Die Recherche-Reise nach Taiwan wurde unterstützt von der gemeinnützigen Organisation Internationale Journalisten-Programme e. V. (IJP).
Erstes Land in Asien mit "Ehe für alle"
2018 muss Taiwans Parlament handeln: Die Ehe darf nicht weiter auf Frau-Mann-Beziehungen beschränkt bleiben, hat das höchste Gericht 2017 entschieden. Der nächste Schritt zur Abgrenzung von Festland-China. Widerstand kommt aus der Diktatur-Generation.
Zehntausende Menschen tanzen und feiern Mitten in Taipeh. Die Straßen im Stadtzentrum sind voll zur Taiwan Pride Ende Oktober. Bei strahlendem Sonnenschein bewegen sich junge Männer mit nackten Oberkörpern zu wummernden Bässen auf bunt geschmückten Wagen.
Mehr als 100.000 Menschen aus der ganzen Welt sind gekommen um gemeinsam zu feiern und mehr Rechte für die LGBT-Gemeinschaft zu fordern, also für Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle. Alexis aus Amerika freut sich über die gute Stimmung, die vielen Fahnen und die verkleideten Besucher:
"It’s been really fun. Everyones waving flags and they’re dressed to the nines. I’m enjoying myself."
Taiwan ist liberaler als osteuropäische Länder
Die Taiwan Pride ist die größte ihrer Art in ganz Asien – wenn man einmal von Israel absieht. Viele Besucher können in ihrer Heimat oft nicht so unbeschwert und offen feiern. Vorurteile gegenüber Lesben und Schwulen sind in Asien noch immer weit verbreitet. Doch die Veranstaltung in Taipeh ist friedlich, man sieht kaum Ordner. Auch homophobe Demonstranten – wie sie beispielsweise in einigen osteuropäischen Ländern bei LGBT-Veranstaltungen immer wieder auftauchen - sind nicht zu sehen.
Was in Taipeh allerdings auffällt ist, dass man fast ausschließlich junge Leute sieht. Während beispielsweise bei LGBT-Veranstaltungen in New York oder Berlin auch ältere Teilnehmer und Zuschauer dazugehören, sind in Taipeh fast alle Zuschauer und Teilnehmer unter 30. So wie der 22-jährige Taiwaner Tony:
"Das ist eher was für aufgeschlossene Leute hier. Alle sind nackt und leidenschaftlich und voller Energie. Das ist vielleicht zu positiv für manche alten Leute. Es ist ja nicht so, dass wir sie hier nicht haben wollen. Aber junge Leute fühlen sich hier wohler."
Hotline für die LGBT-Gemeinschaft
Cheng Chiwei sitzt mit fünf anderen Leuten in einem vollgestopften Büro im 18. Stock eines Hochhauses im Taipeher Stadtteil Guting. Er und seine Kollegen der Tongzhi-Hotline beantworten seit rund 20 Jahren Fragen von Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen. Das chinesische Wort "Tongzhi" bedeutet wörtlich übersetzt "Genosse" – in Taiwan wird es aber mittlerweile hauptsächlich benutzt um die LGBT-Gemeinschaft zu beschreiben. Im vergangenen Jahr haben mehr als 1600 Menschen die Hotline angerufen. Mit ihrer Öffentlichkeits-Arbeit und den Info-Veranstaltungen an Schulen erreicht die Organisation zehntausende Menschen jedes Jahr.
Cheng Chiwei von der Hotline glaubt, dass gerne mehr ältere Taiwaner offen schwul oder lesbisch leben würden. Das Problem sieht er aber in traditionellen chinesischen Familienstrukturen, die in Taiwan noch immer vor allem in den älteren Generationen vorherrschen. So haben Eltern ihre Kinder häufig gezwungen, zu heiraten.
"Egal, was deine Eltern von dir verlangen, du musst es tun. So war das früher. Deswegen sind die meisten älteren Schwulen und Lesben in Taiwan in einer heterosexuellen Ehe. Vor zehn Jahren haben wir 20 ältere schwule Männer zu ihrer Lebensgeschichte befragt. Die meisten waren Vater, Ehemann oder Großvater. Für diese Leute ist es schwierig zur Parade zu kommen, sie haben Angst, dass ihre Familie herausfindet, dass sie schwul sind."
