Reflexionen eines kulturhungrigen Weltenbummlers
Der 1933 in Mexiko geborene Autor, Literaturprofessor und Diplomat Sergio Pitol hat 28 Jahre in Europa gelebt. In "Die Kunst der Flucht" blickt er zurück auf seine zahllosen Reisen in die europäischen Kulturmetropolen und befasst er sich mit dem, was für ihn über allen anderen menschlichen Schaffensformen steht: nämlich Literatur und Kunst.
"Man ist, wie ich zu behaupten wage, die Bücher, die man gelesen hat, die Bilder, die man gesehen hat, die Musik, die man gehört und vergessen hat, die Straßen, durch die man gelaufen ist", schreibt der mexikanische Schriftsteller Sergio Pitol in diesem dichten und ausufernden Buch, das man keinem Genre so recht zuordnen kann. Der Satz deutet es an: Wer auf diese Weise auf sein Leben zurückblickt, hat natürlich Autobiographisches im Sinn. Und doch unternimmt Pitol nur gelegentliche Exkursionen zu seiner Herkunft, seinem Familienleben, seiner eigentlichen Privatsphäre. Denn was in diesem memorierenden Großessay recht eigentlich zählt, ist die geistige Autobiographie ihres Verfassers.
Natürlich ist die verbunden mit seinen jeweiligen Lebensumständen, insbesondere mit seinen wechselnden Wohnorten. Nach Kindheit und Jugend (einschließlich des Studiums der Rechts- und Literaturwissenschaft) in Mexiko fährt der junge Literat nach Europa zu einer Bildungsreise, die einige Monate dauern sollte. Es wurden dann 28 Jahre daraus, die er zwischen Barcelona und Rom, Warschau, Moskau und Prag verbrachte, zunächst überwiegend als literarischer Übersetzer (u. a. Joseph Conrad aus dem Englischen, Witold Gombrowicz aus dem Polnischen) für spanische und mexikanische Verlage, später als Diplomat. Allzu viele Informationen und Reflexionen über die Zustände in den jeweiligen Ländern sollte man nicht erwarten, Atmosphärisches fließt aber durchaus ein.
Denn Pitol bleibt konzentriert auf das, was ihm das Wichtigste ist, was er als seine eigentliche Bestimmung und Obsession eingesteht: Literatur und Kunst. Ein überaus kulturhungriger Weltenbummler teilt sich da mit, der seine erste Maxime ganz klar formuliert: "Das Kunstwerk bekundet die beste Energie, die der Mensch hervorbringen kann, und das tut es ein für allemal." Alle anderen Bekundungen menschlichen Tuns, zum Beispiel politische, verblassen vor dem Hintergrund eines Bauwerks von Palladio in Venedig, eines Gemäldes von Max Beckmann in New York, eines Romans von Jorge Luis Borges. Und so beschäftigen ihn in erster Linie die "Geheimnisse" und Wirkungsweisen der Kunst. Oft auf eine unkonventionelle, originelle Weise, die geradewegs zum eigenen Schreiben führt: Max Beckmanns Triptychon "Die Abfahrt" etwa fällt ihm auf durch die Ansammlung ungeheuerlicher Szenen, die keine Geschichte ergeben, sondern ein verrätseltes Feuerwerk aus verstörenden einzelnen Bildmetaphern. Und er sinniert darüber, wie ein Geflecht aus solchen auf den ersten Blick "miteinander unvereinbaren Vorfällen" in einem Roman ausgebreitet werden könnte, auf dass der Leser gezwungen sei, seine eigenen Sinnzusammenhänge, seine eigene Geschichte aus diesen Elementen zu konstruieren.
Seine essayistischen Auseinandersetzungen fließen zum einen stark in die autobiographischen Schilderungen ein, zum anderen widmet er einen eigenständigen Teil des Buches Autoren, die seine dauerhaften Begleiter geworden sind: Thomas Mann und Anton Tschechow, Jaroslav Hasek und Pérez Galdós, Franz Kafka, James Joyce oder die russische formale Schule spielen eine enorme Rolle dabei.
