer nicht beitritt. – Diese Strukturen müssen wir bewahren.
Die gewissermaßen libertäre, im strengen Sinne eigentlich anarchistische Position, das Beste ist, es gäbe keine Strukturen, keine Grenzen, keine Gemeinschaften, alles würde sich auflösen und verflüssigen, das ist in meinen Augen sowohl ethisch wie auch politisch keine vernünftige Sichtweise.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben aber vorhin den Brain-Drain angesprochen. Paul Collier sagt, laut Untersuchung, gerade kleine und besonders arme Länder leiden darunter, wenn die Studierten, die Ärzte, die Lehrer usw. das Land verlassen. Es gibt andere Fälle, China, Indien, die gewinnen. Da gibt’s also ein Brain-Gain sozusagen, wenn die Leute weggehen und wiederkommen mit ihrem Wissen.
Aber wenn wir jetzt nochmal an diesen jungen Mann denken, kann man ihm denn das verwehren, sein Glück woanders zu suchen unter Hinweis darauf, du musst aber deinem Land helfen?

Deutschland braucht ein Einwanderungsgesetz

Julian Nida-Rümelin: Also, ich habe das Gefühl, wir stecken in einer Schleife fest. Ich habe gesagt: Wir können keinen globalen Arbeitsmarkt haben, weil das mit staatlichen Strukturen nicht vereinbar wäre, weil damit alle Möglichkeiten der Gestaltung und der humanen Gestaltung der Weltverhältnisse unmöglich würden. Also ist dieses Thema, für mich jedenfalls, jetzt geklärt. Die Frage ist, wie wir damit umgehen.
Und ich habe schon vor zwanzig Jahren dafür plädiert, dass zum Beispiel Deutschland ein Einwanderungsgesetz macht. Nach dem Auslaufen der sogenannten Gastarbeiteranwerbung, die ja dann keine Gastarbeiter waren, sondern zum großen Teil bei uns heimisch wurden, in den 1970er Jahren, hat Deutschland kein Einwanderungsgesetz gemacht, sondern stattdessen zugelassen, dass ein Gutteil der dann erfolgenden Einwanderung über den dafür völlig ungeeigneten Art. 16 des Grundgesetzes erfolgte, nämlich das individuelle Asylrecht, was ich für ganz wichtig halte, was ich auch aufrechterhalten möchte. Aber das ist hochgradig dysfunktional, eine sehr niedrige Anerkennungsquote zum Beispiel für den gesamten Raum des subsaharischen Afrikas.
55 türkische Gastarbeiter kommen am 27.11.1961 auf dem Flughafen in Düsseldorf an. Sie sind die ersten von 400 Bergleuten aus der Türkei die sich für ein Jahr Arbeit in Deutschland verpflichtet haben.
1961 kommen die ersten türkischen Bergleute als Gastarbeiter nach Deutschland© picture-alliance / Wolfgang Hub
Es wäre viel vernünftiger gewesen, ein Einwanderungsgesetz zu machen, das sich allerdings nicht nur an den ökonomischen Interessen des aufnehmenden Landes orientiert, sondern auch an den ökonomischen und sozialen Interessen der Herkunftsregionen – Stichwort Brain-Drain. Das heißt, wenn die Menschen dort ausgebildet werden und die besseren auf diesem Wege ihrer Ausbildung dann regelmäßig in Westeuropa oder in Amerika arbeiten, dann muss dieses Land für diese Ausbildungsinvestitionen auch entsprechend entschädigt werden. Dann müssen Kompensationszahlungen erfolgen. Da gibt’s ganz konkrete durchgerechnete Modelle – von Gillian Brock zum Beispiel, einer Politikwissenschaftlerin und Philosophin.
Es kann nicht sein, dass wir davon profitieren, dass in Eritrea oder im Somaliland die Regierungen Anstrengungen für die Ausbildung übernehmen, oft sind die Hochqualifizierten aus Südamerika reihenweise in US-amerikanischen Kliniken. Das kann doch keine Entwicklungsperspektive sein.

