Thomas Kaufmann: Luthers Juden
Verlag Philipp Reclam 2014
203 Seiten, 22,95 Euro
Luthers Hass auf Juden
Vom Teufel besessen, der Lüge verfallen, geldgierige Wucherer: So beschrieb der Reformator Martin Luther die Juden. Der Kirchengeschichtler Thomas Kaufmann hat Luthers antisemitische Tiraden nun in einem Buch analysiert.
Winter 1546. In der Nähe seiner Heimatstadt Eisleben erleidet Martin Luther einen Herzinfarkt. An dessen Folgen stirbt der Reformator drei Wochen später im Alter von 63 Jahren. Zuvor schreibt er einen Brief an seine Ehefrau Katharina von Bora. Darin deutet er die Symptome, in denen heutige Mediziner einen Herzinfarkt erkennen, als Tat der Juden aus einem Dorf bei Eisleben. Der Infarkt hatte sich offenbar ereignet, als Luther durch das Dorf reiste. Schon seit Jahrzehnten hatte er gefürchtet, von Juden ermordet zu werden. Mit dieser Episode von Luthers Lebensende lässt der evangelische Theologe Thomas Kaufmann sein Buch beginnen: "Luthers Juden".
Luthers Juden ist ein aus mannigfachen Quellen gespeistes – ich würde sagen – Phantasma.
Denn persönliche Kontakte zu jüdischen Menschen hatte Luther offenbar kaum. Kaufmann konnte nur Belege für eine einzige Begegnung mit zwei oder drei jüdischen Gelehrten finden. Diese muss den Reformator allerdings nachhaltig verstört haben. Denn einer der Gelehrten soll über Christus gesagt haben:
Was schon wieder mit diesem Tolar, mit diesem Verbrecher? Eine abfällige Bezeichnung zu Christus, und das hat Luther religiös zutiefst verstört, und diese Geschichte hat er fünf, sechs, sieben Mal in verschiedenen Zusammenhängen während der nächsten zwei Jahrzehnte seines Lebens erzählt und aus dieser Begegnung begründend abgeleitet, dass die Juden von tiefer Feindschaft gegen Christus erfüllt sind, gegen Christus beten et cetera und die Christen zu schädigen versuchen.
Luther hatte sich nicht immer so negativ über Juden geäußert. In der 1523 erschienen Schrift "Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei" setzt er sich für die Duldung der Juden ein und zeigt sich ausgesprochen tolerant – im Vergleich zu vielen seiner Zeitgenossen. Juden sollen sogar Berufe ihrer Wahl ergreifen können. Luther will damit Bekehrungen zum Christentum erreichen. Allerdings, so schränkt Kaufmann ein:
Luther war in keiner Phase seines Lebens ein Judenfreund. Was sich geändert hat, sind die strategischen Hinsichten, die strategischen Perspektiven im Umgang mit den Juden. Er ist nicht vom Philosemiten zum Antisemiten geworden. Das wäre eine Verzeichnung.
Die von Luther erhofften Massenbekehrungen der Juden bleiben jedoch aus, seine Äußerungen werden radikaler. Sie gipfeln 1543 in der Schrift "Von den Juden und ihren Lügen". Luther nennt Juden verstockt, vom Teufel besessen, der Lüge verfallen, geldgierige Wucherer. Laut Kaufmann speist sich Luthers Judenbild aus antijüdischen christlichen Traditionen, die bereits im Neuen Testament zu finden sind – aber nicht nur. Luther unterstellt Juden auch "verdorbenes Blut" - Kaufmann nennt das eine Frühform des Antisemitismus:
Die Vorstellung, dass Juden ein eigener Menschentypus sind, dem nicht zu trauen ist, der verschlagen ist, der alles darauf anlegt, Christen zu übervorteilen oder noch Schlimmeres. Das sind Vorstellungen, die auch bei Luther immer wieder anzutreffen sind und die ich nicht ohne weiteres auf eine biblische Grundlage zurückführen kann.
Hätte Luther den Holocaust befürwortet?
Hier sollte man die Zeitumstände beachten. Europa an der Wende zur Neuzeit: Synagogen zu zerstören, Juden zu vertreiben oder zu töten ist traurige Tagesordnung. Aber der Reformator geht noch einen Schritt weiter. Der alte Luther fordert, Juden ihre religiösen Schriften und ihre Häuser wegzunehmen und sie wie Vieh in Ställen unterzubringen, wenn sie nicht freiwillig das Land verlassen. Der Besuch jüdischer Gottesdienste soll unter Todesstrafe gestellt werden. In "Von den Juden und ihren Lügen" schreibt Luther:
Dass man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und das, was nicht verbrennen will, mit Erden überhäufe und beschütte, dass kein Mensch ein Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. Und solches soll man tun unserm Herrn und der Christenheit zu Ehren, damit Gott sehe, dass wir Christen seien.
