Robert Gernhardt: "Der kleine Gernhardt"
Fischer 2017
182 Seiten, 18,90 Euro
Die Schätze des Ideensammlers
In der "Der kleine Gernhardt" hat Robert Gernhardt alles, was ihm über den Weg lief, festgehalten. Ob in Gedichten, Wortspielen oder Prosaminiaturen – Gernhardt verschränkt in typischer Manier Profanes und Politisches, Persönliches und den großen Weltenlauf.
Diesem "Zauberband zwischen Biografie und Werk" kann sich keiner entziehen. Frisch und frech wirken seine legendären "Brunnentexte", als hätte sie Robert Gernhardt gerade erst aufgeschrieben. Alles, was ihm über den Weg lief, hat der Dichter hierin festgehalten: bis zu seinem Tod im Sommer 2006 waren das 675 Schulhefte; gefüllt mit Gedichten, Wortspielen und Dialogen – eine Fülle dichterischer und zeichnerischer Einfälle mit labyrinthischem Ausmaß.
Andrea Stoll hat sich nun auf einen Tauchgang in die Archive begeben und aus den Schätzen des Alles-Notierers und Ideensammlers ein autobiografisches wie gesellschaftsphilosophisches Kompendium erstellt - nach Stichworten geordnet. "Der kleine Gernhardt" ist eine Art Spurenerkundung seines Kosmos, von A wie Apokalypse bis Z wie Zahnarzt.
Es sind poetische Lebensspuren, in denen wir dem Dichter so nah wie selten kommen, "literarische Fahndungslisten" nennt es die Herausgeberin Andrea Stoll. Unter den Stichworten "Herkommen", "Herkunft" und "Flucht" erzählt der 1937 im estnischen Reval, heute Tallin, geborene Dichter von Umsiedelung und Flucht, vom Zusammenbruch aller Regeln. Die Flucht prägte sein Leben, auch wie er als Siebenjähriger seine Mutter beobachtet, die sich einen Revolver in den Rockbund schiebt.
Berliner Künstlerleben in einer 220 Quadratmeter WG
Aber Gernhardt wäre nicht Gernhardt, wenn er nicht auch die ernsten Themen mit großem, ja größtmöglichem Humor anginge, wenn er den Tiefgang seines autobiografischen Kompendiums nicht auch mit seinem hintersinnig heiteren Nachdenken über "Brudersein und Bruderbleiben" ergänzen und dem Wort "Establishment" als das Lebensstichwort eines 68igers nachsinnen würde. Den viel zitierten Adorno-Satz: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen!", der seine ganze Generation prägt und nichts anderes sagt, als sich nicht im Bestehenden einzurichten, hat Gernhardt auf seine Weise gelebt und neu interpretiert: ein Berliner Künstlerleben in einer 220 Quadratmeter WG, mit Stuck und Flügeltüren, aber mit Möbeltrödel und Apfelsinenkistenregal.
Ob in Gedichten, Wortspielen oder Prosaminiaturen – immer wieder verschränkt Gernhardt in typischer Manier Profanes und Politisches, Persönliches und den großen Weltenlauf. Oft sind es die kleinen Augenblicke, die Gernhardt für eine Geschichte reichen. Mal geht es um den Arbeitsalltag des künstlerischen Tausendsassas, der zielstrebig als "Bildhauer" an seinem Grüngürteltier formt, mal geht es um das "Dichten" und die reine Dicht-Dauer, die bei ihm "drei Stunden beträgt (mit Pausen)".Ein anderes Mal sinniert er genüsslich über einen neuen Parteinamen, "Das Kleine Übel" (DKÜ) so wäre für ihn ein flächendeckender Erfolg möglich.
Der scharfsinnige Beobachter Gernhardt, der in den 60er-Jahren die "Neue Frankfurter Schule" mitbegründet, mag vielen vertraut sein, aber sein Blick, diesen einen Schritt zur Seite gehen, um aus der Distanz klarer zu sehen, den erleben wir hier auf überraschende Weise neu. Es ist dieser Blick, der auch den Ton seiner Texte ausmacht, den typischen Gernhardt-Ton, der zwischen ausgeprägter Selbstironie, feinsinnigem Humor und Melancholie wechselt. In dieser Tonlage findet der Dichter auch einen starken wie skurrilen Ausdruck für seine Texte selbst, sie seien "fossile Brennstoffe seiner Biografie, die im Gegensatz zu den realexistierenden mehrfach verheizt werden können." Wie recht er hat: sie wärmen noch immer.