Gewalt gegen Homosexuelle kommt in Taiwan zwar äußerst selten vor. Aber noch immer gibt es Diskriminierung. "Zu viel", sagt der LGBT-Aktivist Cheng Chiwei. Auch viele jüngere Leute trauen sich ihm zufolge nicht, ihrer Familie zu erzählen, dass sie schwul oder lesbisch sind – auch in der Schule und am Arbeitsplatz verschweigen das viele lieber gegenüber Klassenkameraden oder Kollegen. Deswegen fordert er mehr Aufklärung. Seit 13 Jahren wird an Schulen in Taiwan laut Lehrplan im Unterricht über Geschlechterklischees und Geschlechterrollen gesprochen.
"Ich denke, dass Bildung sehr wichtig ist. Die meisten jüngeren Taiwaner sind in LGBT-Fragen viel aufgeschlossener. Wir von der Tongzhi-Hotline halten deswegen die Aufklärung über Geschlechterrollen- und klischess für viel wichtiger als die gleichgeschlechtliche Ehe. Homophobe Gruppierungen wissen auch, dass diese Art von Bildung die taiwanische Gesellschaft verändert. Deswegen fordern sie, dass die Aufklärung an den Schulen gestoppt wird."
Kritik an "Ehe für alle" von Christen und Älteren
In der Tat gibt es Proteste dagegen, dass Taiwan Homosexuellen immer mehr Rechte einräumt. Besonders laut sind christliche Gruppen, die zwar nur einen kleinen Teil der taiwanischen Gesellschaft ausmachen, aber relativ großen Einfluss haben.
Auch in den beiden großen Parteien, der konservativeren Oppositionspartei KMT und der liberaleren Regierungspartei DPP gibt es Gegner der gleichgeschlechtlichen Ehe. Beides – die Proteste in der Gesellschaft und die parteiinternen Streitigkeiten - sind wohl verantwortlich dafür, dass noch kein Gesetzentwurf zur "Ehe für alle" ins Parlament eingebracht worden ist.
Dabei ist das längst überfällig. Im vergangenen Jahr hat das Oberste Gericht Taiwans die Beschränkung der Ehe auf die Frau-Mann-Beziehung für nicht zulässig erklärt. Somit müsste Taiwan in diesem Jahr eigentlich das erste Land in Asien werden, dass die "Ehe für alle" möglich macht. Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen hat sich allerdings zuletzt nicht mehr zu dem Thema geäußert – obwohl sie sich in der Vergangenheit klar für die Öffnung der Ehe ausgesprochen hat.
Lesbisches Paar will in Taiwan heiraten
Von Taipeh aus fährt man mit dem Hochgeschwindigkeitszug Richtung Süden nur eine dreiviertel Stunde bis Taichung. Mit mehr als zwei Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt Taiwans.
In Taichung wohnen Su und ihre Frau Charlie. Die beiden sind 45 und 40 Jahre alt und verheiratet, allerdings wird ihre in Kanada geschlossene Ehe in Taiwan nicht anerkannt. Die beiden haben zwei Kinder, aber nicht durch Sex mit Männern. Sie sind das erste lesbische Paar, das in Taiwan Kinder durch künstliche Befruchtung bekommen hat. Durchgeführt wurde der Eingriff ebenfalls in Kanada.
Zu viel von ihren Privatleben will Su nicht preisgeben, deswegen lässt sie sich an ihrem Arbeitsplatz interviewen. Ihre beiden Kinder, Zwillingsgeschwister, sind acht Jahre alt und an diesem Morgen in der Schule.
"Alle Klassenkameraden und die Lehrer wissen Bescheid über unsere Familienverhältnisse und sie gehen alle ziemlich gut damit um. Unsere Kinder sind einzigartig und sehr aufgeschlossen, weil sie in einem bunten Umfeld aufgewachsen sind. Meine Tochter freundet sich mit Kindern an, mit denen sonst niemand befreunde sein will. Sie hat ein weiches Herz – genauso wie unser Junge."
Die beiden hoffen, dass sie bald noch einmal heiraten können - in Taiwan. Auch um ihr Leben hier rechtlich abzusichern.
"Wenn ich morgen bei einem Autounfall ums Leben kommen, gehören meine Kinder nicht meiner Frau. Obwohl sie die beiden großgezogen und sich jeden Tag um sie gekümmert hat. Es wird dann ein Verfahren geben, anhand dessen entschieden wird, wer die Kinder bekommt. Meine Frau hat kein Sorgerecht. Sie hat auch keine Besitzansprüche. Alles, was mir gehört, geht an meine Eltern, falls diese noch leben. Meine Frau, die 13 Jahre hart an meiner Seite gearbeitet hat, bekommt nichts. Deswegen ist es wichtig, dass wir hier heiraten können."