Offene Grenzen führen zu mehr Toten im Mittelmeer

Deutschlandfunk Kultur: Also ein Plädoyer für ein Einwanderungsgesetz. Und ich nehme mal an, das wird dann auch die Antwort sein auf die Argumentation, es gibt ja Menschen, die sagen unter Verweis auf die vielen Fluchttoten, also, allein im vergangenen Jahr sind über 5.100 Menschen im Mittelmeer ertrunken, dass es allein schon deswegen moralisch geboten ist, die Grenzen zu öffnen, damit es eben nicht mehr zu diesen Toten kommt.
Julian Nida-Rümelin: Das Umgedrehte ist natürlich wahr: Wenn wir die Grenzen öffnen, würde es noch zu viel mehr Toten kommen. Wie denn sonst?
Deutschlandfunk Kultur: Aber es wäre dann nicht mehr nötig, sich illegal einschmuggeln zulassen.
Julian Nida-Rümelin: Also, ich weiß nicht, ob wir das irgendwann beenden wollen, das ist nicht sinnvoll, offene Grenzen zu fordern aus Gründen, die ich erwähnt habe. Wir haben gegenwärtig eine Situation, dass zum Beispiel durch das Öffnen der Grenzen, das Deutschland jedenfalls als Signal an einen Teil der Welt gesendet hat, sich Migrationsströme in Gang gesetzt haben. Die Hoffnung, in Europa eine Zukunft zu haben, bringt immer mehr Menschen, wahrscheinlich auch wieder in diesem Sommer, übers Mittelmeer in Seenot. Da riskieren Tausende ihr Leben, ohne eine vernünftige ökonomische Integrationsperspektive in Italien oder Spanien oder auch in Deutschland zu haben.
Glauben Sie mir: Das ist die falsche Form, dem Weltelend und der Weltungerechtigkeit zu begegnen. Auf diesem Weg kommt man nicht weiter – so schön das vielleicht für bestimmte Ideologien ist, dass man sagt, ach, ist doch ganz einfach. Wir öffnen unsere Grenzen und dann wird alles gut. Das wird nicht der Fall sein.
Deutschlandfunk Kultur: Der Druck auf jeden Fall ist nach wie vor enorm. Und er wird wahrscheinlich auch noch eine Weile anhalten, also der Migrationsdruck. Wenn wir jetzt nochmal zu unserem Ausgangspunkt zurückkommen, die Welt ist nicht gerecht, Kapital und Waren zirkulieren ziemlich frei um den Globus, aber die Menschen nicht...
Julian Nida-Rümelin: Zu frei.
Deutschlandfunk Kultur: …die werden mit Zäunen, Mauern und Stacheldraht daran gehindert. Und dann macht die EU zu den Türstehern an den Grenzen Menschen wie as-Sisi in Ägypten oder Erdogan in der Türkei. Das ist ja auch kein Zustand, mit dem wir uns zufrieden geben können.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Sendung "Anne Will".
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Sendung "Anne Will"© pa/dpa/Jensen
Julian Nida-Rümelin: Allerdings. Die Kanzlerin hat sogar sich verstiegen zu der These bei Anne Will damals, dass im 21. Jahrhundert keine Grenzen mehr gesichert werden könnten, und im selben Atemzug, das heißt, in den Wochen und Monaten darauf, sich mit vielen anderen dafür eingesetzt, dass die EU-Außengrenzen gesichert sind. Und mit einem hochproblematischen Pakt, de facto ist das ja ein Pakt zwischen Deutschland und der Türkei gewesen, die EU war natürlich Vertragspartner, wurden de facto durch diese zwei Schritte der Visegrad-Staaten, also die sogenannte Balkanroute, und durch den EU-Türkei-Pakt wurde dann der weitere Zustrom unterbunden oder jedenfalls auf ein winziges Minimum herunter gedrückt. Das heißt, diese Politik ist völlig inkohärent. Man kann nicht auf der einen Seite funktionierende Außengrenzen der EU fordern und auf der anderen Seite sagen, im 21. Jahrhundert sind Grenzen nicht zu sichern. Das ist das eine.
Das zweite ist: Die Grenzsicherung ist entgegen dem, was immer wieder zu hören ist, weder Stacheldraht, noch Mauer, nicht einmal Grenzkontrollen erforderlich, sondern lediglich eine funktionierende Staatlichkeit.
Deutschlandfunk Kultur: Das müssen Sie erläutern.