Was ich ansonsten nicht gefunden hab, ist Luthers wahnwitzige Vorstellung, Synagogen zu verbrennen. Was unter den sozusagen feuertechnischen Bedingungen des 16. Jahrhunderts ein nicht durchführbarer Vorschlag ist. Man hätte damit das Verbrennen mindestens der halben Stadt billigend in Kauf genommen.
Erst die moderne Löschtechnik macht es möglich, schreibt Kaufmann, dass die Nationalsozialisten am 9. November 1938 systematisch jüdische Gotteshäuser aus den deutschen Städten brennen können – übrigens in der Nacht zu Luthers Geburtstag. Die NS-Massenmörder berufen sich dabei auch auf den Reformator. In der Nazi-Zeit konkurrieren verschiedene Lutherdeutungen miteinander. Und damit wird auch Kirchenpolitik betrieben. Gegner der NS-Politik, wie Dietrich Bonhoeffer, zitieren den frühen Luther, um Juden zu verteidigen. Die evangelische Kirche hingegen versucht, mit dem Judenfeind Luther ihre Position im NS-Staat zu sichern, so Kaufmann. Hinzu kommen Nationalsozialisten, die Luther gegen die Kirche instrumentalisieren:
Die dezidiert antichristliche oder antikirchliche Rezeption rassistischer Autoren zielt darauf ab, der Kirche vorzuwerfen, diesen Luther habt ihr uns vorenthalten, diesen Luther habt ihr unterdrückt. Also mit Hilfe von Luthers Judenschriften eine polemische Spitze gegen das kirchliche Christentum und seine, wie es immer heißt, jüdische Sklavenmoral und so weiter.
Kaufmann betont aber, dass Luther den systematischen Mord an Juden, wie im Nationalsozialismus vollzogen, explizit ausgeschlossen hatte.
Die Vertreibung von Juden, die er, das muss man immer im Hinterkopf haben, ja für die bessere Lösung hält als die Drangsale, denen er die Juden ansonsten, wenn sie bleiben, aussetzen will, die Vertreibung war im gesamteuropäischen Horizont eine geradezu selbstverständliche Maßnahme. In England, in Spanien, in Frankreich, in der Schweiz oder der Eidgenossenschaft, gab es keine Juden mehr.
Kritische Distanz zu Luther
Nach der Shoah haben die Kirchen in Deutschland den Antijudaismus aus ihren Lehren verbannt. Juden gelten nicht länger als von Gott verstoßen, sondern als Volk Gottes. Damit stellt sich die evangelische Kirche gegen Luthers theologische Überzeugungen. Dennoch scheint der Luther-Kult ungebrochen. Die Kampagne zum Reformationsjubiläum heißt "Luther 2017". Kaufmann kritisiert diese Fixierung auf den Reformator:
Was im Zusammenhang des Reformationsjubiläums auffällt, ist eine gewisse Tendenz zur Monumentalisierung: Luther als eine Figur, die immer das richtige Wort sagte. Der unerschütterliche Lehrer evangelischer Wahrheit. Wer sich mit Luther identifizieren zu können meint, darf sich auch nicht wundern, dass er mit Äußerungen Luthers, die eben möglicherweise nicht sympathisch sind, behaftet wird.
Kaufmann plädiert stattdessen dafür, Luther in seiner Zeit zu verstehen und kritische Distanz zu ihm zu wahren, ohne dabei seine theologischen und sprachlichen Verdienste zu vernachlässigen. Die Protestanten sollten auch die Schattenseiten des Reformators nicht aus den Augen verlieren. Kaufmanns Buch "Luthers Juden" kann ein Wegweiser dafür sein, wie Martin Luther angemessen gedacht werden kann.
Ich kann in Luther kein Vorbild sehen. Luther ist ein Anreger, Luther ist ein theologischer Lehrer, Luther kann ein Gesprächspartner werden. Ein Vorbild in dem Sinne, dass er Orientierung vermitteln würde, kann ich in ihm nicht sehen. Und diese sozusagen zur Pathosformel erstarrte Bezugnahme auf "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" im Sinne eines sozusagen unerschütterlichen, geradezu heldenhaften Durchhaltens halte ich für kein Leitbild, das ich als in unserer Zeit sachgerecht akzeptieren kann.