Trotzdem sind Su und Charlie froh, dass sie in Taiwan leben. Diskriminerung im Alltag haben sie nur wenig erfahren, sagt das offen lesbisch lebende Paar aus Taichung. Auch bei ihnen war der größte Schritt, es der eigenen Familie zu sagen, dass sie eine Frau lieben.
"Schwul oder lesbisch zu sein ist kein Problem in Taiwan – so lange es niemanden in meiner Familie betrifft. Das schwierigste ist, dass die Familie einen so akzeptiert wie man ist. Aber allen anderen Leuten ist das egal. Gerade für jüngere Leute unter 40 Jahren. Ich weiß nicht warum, aber 40 ist so eine Art magische Zahl, ob man Schwule und Lesben akzeptiert oder nicht."
Junge Generation ist liberaler
"Hallo Herr Eyssel, dann gehen wir doch mal in mein Büro."
Hua Yih-Fen ist Professorin für Geschichte an der Nationaluniversität, der NTU in Taipeh. Die Hochschule gilt als die rennomierteste Universität Taiwans. Hua Yih-Fen hat unter anderem in Deutschland studiert und gelebt. Ihrer Ansicht nach ist Taiwan seit dem Ende der Diktatur Ende der 1980er Jahre in einem ständigen Prozess - hin zu einer offeneren, demokratischeren Gesellschaft. Dass die jüngeren Leute liberaler sind als die älteren Taiwaner, sei eine logische Kosequenz dieser gesellschaftlichen Veränderung – denn sie haben den Großteil ihres Erwachsenenlebens in einer Demokratie verbracht.
"Die Generation, die nach 1987 geboren ist, ist sich dessen bewusst, dass sie ganz anders ist als die ältere Generation. Die Leute, die jetzt so um die 30 sind, sie haben in einer ganz anderen Gesellschaft gelebt. Dieser Generationsunterschied ist sehr bemerkenswert. Diese jüngere Generation hat Demokratie wirklich sehr ernst wahrgenommen."
Liberalität als Unterschied zum autokratischen Festland-China
Dass Taiwan insgesamt eine demokratischere und offenere Gesellschaft ist, als die meisten anderen asiatische Länder begründet Hua Yih-Fen unter anderem damit, dass sich die Menschen selbst aus der Diktatur befreit haben. Die Taiwaner wüssten, was sie an den erkämpften Werten haben. Auch das ständige Dasein im Schatten Festland-Chinas spielt ihren Worten zufolge eine Rolle. Wirtschaftlich und militärisch ist das kleine Taiwan der autokratisch regierten Volksrepublik klar unterlegen. Wodurch sich Taiwan aber unterscheiden könne, so die Historikerin, sei durch die Werte einer liberalen Demokratie: Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit - was in Asien eher selten ist.
"Daher ist es für uns sehr wichtig, eine stabile Demokratie aufzubauen. Diese Demokratie ist von uns selbst gewollt und wir wollen diese Stabilität sehr gut erhalten. Deswegen bemühen wir uns sehr für diese lange bessere Entwicklung."
All dessen scheint sich auch die Regierung in Taipeh durchaus bewusst zu sein. Auch wenn momentan die Ehe für Alle noch auf die Verabschiedung im Parlament wartet – es ist wohl nur eine Frage der nächsten Monate. Denn der Staat ist in Taiwan oft schneller als die Gesellschaft, sagt Cheng Chiwei von der LGBT-Organisation Tongzhi-Hotline. Es liege einfach im Regierungsinteresse progressiv zu sein, um international Anerkennung zu gewinnen.
"Die Weltgemeinschaft akzeptiert uns ja nicht als Land. Wir sind kein Mitglied der Vereinten Nationen. Deswegen versucht unsere Regierung immer fortschrittlich zu sein. Dann kann man zu den anderen sagen: seht her, wir sind doch ein liberales Land. Deswegen haben wir zum Beispiel moderne Gleichstellungsgesetze. Wenn man aber LGBT-Leute fragt, fühlen sich die meisten am Arbeitsplatz oder in der Schule nicht hundertprozentig wohl – weil sie schikaniert oder diskriminiert werden. Na klar, wir sind liberaler als andere in Asien. Das allein reicht aber noch nicht."