Funktionierende Staatlichkeit reicht aus

Julian Nida-Rümelin: Wer zu uns kommt, will doch in der Regel arbeiten. Ich glaube auch nicht, dass die Menschen hierher kommen, wie es von Rechts oft heißt, um unsere sozialen Sicherungssysteme auszunutzen. Das ist nur eine Notlösung. Das ist nicht das Ziel. Die Menschen kommen hierher, um zu arbeiten. Und arbeiten kann man nur mit einer Aufenthaltsgenehmigung und mit einer meldefähigen Adresse und mit einem Arbeitsvertrag. Und wenn man das nicht bekommt, weil man kein Aufenthaltsrecht hat, dann kann man auch nicht arbeiten.
US-Grenzfahnder an der Grenze zwischen den USA und Mexiko - die Staatlichkeit in den USA funktioniere nicht, sagt Julian Nida-Rümelin.
Die Grenze zwischen den USA und Mexiko - die Staatlichkeit in den USA funktioniere nicht, sagt Julian Nida-Rümelin.© picture alliance / dpa / Mike Nelson
Das heißt, funktionierende Staatlichkeit reicht aus. Und meine Vermutung ist, dass die sogenannten Sans-Papiers in Zig-Millionenhöhe in den südlichen Staaten der USA deswegen sind, einmal, weil die Staatlichkeit in den USA nicht gut funktioniert, aber vor allem, weil es ein massives Interesse der oberen Mittelschichten und der Oberschichten gibt an billigen haushaltsnahen Dienstleistungen. Wer mäht denn den Rasen für ein paar US-Dollar pro Stunde? Wer kümmert sich denn um die Kinder für ein paar US-Dollar pro Stunde? Das sind die Hispanics oder die aus Südamerika, die Sans-Papiers, die also ohne Papiere in den USA leben.
Deutschlandfunk Kultur: Aber im Falle Deutschlands heißt das, Sie setzen dann darauf, dass die Menschen freiwillig das Land wieder verlassen?
Julian Nida-Rümelin: Freiwillig oder nicht freiwillig. Es kann nicht sein, dass wir Asylverfahren durchführen, die am Ende zu einem gewissen, meistens sehr hohen Prozentsatz, je nach Herkunftsregion, dazu führen, dass es kein Asylrecht gibt und wir dann sagen: So, jetzt, tja, können wir es auch nicht ändern. Dann bleibt alles so, wie es ist. Und die Person kann dann trotzdem im Land bleiben. – Dann sollte man gar keine Asylverfahren mehr anstrengen.
Deutschlandfunk Kultur: In der vergangenen Woche hat ja in Berlin der G20-Afrika-Gipfel stattgefunden. Man muss sagen, offenbar auch aufgeschreckt durch die vielen, vielen jungen Menschen, die es eben von Afrika nach Europa zieht. Da ging es um die Forderung privater Investitionen in Afrika, die Weltbank war dabei, um Reformpartnerschaften und um vieles mehr. – Sind das erste Schritte auf dem richtigen Weg?

