Ralf Rothmann: Der Gott jenes Sommers
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018
254 Seiten, 22 Euro
Eine Kindheit im Nachkriegsdeutschland
Zurzeit sind etliche Erzählungen über das Kriegsende im deutschen Hinterland auf dem Buchmarkt. Auch Ralf Rothmanns neuer Roman "Der Gott jenes Sommers" schildert die damalige Zeit, allerdings aus Kinderperspektive.
Vor drei Jahren erzählte Ralf Rothmann in seinem viel gelobten und viel übersetzten Roman "Im Frühling sterben" vom tragischen Fronteinsatz zweier siebzehnjähriger Jungen aus Schleswig, die in den letzten Kriegsmonaten 1945 von der Waffen-SS zwangsrekrutiert und in einen tödlichen Konflikt getrieben wurden.
Dazu ist Rothmanns neuer Roman "Der Gott jenes Sommers" eine Art Spin-off – das zivile Gegenstück zu jenem Soldaten- und Front-Roman. Erzählt werden nun die letzten Kriegsmonate 1945 im bombensicheren Hinterland und aus der Sicht des zwölfjährigen Mädchens Luisa, das mit Mutter und Schwester aus dem brennenden Kiel geflohen ist und in ebenjenem Schleswiger Gutshof Zuflucht findet, in dem die beiden Freunde aus dem Vorgänger-Roman vor ihrem Kriegseinsatz als Melker arbeiteten. Einer von ihnen, der sanfte und hübsche Melker Walter, hat nun einen Gastauftritt im neuen Roman: Die kleine Luisa verliebt sich in ihn.
Das Kriegsende aus Sicht eines jungen Mädchens
Rothmanns Roman gehört also zu den zahlreichen Erzählungen über das Kriegsende im Hinterland, die derzeit en vogue sind – von Karl Heinz Bohrers "Granatsplitter" bis zu Hans Pleschinskis "Wiesenstein" und Arno Geigers "Unter der Drachenwand". Was unterscheidet ihn?
Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal ist die Kinder-Perspektive. Einerseits eröffnet das Leben auf dem Gutshof für Luisa einen Raum der Freiheit: keine Schule, dafür unendlich viel Zeit für die Leseratte, sich durch die Bibliothek zu schmökern, von Karl May bis Andreas Gryphius, was sie innerhalb dieses Roman-Kosmos einer fortschreitenden Barbarei als Bewahrerin der Kultur ausweist. Dazu das Erlebnis der ersten Liebe und deren symbolträchtiger Höhepunkt, eine Geburt inmitten von Tod und Zerstörung: Gemeinsam mit dem Melker Walter hilft Luisa im Stall, ein Stierkalb auf die Welt zu bringen.
Ein Nazi aus dem Stereotypen-Handbuch
Sie sieht, wie zwangssäkularisierte Nonnen im nahen Kloster fürchterlich verwundete Soldaten pflegen. Sie erlebt den Zustrom verstörter Flüchtlinge aus dem Osten und beobachtet die Enthemmtheit der Nazi-Bonzen und die moralische Auflösung ihrer Familie im Chaos des Untergangs – die hilflose Mutter, den bedenkenlosen Vater, die nuttige Schwester, die nach jedem Mann giert, an den sie sich hängen kann.
Hauptbösewicht ist Luisas Schwager, ein SS-Hauptsturmführer wie aus dem Stereotypen-Handbuch für Roman-Nazis. Der Höhepunkt seiner Untaten ist die Schändung Luisas. Nach Kriegsende will Luisa nur noch Nonne werden. "Ich hab alles erlebt", sagt die Dreizehnjährige.
Pseudo-barocke Einsprengsel im Darstellungsrealismus
Und das ist das eine Problem dieses Romans: die Unglaubwürdigkeit dieser altklugen, unkindlichen Kinderfigur, die von Rothmann mit dem angeekelten Weltwissen einer Erwachsenen und zugleich einer heiligmäßigen Kinderunschuld ausgestattet wird.
Das andere Problem ist die zweite Erzählebene, die Rothmann zwecks literarischer Veredelung einführt: Er sprenkelt Bruchstücke einer fiktiven Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg ein, geschrieben im pseudo-barocken Deutsch eines erfundenen Chronisten namens Bredelin Merxheim. Doch statt die Allgemeingültigkeit von Rothmanns Kriegserzählung zu beglaubigen, wirken diese Einsprengsel nur wie eine entbehrliche Stilübung inmitten eines Darstellungsrealismus, der uns nichts über das Weltkriegsende mitteilt, das wir nicht schon wüssten.