Regina Nössler: "Schleierwolken"
Konkursbuch Verlag, Tübingen 2017
314 Seiten, 12,00 Euro
Grausam, gemein und fies
Elisabeth führt ein wenig sensationelles Leben in Berlin. Bis sich Unheil andeutet. Hat sie tatsächlich einen Mord mit angesehen? Hat die Frau, die sie für einen One Night Stand mitgenommen hatte, tatsächlich ihren Laptop geklaut? Selten wurde subtiler Horror so gekonnt erzählt wie in Regina Nösslers "Schleierwolken".
Schlimme Dinge können ganz banal daherkommen. Elisabeth Ebel führt ein wenig sensationelles Leben in Berlin. Sie arbeitet für ein Schreibbüro als Korrektorin, obwohl sie ein abgeschlossenes Studium hat. Ihre verwitwete Mutter in Wattenscheid triggert ihr schlechtes Gewissen, nörgelt und meckert, zwingt ihre Tochter aber alle paar Wochen zu unerquicklichen Besuchen. Elisabeth hatte die eine oder andere gescheiterte Beziehung, hat sich aber ansonsten im stillen Nicht-Glück ganz gut einrichtet. Meint sie. Bis sie sich plötzlich verfolgt fühlt. Unheil deutet sich an, bleibt aber zunächst unscharf.
Was ist damals wirklich in der Gartenlaube passiert?
Hat sie tatsächlich einen Mord mit angesehen? Wollte tatsächlich jemand sie vor den Bus schubsen? Hat die Frau, die sie für einen One Night Stand mitgenommen hatte, tatsächlich später ihren Laptop und eine Kamera aus ihrer Wohnung geklaut? Was ist, damals in ihrer Jugend, in der Gartenlaube wirklich passiert? In Elisabeth, die Weltmeisterin im Verdrängen und Vergessen, steigen Erinnerungen hoch, die sie eigentlich nicht haben will. Wie öde und fahl ihre Kindheit und Jugend im öden und fahlen Wattenscheid war, was es mit einer Affäre mit der Gattin eines Kunden auf sich hatte, wie sie ihre greisen Mutter beim Baden beinahe hätte ertrinken lassen. Schleierwolken überziehen die Welt von Elisabeth.
Die anscheinende Kleinteiligkeit der Erzählung ist kompositorisches Prinzip. Nösslers Alltagssituationen, die menschlichen Interaktionen, das Innenleben ihrer Figuren sind genaueste Vignetten, sie entwerfen nichts anderes als den Schrecken des Normalen, des Banalen, des pointiert Menschlichen. Sie befragt schon fast inquisitorisch Alltagserfahrungen auf ihre toxischen Implikationen – und sie wird in erschreckendem Masse fündig.
Nichts ist sensationell, aber vieles grausam
Selten wurde subtiler Horror so leise und so gekonnt erzählt. Nichts ist schrill, nichts sensationell, aber vieles ist grausam, gemein und entschieden fies. Nössler seziert Unglück in allen grauen Nuancen mit virtuoser Präzision, flicht Katastrophen und Morde beiläufig ein, nie larmoyant, nie von der Schwere des Erzählten erdrückt, nie gefühlig.
Sie schafft es, aus einem liegengebliebenen ICE ein Schreckenskabinett zu machen und die Wohnung eines sozio- und agoraphoben Mannes wird nur durch dichte Beschreibung zum House of Terror, ohne dass Nössler je zu Schock-Elementen greift. Im Gegenteil, die im Grunde tieftraurige Erzählung von Außenseitertum, Gewalt in allen Nuancen und Lebenslügen, Kommunikationslosigkeit und psychischer Verwahrlosung durchzieht ein Unterstrom tiefschwarzer Komik. Das auf den ersten Blick Unspektakuläre des Romans ist reine Tarnung. Das Buch ist mehr als spektakulär: ein Schwergewicht.