Ein Marshall-Plan für Afrika

Julian Nida-Rümelin: Also, die Aufmerksamkeit, die Afrika jetzt hat, das muss man wohl so sehen, hat mit dieser Sorge zu tun, dass die Migrationsströme aus dem subsaharischen Afrika massiv sein werden in der Zukunft, wenn sich nichts ändert. Insofern ist das wenigstens eine positive Entwicklung. Wir nehmen wahr, was auf dem Nachbarkontinent eigentlich los ist. Zur gleichen Zeit hat es Verhandlungen zwischen der EU und westafrikanischen Staaten gegeben, die völlig noch ohne jede Einsicht geprägt waren. Nigeria ist ausgestiegen aus diesen Verhandlungen, weil sie gesagt haben: Das ist keine Entwicklungsperspektive. Die EU drückt uns hier Normen auf, die wir nicht akzeptieren können.
Ich hoffe, dass da jetzt ein Paradigmenwechsel erfolgt. Es gibt diesen gern herangezogenen Fall des Marshall-Plans nach dem Zweiten Weltkrieg. Das wird von manchen belächelt. Ich würde sagen, genau das ist jetzt nötig, eine Entwicklungskooperation zwischen reichen und ärmeren Regionen, zumal Europa, EU zumal und subsaharisches Afrika, eine Entwicklungskooperation, die zu ganz bestimmten Kriterien stattfindet, die eine Perspektive vermittelt vor Ort. Und das geht nur mit einer ganz großen globalen Kraftanstrengung.
Kontinente, die so nahe beieinander sind und so sehr aufeinander angewiesen wie Afrika und Europa, sollten da vorangehen.
Deutschlandfunk Kultur: Nun sprechen wir ja gepflegt und sachlich seit einer halben Stunde über Migration, auch über Migranten und über Flüchtlinge. Nun wurde in der Vergangenheit, Sie haben schon eingangs darauf hingewiesen, die Debatte ja auch schon ganz anders geführt, also mit ganz starken rassistischen Tönen. Es gibt nach wie vor täglich rassistisch motivierte Angriffe auf Menschen, die hier Zuflucht suchen.
Und ich habe von manchen gehört, die Ihr Buch gelesen haben: Klar, der Nida-Rümelin ist kein Rassist, aber am Ende kommt er zu derselben Aussage wie die AfD – Grenzen zu, Fremde raus!

Zurück zur sachlichen Debatte

Julian Nida-Rümelin: Das ist wirklich ein Unfug. Also, ich habe jetzt mit diesem Buch einen Beitrag geleistet zur Versachlichung der Debatte. Das scheint zu wirken. Überall dort, wo ich die Gelegenheit hatte, diese Thesen vorzustellen, gab es jeweils eine ausgesprochen sachliche, sehr vernünftige Diskussion. Ich habe auch viele vernünftige Zuschriften bekommen. Aber es richtet sich in der Tat, das ist das Unbequeme, nicht nur an dieser Stellungnahme, auch an anderen Stellungnahmen von mir, ich habe was gegen Ideologie, und damit tritt man manchen Leuten auf den Schlips oder auf die Füße.
Julian Nida-Rümelin sieht sich nicht in der geistigen Nähe zur Alternative für Deutschland (AfD) - er fordert eine Versachlichung der Debatte jenseits der Ideologien.
Julian Nida-Rümelin sieht sich nicht in der geistigen Nähe zur Alternative für Deutschland (AfD) - er fordert eine Versachlichung der Debatte jenseits der Ideologien.© picture alliance / Hendrik Schmidt / dpa-Zentralbild / dpa
Das heißt, ich glaube, dass auf beiden Seiten fundamentale Fehleinschätzungen zugrunde lagen, dass die Stellungnahmen sehr ideologisch geprägt waren. Und es tut weh, wenn diese Ideologien dann konfrontiert mit Tatsachen und Logik gewissermaßen unter Druck geraten oder sich nicht aufrechterhalten lassen.
Das hat mit Rechts oder Links gar nichts zu tun. Ich könnte jetzt eine ganze Reihe von eher linken politischen Intellektuellen und politischen Philosophen weltweit nennen, die noch weit kritischer sind, wie zum Beispiel David Miller von Oxford oder Michael Walzer in den USA, die weit kritischer sind als ich. Ich sage ja, die Welt verträgt mehr Migration als wir heute haben. Sie verträgt mehr transkontinentale Migration als wir heute haben – aber politisch kontrolliert nach Kriterien der Humanität und der Gerechtigkeit und nicht in dem naiven Bild, wenn wir die Grenzen öffnen, dann beseitigen wir den Hunger und das Elend in der Dritten Welt.
Deutschlandfunk Kultur: Der Philosoph Julian Nida-Rümelin, ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch, Herr Nida-Rümelin.
Julian Nida-Rümelin: Ja, Danke Ihnen, Frau Führer.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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