Das Erfrischende an diesem Band ist, dass trotz des gewaltigen kulturellen Gepäcks, das der Autor hier ausbreitet, keine akademische Steifheit den Text überformt. Pitol folgt dem Lustprinzip und spricht an einer Stelle vom "hedonistischen Charakter" seiner Lektüre, und dieser Hedonismus überträgt sich sehr wohl auf den Leser: Dieses Buch wirkt wie ein anregendes Bad im wohltemperierten, dabei bewegten Meer der Weltkultur.
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Sergio Pitol: Die Kunst der Flucht
Aus dem mexikanischen Spanisch von Ulrich Kunzmann
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2007
380 Seiten, 26,80 Euro
Natürlich ist die verbunden mit seinen jeweiligen Lebensumständen, insbesondere mit seinen wechselnden Wohnorten. Nach Kindheit und Jugend (einschließlich des Studiums der Rechts- und Literaturwissenschaft) in Mexiko fährt der junge Literat nach Europa zu einer Bildungsreise, die einige Monate dauern sollte. Es wurden dann 28 Jahre daraus, die er zwischen Barcelona und Rom, Warschau, Moskau und Prag verbrachte, zunächst überwiegend als literarischer Übersetzer (u. a. Joseph Conrad aus dem Englischen, Witold Gombrowicz aus dem Polnischen) für spanische und mexikanische Verlage, später als Diplomat. Allzu viele Informationen und Reflexionen über die Zustände in den jeweiligen Ländern sollte man nicht erwarten, Atmosphärisches fließt aber durchaus ein.
Denn Pitol bleibt konzentriert auf das, was ihm das Wichtigste ist, was er als seine eigentliche Bestimmung und Obsession eingesteht: Literatur und Kunst. Ein überaus kulturhungriger Weltenbummler teilt sich da mit, der seine erste Maxime ganz klar formuliert: "Das Kunstwerk bekundet die beste Energie, die der Mensch hervorbringen kann, und das tut es ein für allemal." Alle anderen Bekundungen menschlichen Tuns, zum Beispiel politische, verblassen vor dem Hintergrund eines Bauwerks von Palladio in Venedig, eines Gemäldes von Max Beckmann in New York, eines Romans von Jorge Luis Borges. Und so beschäftigen ihn in erster Linie die "Geheimnisse" und Wirkungsweisen der Kunst. Oft auf eine unkonventionelle, originelle Weise, die geradewegs zum eigenen Schreiben führt: Max Beckmanns Triptychon "Die Abfahrt" etwa fällt ihm auf durch die Ansammlung ungeheuerlicher Szenen, die keine Geschichte ergeben, sondern ein verrätseltes Feuerwerk aus verstörenden einzelnen Bildmetaphern. Und er sinniert darüber, wie ein Geflecht aus solchen auf den ersten Blick "miteinander unvereinbaren Vorfällen" in einem Roman ausgebreitet werden könnte, auf dass der Leser gezwungen sei, seine eigenen Sinnzusammenhänge, seine eigene Geschichte aus diesen Elementen zu konstruieren.
Seine essayistischen Auseinandersetzungen fließen zum einen stark in die autobiographischen Schilderungen ein, zum anderen widmet er einen eigenständigen Teil des Buches Autoren, die seine dauerhaften Begleiter geworden sind: Thomas Mann und Anton Tschechow, Jaroslav Hasek und Pérez Galdós, Franz Kafka, James Joyce oder die russische formale Schule spielen eine enorme Rolle dabei.
Das Erfrischende an diesem Band ist, dass trotz des gewaltigen kulturellen Gepäcks, das der Autor hier ausbreitet, keine akademische Steifheit den Text überformt. Pitol folgt dem Lustprinzip und spricht an einer Stelle vom "hedonistischen Charakter" seiner Lektüre, und dieser Hedonismus überträgt sich sehr wohl auf den Leser: Dieses Buch wirkt wie ein anregendes Bad im wohltemperierten, dabei bewegten Meer der Weltkultur.
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Sergio Pitol: Die Kunst der Flucht
Aus dem mexikanischen Spanisch von Ulrich Kunzmann
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2007
380 Seiten, 26,80 Euro