Rainer Merkel: Stadt ohne Gott
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018
346 Seiten, 21 Euro
Wohnt die Liebe im Paris des Ostens?
Beirut ist die Kulisse des neuen Romans von Rainer Merkel. Die Helden des Romans, alle in den Zwanzigern, versuchen in der von Konflikten gezeichneten Stadt, ihre Träume zu leben. Und verlieren sich dabei oft in ihren Gefühlen.
Es gibt in Teilen der Literaturkritik bekanntlich die Neigung, von der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur immer mal wieder mehr "Welthaltigkeit" einzufordern, was immer das im einzelnen bedeuten mag. Oder auch befriedigt festzustellen, dass diese Forderung zunehmend erfüllt werde, nicht zuletzt durch die immer stärker werdende Fraktion von Autoren und Autorinnen, die oder deren Eltern nicht in Deutschland geboren wurden.
Zu einem genuin "welthaltigen", in jedem Fall in der Welt umherstreifenden und aus diesem Umherstreifen seine Stoffe beziehenden Autor hat sich der 1964 in Köln geborene und in Berlin lebende Schriftsteller Rainer Merkel entwickelt. Eine Schreibkrise hatte ihn Ende der nuller Jahre bewogen, in Liberias Hauptstadt Monrovia dabei mitzuhelfen, das in diesem Land erste psychiatrische Krankenhaus einzurichten. Weitere Reisen und Kontakte führten ihn zudem in den Kosovo und nach Afghanistan, und nach Überwindung der Schreibkrise veröffentlichte Merkel erst das erzählend-essayistische Buch "Das Unglück der Anderen", eine kritische Auseinandersetzung mit der Szene der Hilfsorganisationen und NGOS, und danach den schön erfahrungsgesättigten Jugend- und Liberia-Roman "Bo".
Verlorene Helden auf Sinnsuche
Inzwischen scheint Merkel sich in anderen Teilen der Welt umgetan zu haben. "Stadt ohne Gott" heißt sein neuer Roman, womit Beirut gemeint ist, die von einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg zerrissene, inzwischen aber halbwegs ruhige Hauptstadt des Libanons. Für einen der drei Helden des Romans, dem aus Syrien und einer christlichen Familie stammenden Daoud, kommt die Vorstellung, in einer Stadt ohne Gott zu leben, fast wie eine Befreiung vor. Zu sehr hat er noch die Stimmen seines Vaters und seiner Mutter im Ohr, dass eine Stadt ohne Gott keine Stadt sein könne, "die existierte, oder in der man leben konnte." Nur "Verlorene" würden hier leben können, so die Mutter, "aber es waren Verlorene", denkt wiederum Daoud, "die über die ganze Welt verteilt waren und zu diesen Verlorenen zählte er sich selbst auch".
Weitere verlorene Helden in Merkels Roman sind der junge Libanese Rafik, der schiitischen Glaubens ist und Modemacher werden will (aber momentan noch in einer Art Abstellkammer eines Restaurants wohnt) und die Deutsche Rosie Solbakken, deren Vater Däne ist und die in Beirut sich selbst sucht und aus dem Unglück der anderen zumindest ein bisschen Glück machen möchte. Rosie und Daoud verlieben sich in einander, obwohl Rosie ihn nicht begehrt, sondern ihren eigentlichen Liebhaber Thierry, der wiederum in Syrien kämpft und dessen Tagebuch sie liest. Eines Tages verschwindet sie, einfach so, nach einer Fahrt in die Bekaa-Ebene, und Rafik und Daoud machen sich zusammen mit ihrem aus Paris angereisten Vater Morton auf die Suche nach ihr.
"Ein Tanz, bei dem sie ständig stolperten"
Tatsächlich lebt "Stadt ohne Gott" aber weniger von der Handlung, sondern den Reflexionen und Erinnerungen seiner drei Helden, den Gedanken über ihr Leben und ihre Lektüren. Dabei hat Merkels oft etwas Verhangenes, so als läge ein Schleier über den Figuren, als würde ihre auch generationstypische Verlorenheit geradezu sprichwörtlich sein. Daoud schreibt an seine Mutter Mails, er ist überhaupt ganz bei seiner Familie in Aleppo, die dort zu den Eingeschlossenen und Beschossenen gehören; Rosie liest das Tagebuch Thierrys; und Rafik träumt immer wieder seinen Modemachertraum.
Gekonnt versteht es Merkel, die Gegenwart und die Vergangenheit seiner Protagonisten zu vermischen; er erzählt zudem auf zwei Zeitebenen, einmal des Jahres 2015, einmal 2017, da sich zum Beispiel Daoud schon in Berlin befindet. Und immer wieder flackern die problematischen Verhältnisse in Beirut sowie der Bürgerkrieg in Syrien im Hintergrund der Erzählung mit auf, und wie all das gerade auch das Leben von Rosie, Daoud und Rafik und einigen ihren Freunden beeinflusst.
Trotz der schwierigen Alltagsumstände versuchen sie ein ihrem Alter gemäßes Leben zu führen – sie alle sind so um die Anfang, Ende zwanzig – ziehen durch die Bars und an die Strände Beiruts, cruisen durchs Land. Daouds Gedanke über seine Beziehung zu Rosie passt gut auf sie alle: "Es war wie ein Tanz. Ein Tanz, bei dem sie ständig stolperten." Ihre Welt jedenfalls reduziert sich zuweilen vor allem darauf, Liebe zu geben und Liebe zu empfangen, was schwer genug ist – und letztendlich universell.